Donnerstag, 27. September 2012

Michael Walzer und die Gleichheit

„Gleichheit, wörtlich verstanden, ist ein Ideal, das seinen Verrat vorprogrammiert. Engagierte Männer und Frauen verraten es oder scheinen es zumindest zu verraten, sobald sie darangehen, eine Massenbewegung zugunsten der Gleichheit zu organisieren und dabei Macht, Position und Einfluss unter sich zu verteilen.“ 

Michael Walzer (2002)
Das Zitat stammt aus dem Buch „Sphären der Gerechtigkeit: Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit“, einem der Hauptwerke des amerikanischen Philosophen Michael Walzer (* 1935).

Walzer wendet sich mit aller Deutlichkeit gegen die Forderung der Egalitaristen nach einem einheitlichen Gerechtigkeitsmaßstab für alle gesellschaftlichen Bereiche:

Lebte man in einem autokratischen Staat, mag man zwar „träumen von einer Gesellschaft, in der die Macht so verteilt ist, dass jeder exakt gleich viel Anteil an ihr hat.“ In der Realität überdauert eine solche Gleichheit noch nicht einmal die erste Zusammenkunft ihrer Vorkämpfer, denn es wird schnell jemanden geben, der die anderen davon überzeugen wird, dass es gut ist, sich seiner Führung anzuvertrauen.

Auch als Bürger eines kapitalistischen Staates möge man „träumen von einer Gesellschaft, in der jeder über gleich viel Geld verfügt.“ Es ist jedoch eine Binsenwahrheit, dass das Geld sich in ständiger Bewegung befindet, um die unterschiedlichsten Aktivitäten zu ermöglichen und sich auf diese Weise stets neu verteilt, mit Sicherheit aber nicht gleich.

Schließlich möge man in einem feudalen Staat „träumen von einer Gesellschaft, in der alle Mitglieder gleich viel Ansehen und Respekt genießen.“ Damit verkenne man jedoch die Tatsache, dass jedes Individuum sich von anderen gerade in seiner Klugheit und Weisheit, seinem Können und Mut sowie seiner Stärke und Freundlichkeit unterscheidet.

So kommt Walzer zu dem Ergebnis, dass eine Gesellschaft von Gleichen zwangsläufig „eine Welt des falschen Scheins“ wäre, „in welcher Menschen, die in Wirklichkeit nicht gleich seien, gezwungen würden, sich so zu geben und so zu handeln, als wären sie gleich. Und diesen Falschheiten und Lügen müsste von einer Elite oder einer Avantgarde Geltung verschafft werden, deren Mitglieder ihrerseits wiederum so tun müssten, als seien sie in Wirklichkeit gar nicht existent. Keine allzu verlockenden Aussichten!“

Gegen diese „einfache Gleichheit“ setzt Walzer ein „System der komplexen Gleichheit.“ Dazu teilt er das gesellschaftliche Leben in insgesamt elf Sphären auf, unter anderem in die Bereiche „Mitgliedschaft und Zugehörigkeit“, „Sicherheit und „Wohlfahrt“, „Geld und Ware“, „Erziehung und Bildung“, „Anerkennung“ und "politische Macht“.

Damit die Güter, die in der Gesellschaft produziert werden, ihrem Wert entsprechend gerecht verteilt werden können, ist eben keine „einfache“ sondern eine „komplexe Gleichheit“ nötig. Nach diesem Grundsatz darf der Besitz eines Gutes aus einer Sphäre X nicht dazu führen, dass man automatisch in den Besitz eines Gutes aus einer anderen Sphäre Y gelangt.

Komplexe Gleichheit zwischen Bürger A und Bürger B
So sind zwei Bürger in der Sphäre der politischen Macht selbstverständlich nicht gleich, wenn Bürger A ein politisches Amt innehat, Bürger B jedoch nicht. Solange das Amt von Bürger A diesem keine Vorteile gegenüber Bürger B in einer anderen Sphäre verschafft – beispielsweise in der Sphäre der Erziehung und Bildung – kann Walzer von einer „komplexen Gleichheit“ zwischen Bürger A und Bürger B sprechen.

