Mittwoch, 28. Dezember 2022

Mao Zedong und die Polygamie


Irgendetwas an den Brüdern Mao war dem Familienleben nicht zuträglich. Weder Mao noch seine Brüder können kaum als vorbildliche Ehemänner oder Väter gelten, auch wenn sie nicht die einzigen waren, die sich ausgesprochen herzlos verhielten.

Die Polygamie war in China weit verbreitet, und selbst die vermeintlich glühendsten Verfechter der Frauenemanzipation unter den männlichen Mitgliedern der Kommunistischen Partei sahen in den Frauen eher Sexualobjekte als Genossinnen. 

„Und wer dachte schon an die Kinder? Unter den Ärmsten und den ländlichen Lumpenproletariern, deren Interessen die Kommunistische Partei vertrat, galten Kinder und vor allem Töchter oft als Last. Anders als bei den armen Bauern war die Gefühllosigkeit der kommunistischen Führer gegenüber ihren Sprösslingen allerdings nicht ausschließlich eine Frage der Ökonomie. Sie hatten einfach keine Zeit für Kinder. Sie mussten sich auf ihre `Hauptaufgabe´ konzentrieren – die Revolution, den Bürgerkrieg, die Befreiung der unterdrückten Massen. Angesichts ihres großen Projekts waren die Tränen der Kinder und selbst die ihrer eigenen nicht weiter bedeutsam.“

Mao Zedong (1893 - 1976)

Die von Alexander Pantsov und Steven I. Levine in ihrer großen Mao-Biographie erzählte Episode aus dem Leben von Mao Zedong eignet sich hervorragend, das rücksichts- und verantwortungslose Verhalten der chinesischen Parteiführer und marxistisch-leninistischen Theoretiker gegenüber ihren Familien zu veranschau-lichen.

Im Herbst 1927 flüchtete sich Mao nach einem verunglückten Aufstand in der Provinz Hunan in die Bergregion von Jinggang (wörtlich: „Brunnen und Bergrücken“). Die dortige Macht lag in den Händen zwei Bandenchefs namens Yuan Wencai und Wang Zuo. Sechshundert mit alten Pistolen, Gewehren und Schwertern bewaffnete Halsabschneider beherrschten etwa 150 000 Menschen. Sie verlangten Tribut von der örtlichen Bevölkerung und bestraften grausam alle, die Widerstand leisteten. Sie enthaupteten Widerspenstige und stellten deren Köpfe auf Pfählen zur Schau.

Um zu überleben, musste Mao erst einmal freundschaftliche Beziehungen zu den Banditen aufnehmen, die das Gebiet ausplünderten. Das gelang ihm, und er wurde, wie er selbst es ausdrückte, „König der Berge“.

Mao und He Zizhen

Yuan wiederum war gerissen genug und überlegte, wie er Mao an sich binden könnte. Er stellte ihm He Zizhen, die attraktive Tochter eines alten Freundes, vor und empfahl sie ihm als zuverlässige Dolmetscherin für den lokalen Dialekt. Das Mädchen war gerade achtzehn Jahre alt. „Sie war mit sechzehn Jahren in die Kommunistische Partei eingetreten, sie war belesen und politisch gebildet, aber vor allem attraktiv, tatkräftig, lebhaft und anmutig. Sie hatte ein süßes ovales Gesicht, große strahlende Augen und eine wunderschöne Haut. Nicht ohne Grund hatte ihr Kindheitsname Guiyuan gelautet (`Runder Mond im Goldregengarten´).“

Sie machte einen positiven Eindruck auf Mao, den sie wiederum auch mochte, obwohl er sechzehn Jahre älter war als sie. Sie wusste, dass er verheiratet war und drei Söhne hatte; er hatte es ihr selbst erzählt. Aber nichts vermochte sie abzuhalten und Mao wusste, wie man den Frauen gefällt … 

„Zu dieser Zeit war er besonders unwiderstehlich – sehr schlank, mit langem Haar, einer hohen Stirn und traurigen dunklen Augen. Zizhen war hingerissen von ihm. Er strahlte gleichermaßen physische wie intellektuelle Kraft aus, war einfühlsam, schrieb Gedichte und kannte sich gut in der Literatur und im Volkstum aus. Die junge He Zizhen war noch nie jemandem wie ihm begegnet. War es gegenseitige Liebe? Oder nur sexuelle Anziehung? Menschen, die beide kannten, sind unterschiedlicher Ansicht.“

Im Frühjahr 1928 bat Mao Zizhen, ihm bei der Arbeit an einem Manuskript zu helfen. Von da an lebten sie zusammen. „Ende Mai fand in Anwesenheit des Heiratsvermittlers Yuan Wencai und seiner Kumpane eine Art `Hochzeit´ statt. Sie aßen Süßigkeiten und Nüsse. Sie tranken Tee. Sie lachten, scherzten und waren vergnügt.“ 

Natürlich dachte niemand an Maos eigentliche Ehefrau, Kaihui, die damals noch lebte. Durch Zufall erfuhr Kaihui vom Betrug ihres Mannes. Lange Monate hatte sie nichts von ihm gehört, und nun das! Der Schlag war so heftig, dass Kaihui beschloss, sich umzubringen, und wahrscheinlich hätte sie es getan, wären da nicht die Kinder gewesen. Sie ertrug diese Schmach zwei Jahre lang, bis ans Ende ihres Lebens.

Kaihui und zwei ihrer Kinder

Im Oktober 1930 wurde Kaihui verhaftet. Ihr ältester Sohn, Anying, der gerade erst acht geworden war, wurde ebenfalls inhaftiert. Weil sie sich nicht von Mao lossagen wollte – sie hätte es als Verrat empfunden ! –, wurde sie vor ein Militärgericht gestellt. Die Verhandlung dauerte nicht einmal zehn Minuten. Der Richter stellte ein paar Fragen, dann tauchte er seinen Schreibpinsel in rote Tinte, machte ein Zeichen auf das Verhörprotokoll und warf es auf den Boden. Das war bei chinesischen Gerichten das Verfahren, das die Todesstrafe verkündete. 

Am Morgen des 14. November 1930 holte man Kaihui aus der Zelle, um sie zur Hinrichtung zu führen. Sie wurde von einem Erschießungskommando auf einem Friedhof in Shiziling hingerichtet. Als sie, von zahlreichen Kugeln getroffen, zu Boden fiel, streifte einer aus dem Erschießungskommando ihr rasch die Schuhe ab und warf sie weg. Das tat man immer in China, damit die Verstorbenen nicht zurückkehrten und denen, die sie getötet hatten, nachgingen. Am Abend übergab man die Leiche ihren Verwandten, die sie nicht weit vom Haus ihrer Eltern begruben.

Als Mao einen Monat später aus der Zeitung vom Tod seiner Frau erfuhr, schickte er seiner Schwiegermutter dreißig Silberyuan für einen Grabstein. Inzwischen lebte Mao jedoch schon seit 2 Jahren mit He Zizhen zusammen, nicht zuletzt, weil, wie er selbst sagte, „die Macht des menschlichen Bedürfnisses nach Liebe“ für ihn „größer als jedes andere Bedürfnis“. So waren denn die dreißig Silberstücke, die er für den Grabstein nach Bancang schickte, nur noch ein schaler und verlogener Akt seiner moralischen Schäbigkeit!

Zitale aus: Alexander V. Pantsov und Steven I. Levine: Mao. Die Biographie, Frankfurt a.M. 2014 (Fischer)

Donnerstag, 11. August 2022

Hannah Arendt und die Freundschaft

Neben vielen Ehrungen und Preisen wurde Hannah Arendt im Jahre 1959 mit dem Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg ausgezeichnet. In ihrer Rede mit dem Titel „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“, die sie am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Preises hielt, vertrat Arendt die Ansicht, Kritik sei stets das Begreifen und Beurteilen im Interesse der Welt, woraus gleichwohl niemals eine Weltanschauung werden könne, „die sich auf eine mögliche Perspektive festgelegt hat“. 

Hannah Arendt

Statt „Geschichtsbesessenheit“ und „Ideologieverschworenheit“ sieht Arendt das Ziel und die Aufgabe der Menschen darin, das freie Denken, mit Intelligenz, Tiefsinn und Mut, „ohne das Gebäude der Tradition“, zu wagen. Eine absolute Wahrheit existiere nicht, da sie sich im Austausch mit anderen sofort in eine „Meinung unter Meinungen“ verwandle und Teil des unendlichen Gesprächs der Menschen sei, in einem Raum, wo es viele Stimmen gibt. Jede einseitige Wahrheit, die auf nur einer Meinung beruht, sei „unmenschlich“.

