„Gleichheit, wörtlich verstanden, ist ein Ideal, das seinen Verrat vorprogrammiert. Engagierte Männer und Frauen verraten es oder scheinen es zumindest zu verraten, sobald sie darangehen, eine Massenbewegung zugunsten der Gleichheit zu organisieren und dabei Macht, Position und Einfluss unter sich zu verteilen.“
Michael Walzer (2002) |
Das Zitat stammt aus dem Buch „Sphären der
Gerechtigkeit: Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit“, einem der
Hauptwerke des amerikanischen Philosophen Michael Walzer (* 1935).
Walzer wendet sich mit aller Deutlichkeit gegen
die Forderung der Egalitaristen nach einem einheitlichen Gerechtigkeitsmaßstab
für alle gesellschaftlichen Bereiche:
Lebte man in einem autokratischen Staat, mag
man zwar „träumen von einer Gesellschaft, in der die Macht so verteilt ist,
dass jeder exakt gleich viel Anteil an ihr hat.“ In der Realität überdauert
eine solche Gleichheit noch nicht einmal die erste Zusammenkunft ihrer
Vorkämpfer, denn es wird schnell jemanden geben, der die anderen davon
überzeugen wird, dass es gut ist, sich seiner Führung anzuvertrauen.
Auch als Bürger eines kapitalistischen
Staates möge man „träumen von einer Gesellschaft, in der jeder über gleich viel
Geld verfügt.“ Es ist jedoch eine Binsenwahrheit, dass das Geld sich in
ständiger Bewegung befindet, um die unterschiedlichsten Aktivitäten zu
ermöglichen und sich auf diese Weise stets neu verteilt, mit Sicherheit aber
nicht gleich.
Schließlich möge man in einem feudalen Staat „träumen
von einer Gesellschaft, in der alle Mitglieder gleich viel Ansehen und Respekt
genießen.“ Damit verkenne man jedoch die Tatsache, dass jedes Individuum sich
von anderen gerade in seiner Klugheit und Weisheit, seinem Können und Mut sowie
seiner Stärke und Freundlichkeit unterscheidet.
So kommt Walzer zu dem Ergebnis, dass eine
Gesellschaft von Gleichen zwangsläufig „eine Welt des falschen Scheins“ wäre, „in
welcher Menschen, die in Wirklichkeit nicht gleich seien, gezwungen würden,
sich so zu geben und so zu handeln, als wären sie gleich. Und diesen
Falschheiten und Lügen müsste von einer Elite oder einer Avantgarde Geltung
verschafft werden, deren Mitglieder ihrerseits wiederum so tun müssten, als
seien sie in Wirklichkeit gar nicht existent. Keine allzu verlockenden
Aussichten!“
Gegen diese „einfache Gleichheit“ setzt
Walzer ein „System der komplexen Gleichheit.“ Dazu teilt er das gesellschaftliche
Leben in insgesamt elf Sphären auf, unter anderem in die Bereiche „Mitgliedschaft
und Zugehörigkeit“, „Sicherheit und „Wohlfahrt“, „Geld und Ware“, „Erziehung
und Bildung“, „Anerkennung“ und "politische Macht“.
Damit die Güter, die in der Gesellschaft
produziert werden, ihrem Wert entsprechend gerecht verteilt werden können, ist eben
keine „einfache“ sondern eine „komplexe Gleichheit“ nötig. Nach diesem
Grundsatz darf der Besitz eines Gutes aus einer Sphäre X nicht dazu führen,
dass man automatisch in den Besitz eines Gutes aus einer anderen Sphäre Y
gelangt.
Komplexe Gleichheit zwischen Bürger A und Bürger B |
So sind zwei Bürger in der Sphäre der
politischen Macht selbstverständlich nicht gleich, wenn Bürger A ein
politisches Amt innehat, Bürger B jedoch nicht. Solange das Amt von Bürger A
diesem keine Vorteile gegenüber Bürger B in einer anderen Sphäre verschafft –
beispielsweise in der Sphäre der Erziehung und Bildung – kann Walzer von einer „komplexen
Gleichheit“ zwischen Bürger A und Bürger B sprechen.
Eine gerechte Verteilung erfordert natürlich,
dass die verschiedenen Verteilungssphären klar gegeneinander abgegrenzt sind –
so fordert Walzer eine strikte Trennung der Bereiche Wirtschaft und Politik - und
dass alle Güter nach spezifischen Maßstäben ihrer jeweiligen Sphäre verteilt
werden:
Die wichtigsten Verteilungsprinzipien sind hier
für Walzer „freier Austausch“ für die Sphäre „Geld und Ware“, „Verdienst“ für
die Sphäre „Anerkennung“ und „Bedürfnis“ für die Sphäre „Sicherheit und
Wohlfahrt“.
Das System der komplexen Gleichheit könne
Walzer zufolge letztlich auch verhindern, dass der Besitz von Macht und
Herrschaft in einer gesellschaftlichen Sphäre automatisch zu Macht und
Herrschaft in einem anderen Bereich führt:
„Deshalb noch einmal: Gleichheit in dem von
uns erträumten Sinne erfordert nicht die Repression von Menschen. Worauf wir
uns verstehen, worüber wir bestimmen und gebieten müssen, sind allein die
sozialen Güter; Menschen so umzumodeln, dass sie, sei´s gelängt oder gezwängt,
in ein Prokustesbett hineinpassen, ist nicht erforderlich.“
Zitate
aus: Michael Walzer: Sphären der Gerechtigkeit: Ein Plädoyer für Pluralität und
Gleichheit, Frankfurt a.M. 2006 (Campus)