Donnerstag, 29. August 2013

Wesley Charles Salmon und die Schlüssigkeit der Argumente

Philosophie verlangt eine ausgesprochen bescheidene und selbstkritische Haltung, die jede Form von Rechthaberei und Dogmatismus ausschließt.

Wer philosophiert, darf sich nicht nur auf seine eigenen Gedanken verlassen, sondern muss immer wieder das Gespräch und die Diskussion mit anderen suchen und sich mit den Ideen, Argumenten und Theorien anderer Menschen auseinander setzen. 
Der Dialog - Das Wesen der Philosophie
In der Philosophie kommt es in ganz besonderem Maße  darauf an, sich um eine möglichst klare sprachliche Darstellung zu bemühen und eine „logische“, d.h. folgerichtige und widerspruchsfreie Argumentation zu verwenden.

Gerade weil es in der Philosophie so leicht ist, in einen unverständlichen Code zu verfallen, den nicht einmal Eingeweihte verstehen, ist es wichtig, dass sie sich selbst über ihre methodischen Grundlagen Gedanken macht.


Wesley Charles Salmon (1925 – 2001)
In der modernen Philosophie hat sich vor allem Wesley Charles Salmon (1925 – 2001) darum bemüht, zu mehr Klarheit und Präzision des philosophischen Fragens, Denkens und Reden zu gelangen.

In einem seiner bekanntesten Werke, der „Logik“ (1963), versucht Salmon, die Logik als ein Werkzeug der Philosophie zu entwickeln, mit dessen Hilfe man Begriffe und Argumente widerspruchsfrei und eindeutig gebrauchen lernt.

Am Beginn seines Buches erzählt Salmon ein interessantes Beispiel für die Notwendigkeit schlüssige Argumente zu verwenden:

„In einem seiner berühmten Abenteuer bekommt Sherlock Holmes einen alten Filzhut in die Hände. Obwohl Holmes den Eigentümer des Hutes nicht kennt, teilt er Dr. Watson eine Menge Einzelheiten über diesen Mann mit – unter anderem, dass er sehr intelligent ist. Diese Behauptung ist, für sich gesehen unbegründet. Holmes mag Gründe für seine Aussage haben, bisher hat er sie aber nicht angegeben.

Wie gewöhnlich sieht Dr. Watson keinerlei Grund für Holmes´ Behauptung und bittet um eine Erklärung. Als Antwort setzt Holmes den Hut auf. Er reichte ganz über die Stirn und saß auf seiner Nasenwurzel auf. `Es ist eine Frage des Rauminhaltes´, sagte er; `ein Mensch mit einem so großen Gehirn kann nicht dumm sein.´ Jetzt ist die Aussage, dass der Eigentümer des Hutes sehr intelligent ist, keine unbegründete Behauptung mehr. Holmes hat einen Grund angegeben und damit seine Aussage begründet. Sie ist die Konklusion eines Arguments.“

Logik (1963)
Salmon geht davon aus, dass wir Behauptungen so lange als unbegründet ansehen, bis Gründe zu ihrer Stützung angegeben worden sind. Genau damit beschäftigt sich die Logik, denn „ein Argument besteht aus mehr als nur einer Aussage: Es besteht aus einer Konklusion und den Gründen, die zu ihrer Stützung angegeben werden. Solange die Gründe nicht angegeben worden sind, liegt uns kein Argument zur Analyse vor.“

So können wir auch ein Argument so lange nicht beurteilen, bis die Begründung, die einen unverzichtbaren Bestandteil des Arguments bildet, vorgebracht wurde. Dabei ist es relativ unerheblich für die Analyse des Arguments und seiner Qualität und Stichhaltigkeit, von wem die Gründe vorlegt werden, ob von Holmes, Watson oder auch dem Leser. In einer Diskussion wird aber natürlich von demjenigen, der eine Behauptung aufstellt, auch die Begründung eingefordert werden.

Bei der Untersuchung der Argumente, also der Behauptung und ihrer Begründung(en) muss zusätzlich berücksichtigt werden, dass ein einzelnes Wort verschiedene Bedeutungen haben kann. Dies ist normalerweise nicht weiter schlimm, denn gewöhnlich geht schon aus dem Kontext hervor, welche Bedeutung gemeint ist. So besitzt der Begriff „Masse“ in der Physik und der Soziologie sehr unterschiedliche Bedeutungen, aber diese Mehrdeutigkeit wird nur sehr schwerlich zu Verwechslungen führen.

In anderen Fällen können wir gleichwohl nicht zweifelsfrei feststellen, in welcher Weise das Wort gebraucht wird. In dem Satz „Joachim hat von Andrea einen Korb bekommen“ wird das Wort „Korb“ offensichtlich mehrdeutig und damit missverständlich gebraucht, denn die Aussage, in der es vorkommt, kann auf wenigstens zwei Arten interpretiert werden.