Eine gerechte Verteilung erfordert natürlich, dass die verschiedenen Verteilungssphären klar gegeneinander abgegrenzt sind – so fordert Walzer eine strikte Trennung der Bereiche Wirtschaft und Politik - und dass alle Güter nach spezifischen Maßstäben ihrer jeweiligen Sphäre verteilt werden:  

Die wichtigsten Verteilungsprinzipien sind hier für Walzer „freier Austausch“ für die Sphäre „Geld und Ware“, „Verdienst“ für die Sphäre „Anerkennung“ und „Bedürfnis“ für die Sphäre „Sicherheit und Wohlfahrt“.

Das System der komplexen Gleichheit könne Walzer zufolge letztlich auch verhindern, dass der Besitz von Macht und Herrschaft in einer gesellschaftlichen Sphäre automatisch zu Macht und Herrschaft in einem anderen Bereich führt:

„Deshalb noch einmal: Gleichheit in dem von uns erträumten Sinne erfordert nicht die Repression von Menschen. Worauf wir uns verstehen, worüber wir bestimmen und gebieten müssen, sind allein die sozialen Güter; Menschen so umzumodeln, dass sie, sei´s gelängt oder gezwängt, in ein Prokustesbett hineinpassen, ist nicht erforderlich.“

Zitate aus: Michael Walzer: Sphären der Gerechtigkeit: Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt a.M. 2006 (Campus)


Donnerstag, 20. September 2012

Amartya Sen und die Objektivität


Im Gleichnis „Die blinden Männer und der Elefant“ untersucht eine Gruppe von Blinden einen Elefanten, um zu begreifen, worum es sich bei diesem Tier handelt. Jeder untersucht nur einen Körperteil. Dann vergleichen sie ihre Ergebnisse untereinander und stellen fest, dass jeder von ihnen zu seinen eigenen, vollständig unterschiedlichen Schlussfolgerungen gekommen ist.

Die blinden Männer und der Elefant

Die blinden Männer sind letztlich nicht in der Lage, die vollständige Realität des Elefanten klar und deutlich zu begreifen. Sie erkennen nur den Auschnitt, der aufgrund ihrer individuellen Perspektive erkennbar ist.

Das Gleichnis ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir versuchen müssen, die engen Grenzen einer positionellen, d.h. standortgebundenen oder standpunktabhängigen Perspektive zu überwinden. Eine eingeschränkte Perspektive ist vor allem deshalb ein Problem, weil sie nur begrenzte Beobachtungen erlaubt und uns häufig daran hindert, all das zu sehen, was in der Welt geschieht.

Obwohl also Beobachtungen und Rückschlusse von der Position des Beobachters abhängen, kann man gleichwohl von einer „positionsbedingten Objektivität“ sprechen. Der Gegenstand einer solchen objektiven Beobachtung ist ein Phänomen, das jede normale Person von einer vorgegebenen Position aus nachprüfen kann.

Ein Beispiel für diese Form der positionsbedingten Objektivität ist der Satz „Mond und Sonne sehen gleich groß aus.“ Auch wenn der Standort in der Aussage nicht explizit genannt wird, so ist sie doch eindeutig standortabhängig und könnte auch folgendermaßen formuliert werden: „Von der Erde aus betrachtet, sehen Mond und Sonne gleich groß aus.“ In jedem Fall gibt es keinen Grund, diese Aussage als subjektiv aufzufassen oder als ein mentales Phänomen einer bestimmten Person zu bezeichnen. In diesem Fall geht es schlicht darum, wie ein Objekt von einer festgelegten Beobachtungsposition aussieht, und in diesem Fall sieht es – objektiv betrachtet – für jeden Beobachter gleich aus.