Im letzten Teil ihrer Rede konkretisiert Arendt ihre Vorstellung von Menschlichkeit am Beispiel der Freundschaft. Schon in der Antike galt die Auffassung, „dass ein menschliches Leben nichts weniger entbehren könne als Freunde, ha dass ein Leben ohne Freunde nicht eigentlich lebenswert sei.“ Man dürfe allerdings nicht den Fehler machen, „in der Freundschaft ausschließlich ein Phänomen der Intimität zu sehen, in der die Freund unbehelligt von der Welt und ihren Ansprüchen einander die Seelen öffnen.“

Hannah Arendt erinnert daher im Rückgriff auf Aristoteles an die politische Relevanz der Freundschaft, demzufolge „die philia, die Freundschaft zwischen den Bürgern, eines der Grunderfordernisse des gesunden Gemeinwesens sei.“

So mag es auch nicht verwundern, dass für die Griechen, „das eigentliche Wesen der Freundschaft im Gespräch“ lag, und „das dauernde Miteinander-Sprechen“ erst die Bürger zu einer Polis vereinige.“

„Im Gespräch manifestiert sich die politische Bedeutung der Freundschaft und der ihr eigentümlichen Menschlichkeit, weil dies Gespräch (im Unterschied zu den Gesprächen der Intimität, in welchen individuelle Seelen über sich selbst sprechen), so sehr es von der Freude an der Anwesenheit des Freundes durchdrungen sein mag, der gemeinsamen Welt gilt, die in einem ganz präzisen Sinne unmenschlich bleibt, wenn sie nicht dauernd von Menschen besprochen wird. 

Denn menschlich ist die Welt nicht schon darum, weil sie von Menschen hergestellt ist, und sie wird auch nicht schon dadurch menschlich, dass in ihr die menschliche Stimme ertönt, sondern erst, wenn sie Gegenstand des Gespräches geworden ist.“

Die Welt wird nur menschlich, wenn sie Gegenstand des Gespräches geworden ist.

Darin liegt Arendt zufolge die Macht des Gespräches: „Was nicht Gegenstand des Gespräches werden kann, mag erhaben oder furchtbar oder unheimlich sein, es mag auch eine Menschenstimme finden, durch die es in die Welt hineintönt; menschlich gerade ist es nicht. Erst indem wir darüber sprechen, vermenschlichen wir, was in der Welt ist, wie das, was in unserem eigenen Inneren vorgeht, und in diesem Sprechen lernen wir, menschlich zu sein.“

Diese Form der Menschlichkeit bezeichneten die Griechen mit dem Begriff philanthropia, „eine `Liebe zu den Menschen´, die sich darin erweist, dass man bereit ist, die Welt mit ihnen zu teilen. In der römischen humanitas habe die griechische Philanthropie zwar manche Änderung erfahren – u.a., dass Menschen verschiedener Herkunft und Abstammung das römische Bürgerrecht erhalten und so in das Gespräch zwischen Römern über die Welt und das Leben aufgenommen wurden -, aber der politische Hintergrund der griechischen Philanthropie blieb auch der römischen humanitas erhalten.

Zitate aus: Hannah Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg 1999 (EVA)

Donnerstag, 4. August 2022

Irene Vallejo und die Forderung nach politisch korrekt erzählten Gute-Nacht-Geschichten


In ihrem Buch „Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern“ nimmt Irene Vallejo ihre Leser mit auf eine abenteuerliche Reise durch die faszinierende Geschichte des Buches von den Anfängen der Bibliothek von Alexandria bis zum Untergang des Römischen Reiches. Dabei verknüpft sie die klassischen Werke mit der Gegenwart, unter anderem  Platon mit der heute – vor allem in Kreisen der identitären Bewegungen – stärker werdenden autoritären Tendenz der politischen Korrektheit.


Vallejos Erzählung beginnt mit der Neuausgabe der Romane „Tom Sawyers Abenteuer“ und „Huckleberry Finns Abenteuer“, bei der das Wort „nigger“ durch das Wort „Sklave“ ersetzt wurde. „Der Verantwortliche für diese literarische Vorbeugemaßnahme … erklärte, die schwierige Entscheidung gehe auf die Bitten zahlreicher High-School-Lehrer zurück: Deren Meinung nach sei Huck Finn in seiner ursprünglichen Form nicht mehr für die Schullektüre geeignet, da die `in anstößiger Weise rassistische Sprache´ vielen Schülern Unbehagen bereite. Aus dieser Sicht ist ein oberflächlicher Eingriff die beste Möglichkeit zu verhindern, dass die Klassiker der nordamerikanischen Literatur endgültig aus den Schulen verbannt werden.“

Ähnliches geschieht Vallejo zufolge auch in Europa: „Eine Legion von Eltern sorgt sich um die unheilbaren Traumata die Hans Christian Andersen oder die Brüder Grimm bei ihren fragilen Sprösslingen hinterlassen könnten (…) Viele von ihnen sähen die herkömmliche Literatur aus unserer unvollkommenen Vergangenheit gerne wenn nicht eliminiert, so doch zumindest an das gute postmoderne Gewissen angepasst.“ 

So verwundert es nicht, dass Mitte der 1990er Jahre der Humorist James Finn Garner seinen komödiantischen Beitrag zum Thema unter dem Titel „Und wenn sie nicht gestorben sind. Gute-Nacht-Geschichten politisch korrekt erzählt“ veröffent-lichte.

Die Forderung kompromissloser Zensoren und sonstiger Anstandsprediger, die Erziehung der Jugend nicht dem Zufall oder gar dem eigenen Denken der jungen Menschen selbst zu überlassen, ist nicht neu. Ihr renommiertester Vertreter in der Antike war Platon, der als Leiter der von ihm gegründeten Akademie die zukünftige Machtelite der griechischen Poleis heranziehen wollte – nachdem sein Versuch, selbst politisch Karriere so kläglich gescheitert war. 

Platon und die Akademie von Athen (Mosaik aus Pompeji, um 50 v. Chr.) 

Vallejo gibt zu, dass Platons Lehren „in ihrer explosiven Mischung aus freiem Denken und autoritären Impulsen schon immer verblüffend schizophren“ auf sie gewirkt haben. Besonders deutlich würde dies in Platons Hauptwerk „Der Staat“ deutlich.

So sei das in der Mitte des Werkes stehende Höhlengleichnis eine „wundervolle Einladung zum Zweifel, sich nicht mit den Erscheinungen zufriedenzugeben, sich von seinen Fesseln zu befreien und gegen alle Vorurteile der Wirklichkeit ins Gesicht zu blicken. 

Das dritte Buch des Werkes dagegen aber enthalte nicht nur „eine düstere Anti-these zu seiner aufgeklärten Botschaft“, sondern „könnte glatt als Praxishandbuch für den angehenden Diktator durchgehen.“ In diesem Teil seines Werkes spricht Platon über die Erziehung, die vor allen Dingen Ernst, Anstand und Tapferkeit zu vermitteln habe. So spricht sich Platon konsequent „für eine strenge Zensur der Bücher und der Musik aus, die man den jungen Leuten zu lesen und zu hören gibt“. 

So seien beispielsweise Homer und Hesiod ungeeignet, „weil sie die Götter als frivol, hedonistisch und mit Fehlern behaftet zeigen, was der Erziehung nicht dienlich ist …, weil einige Verse der Dichter die Angst vor dem Tod ansprechen, und das geht Platon gegen den Strich.“

Auch das Theater steht bei Platon auf der Abschussliste, denn dort würden - in den tragischen und komischen Werken gleichermaßen - mehrheitlich schlechte Men-schen auftreten. „Die Identifikation mit deren Emotionen kann für die Erziehung der Kinder und Jugendlichen nicht förderlich sein. Um geduldet zu werden, sollten Theaterwerke `tapfere, besonnene, frommer und freie Männer´ aufbieten.

Auch in seinem Spätwerk „Die Gesetze“ hält die Zensurlust Platons an. Dort heißt es: „Der Dichter soll nur das, was der Staat als gesetzlich, gerecht, schön und gut anerkennt, in seine Dichtungen aufnehmen, und ihm soll nicht gestattet werden, seine Werke vorzutragen, ehe sie den dazu eingesetzten Richtern und Gesetzesverwesern mitgeteilt sind und deren Billigung erhalten haben.“

Dichterische texte gehören Platon zufolge also einer strengen Zensur unterworfen, „manchmal müssen sie unterdrückt, manchmal gereinigt, berichtigt und, sooft es sich als nötig erweist – also sehr oft – auch neu geschrieben werden.“

Hier springt die geistige Verwandtschaft zwischen Platons Staat und Orwells Großem Bruder in seinem Roman 1984 geradezu ins Auge. Im Wahrheits-ministerium wird die gesamte Literatur der Vergangenheit, auch und vor allem die Klassiker, umgeschrieben. Ein Mitarbeiter des Ministeriums erklärt unumwunden – und ganz im Stile der Parole „Nicht-Wissen ist Stärke!“: „Chaucer, Shakespeare, Milton, Byron werden nur noch in Neu-Sprech-Ausgaben vorliegen. Sie werden etwas anderes geworden sein, das ihrer ursprünglichen Aussage jeglichen Boden entzieht (…) Das ganze Klima des Denkens wird anders sein. Genauer gesagt, ein Denken, wie wir es heute verstehen, wird es gar nicht mehr geben. Das richtige Bewusstsein heißt Nichtdenken – gar nicht mehr denken müssen. Das richtige Bewusstsein ist die Bewusstlosigkeit.“

