In Ayn Rands zweitem Roman „Atlas Shrugged“ finden sich wie in einem Brennglas alle Versatzstücke des neoliberalen Denkens. „Atlas wirft die Welt ab“ erscheint 1957. Das über tausend Seiten umfassende Buch ist in den USA zur Bibel der so genannten „Libertarians“ geworden. Eine Weltanschauung, deren Namen man mit dem Etikett „Libertarismus“ nur annähernd ins Deutsche übersetzen kann. Sie beruft sich auf eine lange amerikanische Tradition.
Atlas shrugged (Originalcover) |
„Atlas Shrugged“ führt in ein düsteres Amerika.
Überall sind Zeichen des wirtschaftlichen Verfalls sichtbar: verlassene
Industrieanlagen, verwilderte Farmen. Eine geheimnisvolle Passivität hat die
Menschen ergriffen. Sie wirken wie Zombies, unfähig, Entscheidungen zu treffen.
Ein monströs korruptes politisches System in Washington treibt das Land mit
unsinnigen Gesetzen immer tiefer in die ökonomische Katastrophe:
„Sie sah die Skelette der Fabriken mit
zerbröckelnden Schornsteinen, die Kadaver von Geschäften mit zerbrochenen
Fensterscheiben, die schiefen Pfosten mit zerfetztem Draht.“ (Atlas Shrugged)
Die weibliche Protagonistin des Romans ist
Erbin eines der großen Eisenbahnkonzerne der Vereinigten Staaten. Als rund um
die Uhr arbeitende Managerin kämpft sie ebenso heroisch wie vergeblich gegen
den allgemeinen Verfall.
Die Katastrophe, in die Ayn Rands fiktives
Amerika schlittert, wird verursacht durch die Institutionen des New Deal.
Europa ist in „Atlas Shrugged“ schon lange zu einer Ansammlung hungerleidender
Volksrepubliken verkommen. Im Sozialstaat sieht Ayn Rand die Wurzel aller Übel.
Dass dieses Bild im direkten Widerspruch zum allgemeinen Wohlstand der 50er
Jahre steht, schert sie wenig. Sie verlegt die finstere Szenerie in eine
unbestimmte Zukunft, denn die Krise des Sozialstaats bildet die unverzichtbare
Kontrastfolie für ihre produktive Elite des Kapitalismus.
John Galt ist die mythische Figur des Romans,
der die Welt tragende Atlas, dessen Namen durch den Text geistert, und der erst
gegen Ende der über 1.000 Seiten leibhaftig als Erlöserfigur auftaucht. Seine
Biografie weist ihn als Kapitalisten des neuen Typs aus. Sowohl genialer
Erfinder als auch erfolgreicher Unternehmer verdankt die Welt ihm einen Motor,
der eine Art Perpetuum mobile darstellt. Aber er ist auch der Zerstörer, der
der Gesellschaft seine Erfindung verweigert, weil sie ihn mit der
sozialstaatlichen Umverteilung um die gerechten Früchte seiner Innovation
bringt:
„Ein Gesicht, das kein
Zeichen des Leidens, der Furcht oder der Schuld trug. Die Form seines Mundes
drückte Stolz aus, ja mehr noch, es wirkte, als sei er stolz, stolz zu sein.
Der Ausdruck gelassener Entschlossenheit und Sicherheit, ein Blick, der weder um
Vergebung bitten noch je sie gewähren würde. Seine Augen hatten den
dunkelgrünen Schimmer von Licht auf Metall.
John Galt ist der Prometheus, der sich anders entschieden
hat. Nach dem er jahrhundertelang von den Geiern zerfressen wurde als Lohn
dafür, dass er den Menschen das göttliche Feuer brachte, hat er seine Ketten
zerrissen und sein Feuer zurückgeholt – bis zu dem Tag, da die Menschen ihre
Geier zurückrufen werden.“ (Atlas Shrugged)
Straßenschild in Chicago (2015) |
John Galt ist der Prototyp des „Homo
oeconomicus“, des aus-schließlich an seinem Eigeninteresse orientierten
Subjekts, das sich die klassische Wirtschaftstheorie als Akteur auf den Märkten
vorstellt. Fast hat man den Eindruck, als habe sich die Theorie ihre eigene
Wirklichkeit geschaffen. John Galt repräsentiert zugleich die „kreative
Klasse“, er ist das schöpferische Genie, das sich von allen Emotionen befreit,
aus allen sozialen Beziehungen heraus-katapultiert hat, die ihn hätten behindern
können. Ein Workaholic, gestählt im permanenten Überlebenskampf. Steigerung der
Produktivität als ausschließliches Ziel allen Handelns.