Das klassische Verständnis von Objektivität jedoch geht über die positionelle Objektivität hinaus, wie sie Thomas Nagel im folgenden Zitat beschreibt: „Eine Ansicht oder Form des Denkens ist dann objektiver als eine andere, wenn sie weniger abhängig ist von den Besonderheiten in der Veranlagung eines Individuums und seiner Stellung in der Welt oder vom Charakter des besonderen Typs, zu dem es gehört“ (Nagel, 13).

Dieser Definition nach ist gerade die Unabhängigkeit einer Meinung vom individuellen Standort ein Merkmal von Objektivität. Würde man, um beim oben genannten Beispielsatz zu bleiben, aus der Beobachtung, dass Sonne und Mond gleich aussehen, wenn man sie von der Erde aus betrachtet, die Konklusion ableiten, dass auch ihre Massen gleich sind, so verstieße dies gegen die Positionsunabhängigkeit von Objektivität. Daraus folgt, dass standortgebundene Beobachtungen irreführend sein können, wenn man ihre Standortbedingtheit nicht genügend beachtet und gegebenenfalls korrigiert.

The Idea of Justice (2009)
Standortgebundene Beobachtungen und Meinungen sind nun nicht nur für die Suche nach Erkenntnis zentral, sondern auch in der Ethik und politischen Philosophie, wie Amartya Sen in seinem Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ ausführt.

Insbesondere für die Formulierung einer Theorie der Gerechtigkeit ist eine Haltung nötig, die frei ist von positionsbedingten Vorurteilen. „Menschen, für die standpunktgebundene Perspektiven zur Gewohnheit geworden sind, können sich nur schwer von diesem eingeschränkten Blickwinkel lösen“ (Sen, 189).

Sen weist darauf hin, dass in der Praxis die Reichweite des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft durch die Art und Weise eingeschränkt wird, wie Menschen die Welt, in der sie leben, verstehen. „Und wenn der starke Einfluss der Positionsabhängigkeit dieses soziale Verständnis vernebelt, dann verlangt dies allerdings besondere Beachtung, sobald es um die Erkenntnis der gravierenden Schwierigkeiten geht, die bei der Einschätzung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu erwarten sind“ (Sen, 195f).

Positionsbedingte Illusionen müssen daher in erster Linie dadurch überwunden werden, indem die Informationsbasis für Bewertungen verbreitert wird. Genau dies hatte schon Adam Smith in seinem Buch „Theorie der ethischen Gefühle“ veranlasst, bei der moralischen Beurteilung unserer Taten immer auch Perspektiven von außen mit zu berücksichtigen. Dies geschieht zum Einen durch die Vorstellung eines „unparteiischen Zuschauers“: Wenn wir unser Verhalten beurteilen, müssen wir es „prüfen, wie es unserer Ansicht nach irgendein anderer fairer und unparteiischer Zuschauer prüfen würde“ (Smith, 167).

Adam Smith aber fordert ebenso, Perspektiven aus der Ferne systematisch zu berücksichtigen - ein Gedanke, der sich schon bei David Hume findet: „Nehmen wir weiter an, dass mehrere verschiedene Gesellschaften zum gegenseitigen Nutzen und Vorteil einen gewissen Umgang pflegen, dann erweitern sich die Grenzen der Gerechtigkeit in dem Maße, wie sich der Blickwinkel der Menschen erweitert und ihre gegenseitigen Verbindungen stärker werden“ (Hume, 111).

Keine Theorie der Gerechtigkeit kann die übrige Welt außerhalb des eigenen Landes einfach ignorieren. Nachbarschaft wird in einer globalisierten Welt immer umfassender. Daher wird eine Theorie der Gerechtigkeit alle positionsbedingten Beschränkungen im Hinblick auf moralische oder politische Verpflichtungen überwinden müssen, die die Wahrnehmung auf eine „unmittelbare Nachbarschaft“ einengen und so die Ansicht versuchen abzuwehren, dass man nur dem Nächsten etwas schulde, aber nicht den Menschen außerhalb der Nachbarschaft.

„In der Welt von heute gibt es nur sehr wenige Nicht-Nächste“ (Sen, 201).