Das richtige Bewusstsein ist die Bewusstlosigkeit.“

Platon - und mit ihm alle seine geistigen Nachfolger – wusste sehr gut, was er sagte. Es war keine „Überspitzung“, die Platon formulierte, weil er beim Formulieren ein wenig in Wallung geraten sei. Platon war kein Freund der athenischen Demokratie, die er für den Tod von Sokrates verantwortlich machte. Daher wollte Platon „eine unabänderliche Staatsform erschaffen, in der nie wieder ein Bedarf an gesellschaftlichem Wandel oder schamlosen Erzählungen die moralischen Grundfesten erschüttern könnte (…) Nun wünschte er sich Stabilität, eine Regierung der Weisen und nicht der tumben Mehrheit.“

So wie die damalige Staatsform, so missfiel Platon auch das „Schulsystem“ seiner Zeit. Die Lehrer sollten Philosophen sein, nicht die Dichter mit ihren wenig erbaulichen Gedanken und Ideen, denn „die allzu große Belesenheit in der Dichtung ist gefährlich für die Jugend.“ Philosophen wie er selbst, die von sich behaupten konnten – wie Platon es in „Die Gesetze“ selbst schreibt: „Und vielleicht ist es gar kein Wunder, dass mir meine eigenen Reden, wenn ich sie mit im Ganzen ansehe, so ausgezeichnet gefallen. Denn unter allem, was ich in ähnlicher Weise in Versen oder in Prosa ausgedrückt gelesen oder gehört habe, ist mir nichts begegnet, was mir so passend und für junge Leute geeignet erschienen wäre.“

Für Vallejo liegt genau hier der eigentliche Skandal: „Wie kann es sein, dass ein Philosoph von so unangepasster Intelligenz für ein Bildungssystem eintritt, das die Schüler dazu verdammt, sich auf sterilisierte Texte und Tugendfabeln zu beschränken? Sein Programm will der Literatur alle Nuancen nehmen, die Blicke in den Abgrund, den Zweifel, das Schmerzliche, das Paradoxe, die verstörenden Ahnungen. Dieses Zurechtstutzen hat etwas Schauriges.“

Nur: An der Kontroverse hat sich auch heute nicht grundsätzlich etwas geändert: „Sind Kinder- und Jugendbücher komplexe literarische Werke, oder sind die Verhaltenshandbücher? Ein bereinigter Huck Finn mag den jungen Lesenden vielen beibringen, er beraubt sie jedoch einer essentiellen Lektion: dass es einmal Zeit gab, in der fast alle ihre Sklaven `Nigger´ nannten dass das Wort aufgrund dieser Geschichte der Unterdrückung zum Tabu geworden ist.“

Vallejo ist sich sicher, dass die jungen Menschen nicht vor schlechten Ideen bewahrt werden, wenn man alles „Ungeeignete“ als den Büchern tilgt. Die Kinder müssen lernen - und lesen -, dass das Böse existiert, dass „Bösewichter ein entscheidender Bestandteil traditioneller Geschichten“ sind.

„Literatur, die beunruhigt, das wesentlich mehr Bildungspotenzial 
als eine, die ihre Leser entlastet."

Natürlich könne man nun – wie bei Orwell – die gesamte Literatur in den OP-Saal schieben und schönheitschirurgischen Maßnahmen unterziehen, „nur wird sie uns dann nicht mehr die Welt erklären. Wenn wir diesen Weg einschlagen, dürfen wir uns kaum darüber wundern, dass die jungen Leute nicht mehr lesen und sich stattdessen einer PlayStation zuwenden, auf der sie … einen Haufen Leute umlegen können, ohne dafür Ärger zu kriegen.“

Ironie der Geschichte: Das Kapitel aus dem Buch von Vallejo über Platon schließt mit dem folgenden Hinweis: „Vor mir liegt hier noch ein Zeitungsartikel. An der University of London fordern die Studentenvertretung der School of Oriental & African Studies, Philosophen wir Platon, Descartes oder Kant vom Lehrplan zu nehmen – als Rassisten oder Kolonialisten … Platon, der Jäger, ist nun der Gejagte.“

Zitate aus: Irene Vallejo: Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern, Zürich 2022 (Diogenes)


Donnerstag, 5. Mai 2022

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und der "Schlussstrich" - Teil 2


Im März 1949 hatte der US-Oberkommandierende General Clay alle Todesurteile gegen die Angeklagten des sog. Einsatzgruppenprozesses bestätigt, auch das gegen Ohlendorf. „Doch die Vollstreckung am Landsberger Galgen wurde aufgeschoben. Das hatte zunächst eher bürokratische Gründe: Clays Amtszeit lief ab, und sein Nachfolger John McCloy, ein Jurist, ehemals Wallstreet-Anwalt, hatte sich die Entscheidung über Revisionsanträge der Todeskandidaten in Landsberg vorbehalten (…) Clay war ein Haudrauf, ein Militär eben; McCloy war ein Strippenzieher, ein Lobbyist und Spindoktor der amerikanischen Nachkriegspolitik. Er fand, dass man die Spitzen-kräfte des untergegangenen Reiches nicht einfach aufhängen konnte. Vielleicht brauchte man sie ja noch.“ 

John McCloy (1945 auf dem Weg zur Potsdamer Konferenz)

„Im Land der Täter hatte eine bleierne Zeit begonnen. Der Blitzschlag von Nürnberg, die Verheißungen eines neuen Rechts des Friedens und der Menschlich-keit hatten ganz gegensätzliche Folgen: Die Deutschen fühlten sich in ihrer Mehrheit gekränkt und missverstanden. `Die Zeit war noch nicht reif für die Erkenntnis, dass den Deutschen durch die Nürnberger Verfahren ein großer Dienst erwiesen wurde´“. 

Stattdessen begann eine beispiellose Strategie der Verharmlosung, Leugnung und Irreführung, die am Ende selbst ruchlosesten NS-Verbrechern zur Freiheit verhalf. Natürlich waren nicht alle Deutschen alte Nazis. Aber ein gemeinschaftliches Grund-gefühl einte die Besiegten: dass die Deutschen, als Nation, nun genug gelitten hätten. Ein Schlussstrich musste her!

Im „Heidelberger Kreis“ schlossen sich die Nürnberg-Verteidiger, sowie einfluss-reiche Juristen zusammen, um sich für eine Rehabilitierung der in Nürnberg Verurteilten stark zu machen, die mittlerweile im War Criminal Prison No. 1 in Landberg am Lech auf die Vollstreckung der Urteile warteten. Offizielles Ziel des Kreises war, „`die Auswirkungen der Kriegsverbrecherprozesse sowohl auf die unmittelbar Betroffenen wie auf das deutsche Volk insgesamt zu erkennen und zu begrenzen´. Erkennen und Begrenzen: Delegierte des Kreises, unter ihnen der Dönitzverteidiger und ehemalige Kriegsrichter Otto Kranzbühler, saßen des Öfteren beim Bundeskanzler Konrad Adenauer, um zu besprechen, was das heißen konnte.“

Mitglieder des Heidelberger Juristenkreises (Quelle: Wikipedia)

Auch die Kirchen in Deutschland machten sich zu heftigen Fürsprechern der gefangenen Nazis. „Schon im September 1946 hatte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Theophil Wurm, einen Brief voll scheinheiliger Sorge an den Vorsitzenden des International Military Tribunal Lawrence geschrieben: `Es wäre etwas Furchtbares, wenn durch das Nürnberger Urteil die Meinung bestärkt würde, dass es auf Erden kein Recht mehr gibt, sondern dass das Recht nur von der Macht diktiert wird.´ (…) Fürsprache fanden die Massenmörder in der Landsberger Haft auch bei dem evangelischen Bischof Otto Dibelius, der in einem Appell an die Alliierten `Gnade für diejenigen´ forderte, `die mit dem Brandmal des Kriegsverbrechens gestempelt in Gefangenschaft gehalten werden´.“

Wie die junge deutsche Republik ihre Vergangenheit zu bewältigen suchte, lässt sich gut an den ersten Gesetzes des neu konstituierten Deutschen Bundestages ablesen, darunter das „Straffreiheitsgesetz“, „das, mit großer Mehrheit im Eilverfahren verabschiedet, eine Generalamnestie für alle kleineren Delikte versprach, für Schwarzmarktvergehen nicht anders als für die minderschweren Fälle der NS-Kriminalität. (…)

Dass man die Vergangenheit lieber ruhen lassen sollte, bekräftigte der Bundestag ebenfalls nahezu einstimmig, als es 1951 darum ging, Hunderttausende deutscher Beamter, die wegen ihrer Naziverstrickung von den Alliierten aus dem Amt entfernt worden waren, wieder in ihre Rechte einzusetzen. Das Gesetz zur `Bereinigung der Rechtsverhältnisse von Personen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienst standen´ kam einem Staatsstreich gleich: Der Beamtenapparat des Naziregimes durfte weitermachen, als wäre nichts geschehen. (…)