„Ich produziere Zeit. Ich arbeite an der
Verbesserung meiner Verfahren. Jede Stunde, die ich einsparen kann, ist eine
Stunde Lebenszeit zusätzlich. Früher brauchte ich fünf Stunden, jetzt schaffe
ich es in drei. Zwei Stunden weniger für eine Aufgabe, die ich in eine andere
Aufgabe investieren kann. Zwei Stunden mehr, in denen ich arbeiten kann, um
weiter zu wachsen, um vorwärts zu kommen.“ (Atlas Shrugged)
Geschickt verkehrt Ayn Rand das
Klassenkampf-Motiv des Streiks in sein Gegenteil. In „Atlas Shrugged“ sind es
die Milliardäre, die streiken. Sie sehen sich als Opfer einer Gesellschaft, die
ihren Höhenflug auf Normalmaß zurückstutzen will. Also ziehen sie sich zurück,
lassen ihre Fabrikanlagen verfallen und verbarrikadieren sich in einem geheimen
Eldorado in den Bergen Colorados. In „Galt’s Gulch“ leben sie in einer Art
kapitalistischer Kommune, peinlichst darauf bedacht, dass niemandem etwas geschenkt wird.
Die Welt draußen fällt in Chaos und
Bürgerkrieg, weil ihr die Vitalität der kapitalistischen Elite fehlt.
Schließlich führt die Erpressung durch die Reichen zum Ziel. Am Ende muss der
amerikanische Kongress einen Verfassungszusatz verabschieden, der für alle
Zeiten einen Eingriff in die Freiheit von Produktion und Handel verbietet.
Ayn Rand erlebte es nicht mehr, aber Ende der
70er Jahre begann schrittweise der Abbau des sozialstaatlichen Erbes Franklin
D. Roosevelts.
Rand warnte ihre Anhänger zwar vor dem
Republikaner Ronald Reagan, denn er war ihr zu religiös, zu kompromissbereit,
aber mit Reagan begann der radikale Rückbau staatlicher Regulierung und die drastische
Kürzung der Sozialausgaben. Das neoliberale Denken wurde zur alles
dominierenden amerikanischen Ideologie, ihr zentrales Element die sogenannte
„Trickle-Down Economy“, die Vorstellung, dass es den Reichen gut gehen muss,
damit es allen gut geht.
Aber nicht nur die Republikaner und Protestbewegungen
wie die „Tea Party“, sondern auch die Demokraten sind inzwischen dem Charme der
„Creative Class“ erlegen. Für viele ist die Demokratische Partei mittlerweile zur
Interessenvertretung einer vermögenden und gut ausgebildeten 10 %-Elite
geworden, einer nach eigenem Empfinden hart arbeitenden und deshalb produktiven
Elite, die einer passiven Mehrheit gegenübersteht, die durch Steuern und
soziale Transferleistungen die Produktiven um die Früchte ihrer Arbeit bringt.
Dass auch die Demokraten nicht länger die
Partei der Mittelklasse sein wollte, sondern die Partei der wohlhabenden
Freiberufler, der Manager, Ingenieure, Architekten, Ärzte, Rechtsanwälte,
Finanzstrategen, begann in den 70er Jahren und erreichte einen ersten Höhepunkt
unter der Präsidentschaft Bill Clintons.
Parteistrategen sprachen nun von der
„natürlichen Allianz“ zwischen den Demokraten und Wallstreet. Wallstreet, das
war für sie der Ort, wo die „kreative Klasse“ aufblühte, wo in Harvard
ausgebildete Top-Experten wahre Wunder vollbrachten, wo Reichtum aus dem Nichts
erschaffen wurde. Die Clintons, Obama, alle waren sie daran beteiligt.
Republikaner und Demokraten - Alle erliegen sie dem Charme der „Creative Class“! |
Das ist die Hauptursache, warum die
wirtschaftliche Ungleichheit in den USA heute so völlig außer Kontrolle geraten
ist. Es gibt in den USA keine Partei, die sich wirklich für die arbeitende
Klasse einsetzt.
Der Erfolg des Donald Trump erklärt sich durch
dieses Gefühl vieler Amerikaner, dass sie im geschlossenen politischen System
Washingtons keine Stimme haben.
Natürlich liegt es nahe, Trump als Clown, als vergoldeten
Clown zu bezeichnen, aber er stellt eine Reaktion auf die enorme
wirtschaftliche Ungleichheit dar.
Das ist die Konsequenz der
Deindustrialisierung. Die Demokraten laufen herum und feiern die
Innovationsmaschine der Internet-Industrie, aber die Mittelklasse schrumpft und
die Löhne stagnieren. Der Anteil, den die Mittelklasse heute am
Bruttosozialprodukt hat, ist der geringste seit dem Zweiten Weltkrieg. Für
viele wurde das Versprechen des „American Life“ endgültig gebrochen.
Ayn Rand würde sich nicht darüber wundern …
Quelle und Zitate aus: Stefan Fuchs, Idol rechter US-Republikaner: Ayn Rand und der entfesselte Kapitalismus, swr 2 Wissen, Sendung vom 8. November 2016