Zitate aus: Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 (C.H.Beck)  --   Thomas Nagel: Der Blick von Nirgendwo, Frankfurt 1992 (Suhrkamp)  --  Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Leipzig 1926 (Meiner)  --  David Hume: Prinzipien der Moral, Stuttgart 2002 (Reclam)


Donnerstag, 13. September 2012

Arthur Schopenhauer und das Mitleid

Der holländische Maler Meister von Alkmaar erhält seinen Namen nach seinem Hauptwerk, den „Sieben Werken der Barmherzigkeit“ aus der St. Laurenskirche im niederländischen Alkmaar.

Das Werk, datiert auf das Jahr 1504, gilt als wichtiges Dokument der frühen holländischen Malerei. Auf sieben Tafeln zeigt der Künstler die sieben christlichen Werke der Barmherzigkeit: 

Hungernde speisen - Dürstende erquicken - Nackte bekleiden - Tote begraben

Fremde beherbergen - Kranke pflegen - Gefangene besuchen

Das Bild stellt den Begriff der Barmherzigkeit als Grundforderung christlicher Nächstenliebe anschaulich dar. Sechs der Werke verlangte Jesus in seiner Rede vom Jüngsten Gericht (Mt 25,31ff), das siebte Werk (Tote zu begraben) steht im Buch Tobias (Tob 1,21).

Philosophisch ist das Thema Barmherzigkeit unter dem Begriff Altruismus einzuordnen. Altruismus beschreibt die ethische Einstellung, die – von Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit geleitet – auf das Wohl anderer ausgerichtet ist. Dies kann in letzter Konsequenz auch das allgemeine Wohl der Menschheit sein. Damit steht der Altruismus im Gegensatz zum ethischen Egoismus als dem Versuch, die Moralität von Handlungen von der Nützlichkeit der Tat für den Handelnden selbst her zu begründen.

Eine moderne Begründung des Altruismus findet sich bei Arthur Schopenhauer (1788-1860), der das Mitleid als die natürliche Grundlage aller Moral bezeichnet.

Nach Schopenhauer gibt es beim Menschen überhaupt nur drei Triebfedern für seine Handlungen: Den Egoismus, „der das eigene Wohl will und der grenzenlos ist“, die Bosheit, „die das fremde Wehe will und die bis zur Grausamkeit geht“ und das Mitleid, „das das fremde Wohl will und das bis zum Großmut geht.“

Die Haupttriebfeder im Menschen ist für Schopenhauer der Egoismus, den er als „den Willen zum Dasein“, also zum Überleben definiert.

In der Regel entspringen alle Handlungen des Menschen aus dem Egoismus:  „Der Egoismus ist seiner Natur nach grenzenlos: Der Mensch will unbedingt sein Dasein erhalten, will es von Schmerzen, zu denen auch jeder Mangel gehört, unbedingt freihalten. Er will die größtmögliche Summe an Wohl. Er will nicht nur jeden Genuss, zu dem er fähig ist, er will auch immer neue Fähigkeiten und Möglichkeiten des Genusses entwickeln.“

Unwillen, Zorn und auch Hass regen sich im Menschen immer dann, wenn sich jemand seinem Egoismus entgegenstellt. Diese werden dann zu Feinden, die er letztlich vernichten will: „`Alles für mich, und nichts für die anderen´ – so lautet sein Wahlspruch. So wird aus dem Egoismus Bosheit.“

Arthur Schopenhauer (1788-1860)
Dennoch schränkt Schopenhauer diese dominante Seite des Menschen ein: „Nichts empört so unser moralisches Gefühl wie Grausamkeit. Jedes andere Verbrechen können wir vielleicht verzeihen, nur Grausamkeit nicht.“ Letztlich geht es also hier um die Frage, wieso Menschen grausam sein können, so ganz ohne Mitleid.