In die obersten deutschen Gerichte zogen wieder die Spitzenjuristen der NS-Zeit ein, in Geheimdienst, Polizei, Auswärtiges Amt. Alte Naziseilschaften gaben überall den Ton an. Hans Globke war einst im NS-Innenministerium der Mitverfasser eines Kommentars zu den Nürnberger Rassengesetzen gewesen. Schwamm drüber, nun leitete er Konrad Adenauers Kanzleramt.“

Hinzu kam die Erkenntnis, dass der gerade eben begonnene Kalte Krieg ganz schnell heiß werden könnte und man Westdeutschland dann als Partner eines Waffenganges gegen den Kommunismus an der Sollbruchstelle der neuen Blöcke unbedingt brauchen würde. So konnte Adenauer zum Kanzler der Westbindung werden, stets bemüht, den westlichen Siegern deutlich zu machen, dass alles seinen Preis hatte: „Wer die neue Bundesrepublik als militärischen Partner haben wollte, musste sie zunächst wieder in die Runde gleichberechtigter souveräner Staaten aufnehmen. Eine Wiederbewaffnung Deutschlands würde eine parlamentarische Mehrheit nur finden, so Adenauer zu McCloy, wenn zugleich das Besatzungsstatut abgelöst würde. Wenn aber die Westmächte ihre Kontrolle über die Bundesrepublik aufgaben – was sollte dann mit den Männern im War Criminal Prison No. 1 geschehen? Man konnte sie doch nicht einfach freilassen.“

Auch McCloy war von der Notwendigkeit einer Waffenbrüderschaft mit den Deutschen gegen den Kommunismus überzeugt. Nicht zuletzt hatte er alles vermieden, was die Stimmung der Deutschen gegen die US-amerikanischen Gerichtsherren von Nürnberg verschlechtern konnte. „Zunächst setzte der Hochkommissar auf Minimierung in Landsberg: Nach und nach sorgte er dafür, dass die Häftlinge mit Gefängnisstrafen lautlos entlassen wurden. Dann wandelte er einundzwanzig Todesurteile in Haftstrafen um. Sieben Männer allerdings – unter ihnen Otto Ohlendorf – mussten hängen. Mit der Vollstreckung am Galgen am 7. Juni 1951 war auch dieses Problem keines mehr, über das man weiter diskutieren konnte (…) 

Bis 1958 war der letzte in Nürnberg verurteilte Häftling wieder in Freiheit.“

Das Mahnmal an der KZ-Gedenkstätte in Dachau

Zitate aus: Thomas Darnstädt, Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945, München 2015 (piper)


Donnerstag, 28. April 2022

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und der "Schlussstrich" - Teil 1


Als am 1. Oktober 1949 der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zu Ende ging - 12 der 24 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt; sieben Angeklagte erhielten langjährige oder lebenslange Haftstrafen, drei Angeklagte wurden freigesprochen -, saßen immer noch Zigtausende Deutsche noch immer in alliierter Haft und warteten auf ihren Prozess. „Beseelt von der Idee, große Teile des Nazi-volkes zur Verantwortung zu ziehen, hatten die alliierten Besatzer in ihren Zonen große Internierungslager errichtet, wo sie jedermann einsperrten, der verdächtig war, ein größeres oder kleineres Rädchen im gewaltigen Unrechtsapparat der Hitlerdiktatur gewesen zu sein.“

Mit dem vom Alliierten Kontrollrat verabschiedeten „Gesetz Nummer zehn“ sollten nun überall in den Zonen Richter der Besatzungsmächte die Nürnberger Prinzipien in kleiner Münze unters deutsche Volk bringen. Ein neues Jahrhundertprojekt, aber praktisch unmöglich zu realisieren!

Nach der Rückkehr von Robert H. Jackson nach Washington übernahm nun Jacksons ehemaliger enger Mitarbeiter Telford Taylor die Leitung der US-Anklagebehörde (OCCWC - Office of the U.S. Chief of Counsel for War Crimes). Unterstützt wurde Taylor von Benjamin Ferencz, der 1945 mit einem Artillerie-bataillon der US-Armee nach Deutschland kam und sich freiwillig zur Beweis-sicherung für Kriegsverbrechen im besiegten Deutschland gemeldet hatte. 

Als Taylor in der Personalakte las, dass der Offizier Ferencz gelegentlich unge-horsam gewesen sei, habe Benjamin Ferencz geantwortet: „`Das ist nicht korrekt, ich bin nicht gelegentlich ungehorsam, sondern regelmäßig ungehorsam´, und zwar immer dann, wenn Befehle offensichtlich dämlich oder illegal seien.“ Ferencz wurde umgehend von Taylor engagiert!

Benjamin Ferencz beim Einsatzgruppenprozess

Zum Garanten der neuen Gerichtsbarkeit wurde der US-Oberkommandierende General Lucius D. Clay, der am 03. Oktober 1949 die Ordinance No. 7 unter-zeichnete, die Anordnung zur Bildung von US-Militärgerichten in Nürnberg. Mindestens fünf neue Gerichtssäle würde man brauchen.

Die Auswahl seiner Angeklagten habe Taylor später selbst mit einer Lotterie verglichen. Etwa 100 000 Verdächtige hatten die US-Besatzer in ihrer Gewalt, Taylor ließ sich aus den Gefangenenlagern Listen mit den Namen der Haupt-verdächtigen schicken. Das waren immer noch 2500 Personen. Höchstens zweihundert, so die Anweisung an die rund vierhundert Leute, die für Taylor im OCCWC zusammenarbeiten, durften übrig bleiben. 

„Die schließlich auf den Anklagebänken saßen, gehörten wahrscheinlich nicht alle zu den Schlimmsten, aber sie waren ein repräsentatives Panoptikum des Bösen. Die Verantwortungslosigkeit hatte ja alle Zweige der Gesellschaft vergiftet, bei den Schöngeistern ebenso wie bei den Wissenschaftlern, bei den Ökonomen wie bei den Juristen und Militärs: Überall hatten sie sich bereitwillig dem mörderischen Machtwillen Adolf Hitlers unterworfen.“ 

Nürnberger Ärzteprozess: Karl Brandt, Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Generalkommissar für Kampfstofffragen, Euthanasiebevollmächtigter und Begleitarzt Hitlers

Von besonderer Bedeutung war der sogenannte „Einsatzgruppenprozess“. Es war der erste Fall des siebenundzwanzigjährigen (!) Benjamin Ferencz. Ferencz hatte sich in Berlin durch Hunderte von Aktenordners gewühlt, bis er schließlich den unleugbaren Beweis für den Völkermord der SS an Millionen Juden im europäischen Osten fand: In einer Außenstelle des Auswärtigen Amtes nahe dem Tempelhofer Flughafen fanden die Mitarbeiter des OCCWC  „einen kompletten Satz geheimer Mord-berichte, die von der Gestapo-Zentrale an etwa hundert Topnazis weitergeschickt worden waren, alles Männer, die in Nürnberg behauptet hatten, von alledem nichts gewusst zu haben.“

Die Berichte beschrieben von Tag zu Tag die Aktivitäten der „Einsatzgruppen“: vier Einheiten, jede zwischen fünfhundert und achthundert Leute stark, die keine andere Aufgabe hatten, als gleich hinter der Front in den eroberten Ländern alle „Juden, Zigeuner und politisch verdächtige Elemente“ umzubringen. „Die Tagesberichte mit dem harmlosen Namen `Bericht über Ereignisse in der Sowjetunion´ listeten über einen Zeitraum von zwei Jahren, beginnend mit dem Einmarsch in die UdSSR am 22. Juni 1941, die Erfolge der `Säuberungen´ auf.“

Ferencz holt sich aus dem Sekretariat eine kleine Rechenmaschine und tippt die Zahlen ein, die er beim Durchblättern liest. „Als er bei der Summe von einer Million angekommen ist, macht er die Akten zu und bestellt für den nächsten Morgen einen Flug nach Nürnberg zu Taylor: `General, ich habe klare Beweise für einen Völkermord.´“

Beim „größten Mordprozess der Geschichte“ gegen die vierundzwanzig angeklagten SS-Offiziere hieß Punkt eins der Anklageschrift schlicht „Völkermord“. „`Die schwärzeste Seite im Buch der menschlichen Geschichte´, so donnerte der kleine Mann hinterm Anklagepult, hätten diese Männer geschrieben: `Der Tod war ihr Instrument, das Leben anderer ihr Spielzeug. Sollten diese Männer nicht bestraft werden können, dann hätte das Gesetz seine Bedeutung verloren.´“ 

Aber die Beweise waren so hieb und stichfest, dass Zeugen kaum gebraucht wurden. In zwei Tagen war Ferencz mit der Anklage durch. Vierzehn der Angeklagten, darunter Otto Ohlendorf, der Befehlshaber der `Einsatzgruppe D´, wurden zum Tode verurteilt. 