Mitleid ist für Schopenhauer das Gegenteil von Grausamkeit. „Wenn es also der Mangel an Mitleid ist, der eine Tat zu einer abscheulichen und unmoralischen Tat werden lässt, dann ist Mitleid die eigentliche moralische Triebfeder des Menschen. Die Menschen wären nichts als Ungeheuer, hätte ihnen die Natur nicht das Mitleid gegeben.“

Mitleid setzt voraus, dass sich „bei fremden Wehe mitleide, d.h. sein Wehe unmittelbar fühle, wie ich sonst nur mein eigenes fühle und deshalb sein Wohl unbedingt will, wie ich sonst nur mein eigenes will.“ Dies erfordere, dass der Mensch mit dem Leidenden identifiziere, d.h. dass die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich für einen Augenblick aufgehoben wird bzw. der Unterschied zwischen Eigenem und Fremden verschwindet, was schon in dem berühmten Zitat des spanischen Dichters Calderón (*1600) ausgesprochen wird: „... que entre el ver / padecer y el padecer / ninguna distancia habia“ (dt.:  „das zwischen Leiden / sehen und leiden/ kein Unterschied sei“).

Schopenhauer geht so weit zu behaupten, dass nur „insofern eine Handlung aus Mitleid entsprungen ist, sie moralischen Wert hat. Handle ich aus Mitleid, ist der Zweck meiner Handlung einfach der: Ich habe geholfen, ich habe jemanden von seinem Leiden befreit – und erwarte nichts dafür als Gegenleistung.“ So besteht in der Teilnahme und in der Aufhebung des Leidens die Grundlage aller Menschenliebe und Humanität.

Zitate aus: Arthur Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral, in: Sämtliche Werke, Bd. III, Darmstadt 1965 (Wiss. Buchgesellschaft)  -  Weitere Literatur: Marie-Christine Beisel: Schopenhauer und die Spiegelneurone: Eine Untersuchung der Schopenhauer'schen Mitleidsethik im Lichte der neurowissenschaftlichen Spiegelneuronentheorie, Würzburg 2012 (Königshausen & Neumann)

Hochinteressant die Sendung "Schopenhauer und die Spiegelneuronen" aus der Reihe "Das Philosophische Radio" (WDR 5) mit Marie-Christine Beisel und Jürgen Wiebicke

Donnerstag, 6. September 2012

Herodot und die Geschichte


„Herodot aus Halikarnassos gibt hier Bericht von allem, was er erkundet hat, damit der Menschen Taten nicht in Vergessenheit geraten und auch die großen und wunderbaren Werke nicht, die von den Hellenen und Barbaren vollbracht wurden. Vor allem aber soll man erfahren, um welcher Ursache willen sie gegeneinander in Krieg geraten sind.“

Herodot (Parlamentsgebäude, Wien)
Mit diesen Worten beginnt das neun Bücher umfassende Geschichtswerk Herodots. Die Historien schildern nicht nur den Aufstieg des Perserreiches im 6. Jahrhundert v. Chr. sondern vor allem auch die Kriege zwischen Persern und  Griechen im 5. Jahrhundert.

Herodot, geboren ca. 490 v. Chr. in Halikarnassos in Kleinasien, führte ein bewegtes Leben. Weil er sich am Sturz des Tyrannen seiner Heimatstadt beteiligt hatte, musste er ins Exil nach Samos fliehen. Nach eigener Aussage unternahm Herodot ausgedehnte Reisen nach Ägypten, ins Schwarzmeergebiet, nach Thrakien und Makedonien bis ins Land der Skythen (Südrussland und Ukraine) sowie in den Vorderen Orient bis nach Babylon.

Später kam Herodot auf Umwegen für kurze Zeit nach Athen und pflegte dort einen engen Kontakt zu den großen Persönlichkeiten jener Zeit, darunter Sophokles und Perikles. In Athen hielt er auch Vorträge aus seinen Historien, für die er von der Stadt bezahlt wurde. Herodot starb 424 v. Chr. kurz nach der Veröffentlichung seines Werks.