Benjamin Ferencz (*1920) -
Der letzte noch lebende Chefankläger
aller Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse (Stand 2022)

Im März 1949 hatte der US-Oberkommandierende General Clay alle Todesurteile bestätigt, auch das gegen Ohlendorf. „Doch die Vollstreckung am Landsberger Galgen wurde aufgeschoben. Das hatte zunächst eher bürokratische Gründe: Clays Amtszeit lief ab, und sein Nachfolger John McCloy, ein Jurist, ehemals Wallstreet-Anwalt, hatte sich die Entscheidung über Revisionsanträge der Todeskandidaten in Landsberg vorbehalten (…) Clay war ein Haudrauf, ein Militär eben; McCloy war ein Strippenzieher, ein Lobbyist und Spindoktor der amerikanischen Nachkriegspolitik. Er fand, dass man die Spitzenkräfte des untergegangenen Reiches nicht einfach aufhängen konnte. Vielleicht brauchte man sie ja noch.“ 

„Im Land der Täter hatte eine bleierne Zeit begonnen. Der Blitzschlag von Nürnberg, die Verheißungen eines neuen Rechts des Friedens und der Menschlichkeit hatten ganz gegensätzliche Folgen: Die Deutschen fühlten sich in ihrer Mehrheit gekränkt und missverstanden. `Die Zeit war noch nicht reif für die Erkenntnis, dass den Deutschen durch die Nürnberger Verfahren ein großer Dienst erwiesen wurde´“. 

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Thomas Darnstädt, Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945, München 2015 (piper)


Donnerstag, 21. April 2022

Thukydides und die menschliche Natur

Im Gegensatz zu Herodot wurde Thukydides zum Historiker der Niederlage seiner Heimatpolis Athen. In den 27 Jahren des Krieges hatte Thukydides erlebt, was Herodot über einen längeren Zeitraum beobachtete: Alles war dem Wechsel unterworfen, ständig veränderten sich Bedingungen und Voraussetzungen des Krieges. Zufälle (týche, symphóra) machten alle Vorausberechnungen zunichte, nichts war von Bestand. 

Aber Thukydides hatte seinen Lesern versprochen, sein Werk würde über den Augenblick hinaus von Nutzen sein. Um freilich von der „Erkenntnis des Vergangenen“ zu einer „Erkenntnis des Zukünftigen“ zu gelangen, bedurfte es einer Konstante im geschichtlichen Prozeß, und diese fand Thukydides in der menschlichen Natur (anthropeía phýsis, anthrópinon), die zum gemeinsamen Nenner der Analysen der Politik der Großmächte, aber auch einzelner Akteure wurde. 

Thukydides (454 - 399 v. Chr.)

„Schon in der Debatte um das Schicksal von Mytilene formuliert der Demagogos Kleon eine Ansicht, von der wir annehmen können, daß Thukydides sie teilte: Armut bringe Not und erzeuge dadurch Verwegenheit, Macht führe durch Frevelmut und Stolz zu Habgier. Wie alle anderen Lebensfälle, die den Menschen beherrschten, trieben sie in wilder Leidenschaft, gleichsam mit übermächtiger Gewalt, zum Wagnis. Zeichen großer Einfalt sei es, wenn jemand glaube, man könne dem wilden Tatendrang der menschlichen Natur Einhalt gebieten durch die Kraft der Gesetze oder sonst etwas, das Furcht errege. In der Natur, sei es von Einzelnen oder von Staaten, liege nun einmal der Hang zum Verbrechen und es gebe kein Gesetz, das sie davon abhalte.“

Auch die Gesandten Athens in Melos vertreten den gleichen Gedanken: „So haben auch wir nichts Verwunderliches getan, nichts wider die menschliche Natur, wenn wir eine uns angebotene Herrschaft annahmen und nicht aufgeben wollen, von den drei stärksten Beweggründen getrieben: Ehre, Furcht und Nutzen. Wir haben auch nicht als erste damit angefangen, es gilt vielmehr seit jeher, daß der Schwächere vom Mächtigeren niedergehalten wird …“.

Selbst der den Athenern prinzipiell feindlich gesinnte syrakusanische Staatsmann Hermokrates stimmt mit ein: „Daß die Athener ihre Macht erweitern und nur darauf sinnen, ist ihnen gar nicht zu verdenken, und ich tadle an niemandem den Willen zu herrschen, wohl aber allzu rasche Bereitschaft, sich zu ducken; denn so ist nun einmal Menschennatur: zu herrschen über alles, was nachgibt, aber sich abzusichern gegen alles, was angreift.“ 

Kern des menschlichen Denkens und Ziel menschlichen Strebens ist also das Erringen von Herrschaft gemäß der menschlichen Natur. „Nichts Größeres gibt es für den Menschen als Freiheit - d.h. Herrschaft über sich selbst -  oder Herrschaft über andere. Wer immer Schwäche zeigt, muß dem Stärkeren unterliegen, wer immer die Möglichkeit zu herrschen sieht, scheut kein Verbrechen. Es schrecken ihn weder Gebot, Gesetz noch Strafe.“

Mit eigener Stimme hat sich Thukydides dazu in einem der wichtigsten Kapitel des gesamten Werkes geäußert, in der sogenannten Pathologie. Dieses Kapitel wurde von Thukydides erst gegen Ende des Krieges geschrieben und enthält das Resümee von Erfahrungen, die der Historiker in langen Jahren des athenisch-spartanischen Kampfes machte. „Thukydides nennt in der Pathologie die Sucht, den Trieb, ja den Zwang zum Herrschen arché“ (…) und faßt sie als die Ursache von Allem.

Die arché selbst besitzt für Thukydides ihren tiefsten Grund in zwei Eigenschaften, die den Menschen unauslöschlich beherrschen, „der pleonexia, dem Mehrhabenwollen, zu der das Bemühen um den eigenen Vorteil oder Nutzen (xymphéron, ophelía) tritt, und der philotimia, der Ehr- und Ruhmsucht. Der Historiker hat diesen Zusammenhang in einem Satz von lapidarer Kürze hergestellt, der das Zentrum der Pathologie bildet. Dort drückt Thukydides ein Gefühl aus, an dem es ihm ansonsten gänzlich zu mangeln scheint: Empörung. 

Wie er in der Analyse der Pest vom moralischen Verfall im Gefolge der Seuche berichtet, so legt Thukydides in der Pathologie die Deformation der menschlichen Physis durch den Bürgerkrieg bloß:

„Der Bürgerkrieg steigerte sich ins Unmenschliche, und er schien um so grausamer, als er der erste dieser Art war. Später ergriff die Erschütterung fast die gesamte griechische Welt. An jedem Ort herrschte Zwiespalt, so daß die Führer des Volkes die Athener, die Adligen die Spartaner für ihre Sache zu gewinnen suchten. 

Solange noch Friede währte, besaßen sie keinen Vorwand und mangelte es ihnen auch an Willen, Hilfe zu holen. Sobald sie sich aber im Krieg befanden, leisteten zugleich beide Bündnisse, Athener wie Spartaner, zum Schaden des Gegners und eben dadurch zur eigenen Machtverstärkung leicht denen Unterstützung, die einen Umsturz planten. 

"Wer immer die Möglichkeit zu herrschen sieht, scheut kein Verbrechen. Es schrecken ihn weder Gebot, Gesetz noch Strafe.“

Unter solchem Aufruhr brach viel Schweres über die Städte herein, wie es geschieht und immer wieder geschehen wird, solange die Natur des Menschen gleich bleibt, einmal schlimmer, einmal gemäßigter und in sich ändernden Erscheinungsformen, je nachdem der Wechsel der Umstände es mit sich bringt. In Zeiten des Friedens und des Wohlstandes erweisen sich Städte und Menschen von besserer Gesinnung, weil sie nicht in ausweglose Zwangslagen geraten. 

Der Krieg aber, der das leichte Leben des Alltags aufhebt, ist ein gewalttätiger Lehrmeister und lenkt die Stimmungen der Menge nach dem Augenblick. Und so ergriff der Zwist zwischen den Bürgern alle Städte, und diejenigen, die sich erst später entzweiten, überboten auf die Kunde des bereits Vorgefallenen hin jene an Erfindungsreichtum, da es galt, Anschläge mit heimtückischer List zu ersinnen oder auf scheußliche Weise Rache zu üben. (…)

Ursache von allem ist die Sucht (der Zwang) zu herrschen, erwachsen aus Habgier (pleonexia) und Ehrgeiz (philotimia). Und aus diesen entstand leidenschaftliche Begierde, wenn die Menschen in Streit gerieten. 

Die führenden Männer in den Städten nämlich verkündeten auf beiden Seiten mit schön klingenden Worten, sie träten ein für die politische Gleichheit aller Bürger oder die gemäßigte Herrschaft der Besten, doch sie machten das Gemeinwesen, dem sie sich dem Wort nach verpflichteten, zum Ziel persönlicher Belange, und in dem Bemühen, mit allen Mitteln einander auszustechen, wagten sie das Äußerste, übertrumpften einander in unversöhnlicher Rache, machten vor Recht und Staatswohl nicht Halt und taten, ohne eine Grenze zu stecken, was einem jeden gerade angenehm war. 

Ob sie nun durch unredliche Abstimmung oder mit Gewalt zur Herrschaft kamen, sie waren zu allem bereit, nur um ihre Streitwut zu sättigen. Mit ehrlichem Gewissen handelte keine der beiden Parteien, wem es aber gelang, abscheuliche Taten unter dem Deckmantel schöner Phrasen zu verbergen, der stand in besserem Ruf. 

Die Parteilosen unter den Bürgern wurden von beiden Seiten umgebracht, sei es, weil sie sich niemandem anschließen wollten, sei es aus Neid, sie kämen vielleicht davon.“

Die Aussagen über die Natur des Menschen formen sich in den Reden zu einem einheitlichen Bild. „Der Mensch gleiche dem Menschen, Erziehung verstärke oder schwäche nur Anlagen. Wer schmeichle, werde verachtet, wer sich widersetze, bewundert. Mehr als Gewalttat empöre ihn erlittenes Unrecht, da ihm jenes als Zwang eines Mächtigen, dieses aber als Übergriff des Gleichgestellten erscheine. Immer wieder stifteten Hoffnung und Begierde den größten Schaden, diese führend, jene folgend. Eine (vom Zufall) angebotene Herrschaft zu ergreifen und nicht wieder loszulassen, sei menschliche Natur.“

Es sind die menschlichen Ziele und die Motive hinter dem menschlichen Handeln, die Thukydides am stärksten interessieren: „Pleonexia und philotimia treiben die Menschen zu Verbrechen aller Art. Das `Mehrhabenwollen´ beherrscht Einzelne und Staaten. Großmächte dehnen sich aus oder sie brechen zusammen. Perikles selbst darf dies bei Thukydides formulieren: `Glaubt ja nicht, der Kampf gelte nur der einen Entscheidung: Knechtschaft oder Freiheit; nein, es droht euch der Verlust des Reiches, und Gefahr bedeutet der Haß, den ihr euch durch eure Herrschaft zugezogen habt. Von ihr zurückzutreten steht euch nicht mehr frei, falls etwa jemand voll Angst über die Lage mit einem solchen Vorschlag den friedliebenden, biederen Bürger spielen will. Denn eine Art Tyrannis ist ja bereits die Herrschaft, die ihr ausübt; sie zu ergreifen mag ungerecht scheinen, sie loszulassen (ist) aber lebensgefährlich.´“

Schlachtszene im antiken Krieg

Was hier und in der Pathologie noch als persönlicher Kommentar (des Autors und seines Personals) erscheint, verdichtet sich im Melier-Dialog zum nómos, zur Gesetzmäßigkeit: 

„Götter wie Menschen, Individuen wie Staaten unterliegen dem Zwang, wo immer sich Gelegenheit dazu bietet, zu Macht und Herrschaft zu drängen. Jeder Staat strebt nach Expansion, jede Großmacht entwickelt sich zur Tyrannis, zum Gewaltstaat. Nur Ausgreifen sichert das Überleben, mit dem Ende der Expansion bricht auch die Großmacht zusammen. 

Recht gilt nur, wo sich Gleichstarke paralysieren. Es ist ein bloßes Instrument der Mächtigen, um die Schwachen schwach zu halten, eine Spielregel, die allein für Untertanen gemacht ist. Der Schwache fügt sich oder versucht, der Stärkere zu werden. Sein Mittel ist wie das des Mächtigen die Gewalt und diese hat (…) viele Namen: Tyrannis oder arché, Befreiung oder Unterwerfung, Krieg oder Terror, doch nur einen Ursprung. Das gemeinsame Movens, das kein Gut und kein Böse kennt, jegliche moralische Wertung verbietet und keine Hoffnung zuläßt, ist die anthropeía phýsis, die menschliche Natur.“

Zitate aus: Wolfgang Will: Herodot und Thukydides. Die Geburt der Geschichte, München 2015 (C.H. Beck)

Donnerstag, 14. April 2022

Robert H. Jackson und die Einleitung eines unrechtmäßigen Krieges


Der gelernte Rechtsanwalt Robert H. Jackson aus der Kleinstadt Jamestown konnte so gut reden, dass man irgendwann in New York auf den Provinzanwalt aufmerksam wurde. Seiner Nähe zur Demokratischen Partei war es wohl zu verdanken, dass er 1934 Chefjustiziar der New Yorker Finanzbehörde wurde. „Sein bestechendes Auftreten, sein Selbstbewusstsein – manche sagten: seine Eitelkeit – brachten ihm schnell die Sympathie der Politprominenz ein. Franklin D. Roosevelt und Henry Morgenthau wurden seine Förderer. 1938 war er schon Generalstaatsanwalt und 1940 Justizminister der USA, 1941 Richter am Supreme Court.“ Höher kann man als Jurist in den USA nicht kommen.

Robert H. Jackson (1892 - 1954)

Trotzdem hat Jackson die Welt verändert, denn ihm allein ist es zu verdanken, dass am 1. Oktober 1946 Hermann Göring zusammen mit achtzehn anderen führenden Mitgliedern des Hitlerregimes als Verantwortlicher eines verbrecherischen Staats- und Kriegsapparates verurteilt wurde. 

Mit diesem Prozess wurde die bisher gültige juristische Weltordnung geradezu aus den Angeln gehoben, denn das Nürnberger Urteil bedeutete beschrieb eine radikale Wende „eines jahrhundertealten unmenschlichen Völkerrechts, das den Staaten das Recht garantierte, Kriege zu führen, und das Staatsführer und Kriegsherren freistellte von jeder Verantwortung für das Unheil, das sie über die Menschen gebracht hatten.“

Das Urteil von Nürnberg erschütterte diese alte Staatenordnung, die seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 den staatlichen Souveränen des Recht gab, das eigene Volk straflos zu unterdrücken oder sogar zu vernichten – wie eine deutsche Regierung es mit den Juden tat.

„Die Erklärung der Menschenrechte, das Gewaltverbot der Vereinten Nationen, die weltweite Ächtung des Völkermordes als Verbrechen: Ohne diesen unglaublich ehrgeizigen und eloquenten Provinzanwalt aus Jamestown wäre es so weit nie gekommen.“

„Dreh- und Angelpunkt für Jacksons Neuordnung der Welt war ein Straftatbestand, den das Völkerrecht bislang nicht kannte: `Das Verbrechen, welches alle geringeren Verbrechen einschließt´, sei die `Einleitung eines unrechtmäßigen Krieges´.“ Das war die Grundidee: „`Angriffskriege sind Bürgerkriege gegen die internationale Völkergemeinschaft´, hatte er schon im März 1941 in öffentlichen Reden erklärt. Und diese Idee war geeignet, ein völlig neues Kriegsrecht zu begründen.“

In der bisherigen Rechtstradition war es immer nur um das Recht im Kriege, das `ius in bello´ gegangen – also im Wesentlichen um jene humanitären völker-rechtlichen Verträge, die zwischen zwölf Staaten zuerst 1864 in Genf `betreffend die Linderung des Loses der verwundeten Militärpersonen´ geschlossen worden waren. „Dieses Kriegsrecht, das Disziplinlosigkeiten und Übertreibungen beim Geschäft des organisierten Tötens zur Strafsache machte, sollte dafür sorgen, dass es korrekt zuging im Krieg.“

Jackson als Hauptankläger in Nürnberg

Doch nun sollte Jackson zufolge alles anders werden. Nun wurde das `ius ad bellum´ in Frage gestellt, also das Recht, Kriege überhaupt führen zu dürfen. „Die `seltene Gelegenheit´ für den Umsturz der seit Generationen geltenden völkerrechtlichen Regel, am Ende eines Krieges zwischen Siegern und Besiegten `immerwährendes Vergessen und Amnestie´ zu gewähren, war tatsächlich der Zweite Weltkrieg. 