Herodot war neben Thukydides (ca. 454 - 398 v. Chr.) der wichtigste antike Historiker. Schon Cicero bezeichnete ihn als „Vater der Geschichtsschreibung“ (pater historiae) und „Erzähler zahlloser Geschichten.“

Auch wenn die Meinungen der modernen Geschichtswissenschaft über ihn in Einzelfragen auseinandergehen mögen, so unbestritten gilt dagegen sein Verdienst, den ersten systematischen Entwurf einer zusammenhängenden, kritischen Weltgeschichte einschließlich Geographie und Kultur der damals bekannten Welt, soweit das Gedächtnis der Überlieferungen zurückreichte, in seinen neun Büchern niedergelegt zu haben.

Herodot selbst bezeichnete sein Werk als „Aufzeichnungen seiner Forschung“. Zwar rekuriert Herodot immer wieder auf mythologische Traditionen, aber er ist sich bewusst, dass der Mythos nicht alles erklärt. Er glaubte zwar noch an das wunderbare Eingreifen göttlicher Mächte, aber er übernahm nicht kritiklos jede Überlieferung.

Herodot bemüht sich um eine vom Verstand gefilterte Beobachtung der Welt, d.h. er will selbst sehen und prüfen. Sein Interesse galt vor allem dem mächtigen Zusammenprall zwischen dem Perserreich und der Welt der Griechen, der das damalige Zeitalter beherrschte und erschütterte. Herodot fragt daher nach den Gründen und Ursachen für diesen Konflikt.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Verfassungsdebatte (III, 80ff), ein Gespräch zwischen drei adligen Persern über die beste Verfassung ihres Landes. Während sich Otanes und Megabyzos I. für das Prinzip der Rechtsgleichheit bzw. für die Herrschaft der Besten aussprechen, plädiert Dareios für eine Monarchie - also die Staatsform, die sich in Persien letztlich durchsetzte. 

Den Sieg der Griechen über die Perser betrachtete Herodot somit nicht zuletzt auch als Sieg des Geistes über die Masse, als Sieg der Freien, die nur das Gesetz als Herrn über sich haben, über die Geknechteten, die nur die Peitsche des willkürlich befehlenden Despoten vorwärts treibt.

Die Rolle von Athen in der Auseinandersetzung ist für Herodot entscheidend: „Ich will offen meine Meinung sagen, auch wenn sie den meisten Menschen missfallen wird. Aber ich kann nicht ungesagt lassen, was ich für wahr halte, nämlich dass man die Athener die Retter von Griechenland nennt. Sie blieben standhaft und erwarteten voll Mut diejenigen, die in ihr Land eingefallen waren“ (VII, 139).

Die Welt nach Herodot

Schließlich enthält sein Werk, zeitgenössischer Tradition entsprechend, eine Fülle von Anekdoten, Volkserzählungen und pointierter Geschichten, die es zu einer anschaulich und spannend zu lesenden Mischung aus gelehrter Wissenschaftlichkeit und unerschöpflicher Fabulierkunst machen.

So beschreibt beispielsweise Herodot den Prozess, nach dem bei den Persern wichtige Entscheidungen getroffen wurden: Diese hätten wichtige Angelegenheiten gewöhnlich im Rausch besprochen, um sie dann am nächsten Tag noch einmal nüchtern zu beurteilen. Umgekehrt wurden Entscheidungen, die nüchtern zustande gekommen waren, noch einmal in trunkenem Zustand beraten (I, 133).

Trotz seiner Bedeutung erhält Herodot heutzutage nicht von allen Forschern die gleiche Wertschätzung. Den einen gilt er als erster kritischer und ernstzunehmender Geschichtsschreiber der Antike, andere sehen in ihm kaum mehr als einen historischen Märchenerzähler.

Später wird Aristoteles den Unterschied zwischen Geschichtsschreiber und Dichter dahingehend beschreiben, dass „der eine berichtet, was geschehen ist, der andere, was geschehen könnte“ (Poetik, 9).  

Zitate aus: Herodot: Neun Bücher der Geschichte, Essen 2006 (Magnus)