Noch Hitler hatte am Vorabend des Überfalls auf Polen 1939 tönen können: `Bei Beginn und Führung des Krieges kommt es nicht auf das Recht an.´ Doch was dann geschah, hatte nichts mehr von den Sitten und Gebräuchen des guten alten Krieges nach westfälischem Muster übrig gelassen, die eine Unterscheidung zwischen `Kriegskunst´ und Mord erlaubt hätten. Hitlers Krieg sollte im immerwährenden Gedächtnis der Menschheit bleiben: als mörderisches Verbrechen. `Aggression´ wurde zum Codewort für Jacksons Kriegsrecht: das Verbrechen des Angriffskrieges.“

„`Die Amerikaner´, so resümierte viel später der US-Politologe Samuel Huntington, `neigen dazu, die Ideale ihrer Innenpolitik auf die Außenpolitik zu übertragen´, auf die Außenpolitik der ganzen Welt natürlich. Frieden durch Recht: So gesehen war das eine total amerikanische Idee. Die Weltpolitik sollte zur Rechtssache nach dem Selbstbild des Rechtsstaates Amerika werden, der ja auch in seinem Inneren die Definition von Gut und Böse unabhängigen Gerichten überließ.“

`Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zwischen den Nationen´, hatte Jackson gefordert, „müsse an die Stelle des alten westfälischen Gewaltprinzips der Fortsetzung der Politik mit den Mitteln des Krieges treten – und dazu gehöre auch, dass man die Verantwortlichen des besiegten Gegners vor ein faires Gericht stelle.“

Jacksons Idee bestand darin, persönliche Verantwortlichkeit für staatliches Unrecht statuieren. Das implizierte, die diese Verantwortlichkeit im Einzelfall auch beweisen zu können: `Gerichte sprechen Recht über Fälle, aber Fälle richten auch Gerichte.´ „Doch könnte ein Gericht über die Besiegten glaubwürdig und rechtsstaatlich handeln, das aus den Siegern eines Krieges besteht?"

Gerade um den Vorwurf der `Siegerjustiz´ zu vermeiden, bestand Jackson darauf, dass so ein Gerichtsverfahren keinesfalls zu einem Schauprozess verkommen dürfe: `Man soll keinen Menschen vor einer Institution, die sich Gericht nennt, unter Anklage stellen und das Ganze ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren nennen, sofern man nicht gewillt ist, ihn freizusprechen, wenn seine Schuld nicht erwiesen ist.´

Acht der 24 Hauptangeklagten in Nürnberg: Göring, Heß, von Ribbentrop, Keitel (vorne), Dönitz, Raeder, von Schirach, Sauckel (hinten)

Natürlich war sich auch Jackson bewusst, dass einer wie Göring niemals freigesprochen werden könnte. „Doch seine Reden vom Rechtsstaat zeugten von Prinzipienfestigkeit – und sie überzeugten den soeben ins Amt gekommenen Präsidenten Harry S. Truman.

Für Truman war schnell klar, dass Jackson der richtige Mann für die Rolle als Hauptankläger war, um „die Naziführung anzuklagen `wegen der Einleitung eines Angriffskrieges´ und `der kriminellen Verschwörung´. Am 27. April 1945 notiert Robert Jackson in seinem Tagebuch: `Außerordentlich erfreut über das Angebot und herausgefordert von der Schwierigkeit der Aufgabe habe ich die Sache in meine Obhut genommen.´“

Jackson bekam von Truman persönlich freie Hand, sich die besten Juristen Amerikas für die Aufgabe auszusuchen. Die waren auch nötig. Denn nun ging es darum, ein Anklagekonzept zu entwickeln, das völkerrechtlich tragfähig war – und von den drei anderen Alliierten akzeptiert wurde.


Zitate aus: Thomas Darnstädt, Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945, München 2015 (piper)


Donnerstag, 7. April 2022

Herodot und die Verfassungsdebatte

Einer der Höhepunkt in dem monumentalen Geschichtswerk Herodots ist die sogenannte Verfassungsdebatte, bis heute gefeiert als die „erste staatstheoretische Abhandlung der Weltgeschichte.“ 

Herodot

Interessanterweise verlegt Herodot seinen Versuch einer Verfassungstypologie und die Diskussion, in der auch um die Staatsform der Demokratie geht, nach Persien, genauer in einen persischen Adelsrat, und dazu in das ferne 6. Jahrhundert, genauer ins Jahr 521 v. Chr. Gerade war die Herrschaft des Kambyses unter äußeren und inneren Schrecken zu Ende gegangen. Ein Mager, ein Angehöriger einer persischen Priesterkaste, hatte sich als Sohn des Kyros und Bruder des Kambyses ausgegeben und die Macht an sich gerissen. Sieben persische Adlige stürzten den Usurpator, der als „falscher Smerdis“ in die Geschichte einging, und drei von ihnen diskutieren nun angesichts des Machtvakuums, ob Persien eine neue Verfassung und gegebenenfalls welche erhalten soll.

„Die Sprecher gehen nach einem festen Schema vor: Jeder von ihnen wirbt für eine Staatsform und weist eine andere zurück. Es lässt sich von These und Gegenthese sprechen, doch sie beziehen sich innerhalb einer Rede nicht auf dasselbe Objekt.“ 

„Die Debatte eröffnet ein Adliger namens Otanes. Er beleuchtet zunächst die Schattenseiten der Königsherrschaft. Dabei beginnt er mit der gegenwärtigen Situation – die Perser hätten mit der Monarchie, mit Kambyses und dem Mager, keine guten Erfahrungen gemacht –, um dann nach einer Aufzählung der allgemeinen Negativa der Monarchie zum Lob der Demokratie überzugehen. 

Der nächste Redner, ein Mann namens Megabyzos, schließt direkt an und stellt nun die Argumente gegen die Demokratie vor. Danach spricht er der Oligarchie das Wort. 

Dareios, der als dritter Redner folgt, umkreist das Thema. Im Mittelteil seiner Rede argumentiert er gegen Oligarchie und Demokratie, am Anfang und am Schluß für die Monarchie.“

Warum aber siedelt Herodot die Debatte überhaupt in Persien an? Vermutlich, weil er weiß, dass der neue Großkönig Dareios und sein Sohn Xerxes sind es, die Krieg gegen die Griechen führen werden. Hinzu kommt, dass die Alleinherrschaft in Griechenland nach dem Sturz der Tyrannenherrschaften keine Alternative mehr darstellte. Das machte es Herodot auch unmöglich, Griechen für diese Debatte zu wählen, z.B. Peisistratos (Alleinherrschaft), Isagoras (Oligarchie) und Kleisthenes (Demokratie).

Kleisthenes und die demokratischen Reformen in Athen

So verwenden die persischen Adligen, die bei Herodot miteinander diskutieren, „griechische Begriffe, verwenden typische Stilfiguren der griechischen Rhetorik wie Alliterationen, rhetorische Fragen oder Steigerungen, und sie denken griechisch. 

Die Debatte spiegelt offenbar wider, was in Griechenland in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, beeinflußt von der Sophistik, über Staatsangelegenheiten reflektiert und diskutiert wurde“, denn hinter dem Aufbau der Debatte steht die berühmte Erkenntnis des Sophisten Protagoras, daß „es über jede Sache zwei Aussagen gebe, die einander entgegengesetzt seien.“

Weil die Darstellung der Diskussion durch Herodot eben noch keine lange Tradition besitzt, ist die verwendete Begrifflichkeit noch nicht felxibel. „Für Alleinherrschaft gebraucht Herodots Personal ohne Differenzierung Termini wie Moúnarchos und Týrannos, die `Herrschaft der Wenigen´ wird gleichermaßen als Oligarchie und Aristokratie bezeichnet. Das Wort „Demokratie“ fällt in der Diskussion überhaupt nicht. Die Rede ist dagegen nur vom Dêmos oder von Plêthos (Menge) als Subjekt des Handelns und von Isonomía, der gleichen Zuteilung von Rechten und Pflichten bzw. später der Gleichheit vor dem Gesetz.

„Herodot besaß sicherlich eine eigene Ansicht zum Thema, doch er versteckt sie. Die Form des Meinungsaustausches, die er wählt, bedeutet wohl auch, daß er sie nicht direkt äußern wollte. Er verstand sich als Historiker aller Griechen und nicht einer Gruppe von ihnen.“ 

Gelichwohl ist die Liste der Gründe, die Alleinherrschaft abzulehnen, bei Herodot lang: „Ein Monarch brauche keine Rechenschaft abzulegen. Die unkontrollierte Machtfülle führe zur Überhebung. So kümmere sich der Alleinherrscher nicht um überlieferte Satzung, schalte nach Belieben, verübe, von Hybris und Neid getrieben, Untaten an Bürgern und Frauen, töte ohne Recht und ohne Urteil.“

Während Argumente für die Herrschaft der Wenigen nahezu fehlen, spricht für die Demokratie bei Herodot eine Fülle von Argumenten. „Zunächst sei sie frei von all den Missständen, welche die Monarchie mitbringe (…). Zudem würden die Ämter durch Los vergeben, und deswegen herrsche Chancengleichheit. Alle Amtsinhaber seien rechenschaftspflichtig. Das beuge Amtsmißbrauch und Korruption vor. Schließlich würden alle Beschlüsse von der Gemeinschaft gefaßt.“

Allerdings werden auch die negativen Seiten der Demokratie verschwiegen: „Nichts sei unverständiger, nichts überheblicher als der unnütze Haufen. Der Menge fehle das Wissen, das einen Monarchen auszeichne. Ohne Verstand stürze sie sich auf die Staatsangelegenheiten, vergleichbar einem Sturzbach im Frühjahr. Wo das Volk regiere, dränge sich das Schlechte ein, und das führe – eine Vorstufe zum Kreislauf der Verfassungen, wie er später von Platon bis Cicero diskutiert wird – in einer Spirale der Abwärtsbewegung wieder zu einer Alleinherrschaft.“

"Ohne Verstand stürzt sich das Volk auf die Staatsangelegenheiten"

Die Verfassungsdebatte ist weit davon entfernt, die Demokratie zu preisen, wie es beispiels Perikles in der berühmten Leichenrede bei Thukydides tut. Die Vorzüge scheinen zu überwiegen, trotz der Schattenseiten.

Es läßt sich vermuten, daß Herodot für die politische Verfassung Athens Sympathien hegte, expressis verbis gesagt hat er dies – im Gegensatz zur Hervorhebung der Verdienste der Stadt im Perserkrieg – aber nirgends. Herodot ist jedoch der erste Historiker, der das Wort „Demokratia“ verwendet. „Gleichsam nebenbei, versteckt in der Genealogie der Familie der Alkmeoniden, erfährt die Nachwelt von der Geburt der Demokratie. Bei der denkwürdigen Freierwahl gewinnt der Alkmeonide Megakles aus Athen die Tochter des Tyrannen von Sikyon, Agariste, und Herodot fährt fort: `Der Sohn dieses Paares war jener Kleisthenes, der die Phylen in Athen schuf und die Demokratie einrichtete.´ Dieser Satz ist gleichsam die Taufurkunde der Demokratie.“

Zitate aus: Wolfgang Will: Herodot und Thukydides. Die Geburt der Geschichte, München 2015 (C.H. Beck)



Donnerstag, 24. März 2022

Herodot, Thukydides und die Begründung der abendländischen Geschichtsschreibung



Doppelherme: Thukydides (links) und Herodot (rechts)

Das kurze Vorwort Herodots zu seinen 9 Büchern zur Geschichte ist gleichsam die Gründungsurkunde der abendländischen Geschichtsschreibung. In nur vier Zeilen erklärt der Pater historiae, was ihn bewog, die Geschichte der Griechen und Barbaren, von Kroisos bis in seine eigene Zeit darzustellen:

„Des Herodot von Halikarnassos Darlegung der Erkundung (Historíe) ist diese, auf dass weder das von Menschen Geschehene (Genómena) durch die Wirkung der Zeit verblasse noch die großen und staunenswerten Werke (Érga), ob sie nun von Hellenen, ob von Barbaren aufgewiesen wurden, ohne Kunde würden; das andere, und insbesondere, aus welcher Verschuldung (Aitía) sie miteinander Kriege geführt haben.“

Der zentrale Begriff in der Einleitung ist Historíe. Bei Herodot bedeutet er „Erkundung“ i.S. dessen, was Herodot antreibt, also ein Wissenwollen und Fragen, bevor daraus dann Kenntnis und Erkenntnis erwachsen. Für das, was seine Nachfolger mit dem einen Wort „Geschichte“ sagen werden, verwendet Herodot noch zwei Wörter: Apódexis historíes, d.h. „Darlegung der Erkundung.“

Herodot möchte gleichermaßen verhindern, dass das Geschehene im Laufe der Zeit verschwindet und die großen Taten, also das, was sie getan, aber auch erdacht und ersonnen haben, ohne den verdienten Ruhm bleiben. „So begreift sich Herodot als Wahrer des Gedächtnisses, dessen Amt es ist, dem Vergessen entgegenzutreten.“

Herodot - Statue vor dem Wiener Parlament

Herodot ist kein kleingeistiger oder gar „nationalistischer“ Geschichtsschreiber, Barbaren wie Griechen stehen einander in ihren Leistungen nicht nach. Besonders interessieren Herodot die großen Auseinandersetzungen und Kriege zwischen Griechen und Persern, insbesondere deren Aitía – „Veranlassung“ oder „Gründen“.

Thukydides stellt sich - in dritter Person - und seinen Heimatort ebenfalls im ersten Satz des Werkes vor:

„Thukydides aus Athen hat den Krieg zwischen den Peloponnesiern und Athenern beschrieben, wie sie ihn gegeneinander geführt haben; er hat damit gleich bei seinem Ausbruch begonnen in der Erwartung, er werde bedeutend sein und denk-würdiger als alle vorangegangenen. Er schloß dies daraus, daß beide Konflikt-parteien in jeder Hinsicht auf dem Höhepunkt ihrer Macht in den Krieg traten, und weil er sah, daß sich das übrige Hellas jeweils einem der beiden Gegner anschloß, teils sofort, teils nach einigem Überlegen. Denn dies war die gewaltigste Erschütterung für die Hellenen und einen Teil der Barbaren, ja sozusagen für den größten Teil der Menschheit. Was sich nämlich davor und noch früher ereignet hatte, war wegen der Länge der Zeit zwar unmöglich zu erforschen, auf Grund von Anzeichen aber, von deren Richtigkeit ich mich bei der Prüfung eines langen Zeitraumes überzeugen konnte, bin ich der Meinung, daß es nicht bedeutend war, weder in Kriegen noch sonst.“ 

Auch für Thukydides sind große Taten sind erinnerungswürdig. In seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg schlägt Thukydides in den Kapiteln der sog. Archäologie, die der Einleitung folgen, einen großen Bogen über die griechische Frühzeit, die Zeit der Wanderungen und Tyrannen bis zur Ankunft der Perser, um schließlich wieder zu seinem Ausgangspunkt zu kommen, der Hochrüstung der Kriegsgegner Sparta und Athen und dem Ausbruch des Krieges. 

Im Gegensatz zu den Epen Homers, bei denen der Dichter auch das Unglaubwürdige und Sagenhafte „in hymnischem Glanz überhöhte“ und anschließend die Menschen alles ungeprüft übernähmen, glaubt Thukydides ein System von Paradeígmata (Beweisen), Semeîa (Zeichen) und Tekméria (Indizien) entwickelt zu haben, mit dem sich zumindest der Lauf der Geschichte als sicher erweisen lässt. So versucht Thukydides, mit historischen Analogien, archäolo-gischen und topographischen Zeugnissen oder einfachen rationalen Überlegungen aus dem Mythos das herauszuschälen, was historischen Bestand hat. 

Explizit nennt Thukydides den Grund, der ihn veranlaßte, sich dem Krieg der Peloponnesier und der Athener zu widmen. „Wer aber klare Erkenntnis des Vergangenen erstrebt und damit auch des Künftigen, das wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird, der wird mein Werk für nützlich halten, und das soll mir genügen. Als ein Besitz für immer, nicht als Glanzstück für einmaliges Hören ist es aufgeschrieben.“ 

Thukydides setzt zwar voraus, daß der Mensch aus der Geschichte lernen kann, aber nicht in dem modernen Sinn, dass die Menschen in der Vergangenheit gemachte Fehler nicht wiederholen werden. Thukydides will keine Rezepte geben oder Vorschriften machen, er erwartet von seinen Lesern nur die Fähigkeit, die Gegenwart, ihre Gegenwart, mit der von ihm geschilderten Vergangenheit zu vergleichen, um eventuell auf Gemeinsames oder Ähnliches aufmerksam zu werden. 

Thukydides - Statue vor dem Wiener Parlament

„Daß das überhaupt möglich ist, liegt für ihn in der einzigen Konstante begründet, welche die Geschichte der Menschen besitzt, in der anthropeía phýsis oder dem anthrópinon, also der menschlichen Natur.“ Weil sie auch über größere Zeiträume gleichbleibe, könnten Vergleiche zwischen verschiedenen Abschnitten der Geschichte angestellt werden, um so ein Lernen aus der Geschichte zu ermög-lichen.

Am Beispiel der Darstellung der Pest in Athen zu Beginn des Peloponnesischen Krieges wird deutlich, wie Thukydides sein Werk verstehen möchte: „Es möge nun jeder, Arzt oder Laie, über sie seine Meinung sagen, woher sie wahrscheinlich ihren Ursprung genommen hat und welche Krankheitskeime die Kraft zu so tiefgreifenden Veränderungen bergen; ich will nur beschreiben, wie sie verlief; die Merkmale, bei deren Beachtung man die Krankheit bei einem neuerlichen Auftreten sicher erkennen könnte, wenn man schon etwas von ihr weiß, die will ich darstellen, der ich selbst krank war und andere leiden sah.“

Thukydides weist also alles, was nicht auf Anschauung beruht, als Spekulation zurück. „Er selbst will einzig das niederschreiben, was er mit eigenen Augen sah. Er tut das, weil er späteren Generationen die Möglichkeiten geben will, Vergangenes zu erkennen, so es sich wiederholt. Was für die Pestsequenz gilt, gilt aber auch für das Gesamtwerk, nämlich darzustellen, `was wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird´. Das ermöglicht Wieder-erkennen und sogar begrenzte Voraussage, aber kaum Heilung.“


Zitate aus: Wolfgang Will: Herodot und Thukydides. Die Geburt der Geschichte, München 2015 (C.H. Beck)