Für Salmon führt die Vielfalt der Bedeutungen immer wieder zu logischen Problemen, „wenn dasselbe Wort in ein und demselben Argument in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet wird.“ Stattdessen muss darauf geachtet werden, dass die Gültigkeit des Arguments davon abhängt, dass das Wort an jeder Stelle des Arguments denselben Sinn besitzt – zumindest aber, dass bei den diskutierenden Personen ein gleiches Begriffsverständnis vorliegt oder hergestellt wurde. Ansonsten erliege man in solchen Diskussionen dem Fehlschluss der Mehrdeutigkeit.
Die Folgen des Fehlschlusses der Mehrdeutigkeit ... Gegenseitiges Unverständnis 

Um dies zu erläutern gibt Salmon folgendes Beispiel:

„Der normale College-Neuling ist lebhaft an Sport und Alkohol interessiert und den größten Teil seiner Zeit beschäftigt er sich mit Sex. Diese Dinge nehmen ihn ganz in Anspruch, Gedichte zum Beispiel lassen ihn kalt.

Hin und wieder begegnet man jedoch einem Neuling, der vollkommen anders ist. Er verbringt einen großen Teil seiner Zeit mit Lesen und möglicherweise schreibt er Gedichte. Er tut dies, weil es ihm gefällt. Er ist ein anormaler Fall. Häufig hat er einen ungewöhnlich hohen IQ. Er ist nicht an den Dingen interessiert, für die sich die normalen Jungen in seinem Alter interessieren. Von den anderen Jungen ist er abgesondert. Wenn wir auf derartige Jungen stoßen, dann fragen wir uns `Wie kann man ihnen helfen?´ Es muss doch einen Weg geben, um ihnen zu einer normalen Einstellung dem Leben gegenüber zu verhelfen.“

In diesem Beispiel ändert das Wort „normal“ seine Bedeutung. Am Anfang bedeutet „normal“ einfach so viel wie „durchschnittlich“, am Ende aber bedeutet es „gesund“. Während „durchschnittlich“ ein rein statistischer und damit vollkommen wertfreier Ausdruck ist, enthält „gesund“ unter anderem eine Wertung.

Untersuchte man den Beispieltext auf das darin enthaltene – unausgesprochene – Argument, dann köme man zu folgendem Ergebnis (in der Form des logischen Syllogismus):

  • Prämisse 1: Ein College-Neuling, der Gedichte mag, ist ein anormaler Junge.
  • Prämisse 2: Ein anormaler Junge ist zu bedauern.
  • Konklusion: Ein College-Neuling, der Gedichte mag, ist zu bedauern.


Das Problem ist, dass dieses Argument nun eine Mehrdeutigkeit enthält, die auf das Wort „normal“ zurückgeht. Das größere Problem jedoch ist, dass solche Argumente heute immer noch vorgebracht und von vielen geglaubt werden …

Zitate aus: Wesley Charles Salmon: Logik, Stuttgart 1983 (Reclam)

Donnerstag, 22. August 2013

Hölderlin und die Athener

Immer noch gibt es jene, die fragen, worin der besondere Beitrag des antiken Griechenlands, insbesondere Athens denn begründet sein mag. Es ist die Frage keinesfalls überflüssig. Vielmehr fordert sie mit gutem Recht eine Antwort - vielleicht die, die in den Worten Hölderlins aus seinem „Hyperion“ liegt:

Friedrich Hölderlin (1770 - 1843)
„Also noch einmal! daß die Athener so frei von gewaltsamem Einfluß aller Art, so recht bei mittelmäßiger Kost aufwuchsen, das hat sie so vortrefflich gemacht!

Laßt von der Wiege an den Menschen ungestört! treibt aus der engvereinten Knospe seines Wesens, treibt aus dem Hüttchen seiner Kindheit ihn nicht heraus! tut nicht zu wenig, daß er euch nicht entbehre und so von ihm euch unterscheide, tut nicht zu viel, daß er eure oder seine Gewalt nicht fühle, und so von ihm euch unterscheide, kurz, laßt den Menschen spät erst wissen, daß es Menschen, daß es irgendetwas außer ihm gibt, denn so nur wird er Mensch. Der Mensch ist aber ein Gott, sobald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön. (…)

So war der Athener ein Mensch, fuhr ich fort, so mußt er es werden. Schön kam er aus den Händen der Natur, schön, an Leib und Seele, wie man zu sagen pflegt.

Das erste Kind der menschlichen, der göttlichen Schönheit ist die Kunst. In ihr verjüngt und wiederholt der göttliche Mensch sich selbst. Er will sich selber fühlen, darum stellt er seine Schönheit gegenüber sich. So gab der Mensch sich seine Götter. Denn im Anfang war der Mensch und seine Götter Eins, da, sich selber unbekannt, die ewige Schönheit war. (…) Das erste Kind der göttlichen Schönheit ist die Kunst. So war es bei den Athenern.

Der Schönheit zweite Tochter ist Religion. Religion ist Liebe der Schönheit. Der Weise liebt sie selbst, die Unendliche, die Allumfassende; das Volk liebt ihre Kinder, die Götter, die in mannigfaltigen Gestalten ihm erscheinen. Auch so war es bei den Athenern. Und ohne solche Liebe der Schönheit, ohne solche Religion ist jeder Staat ein dürres Gerippe ohne Leben und Geist, und alles Denken und Tun ein Baum ohne Gipfel, eine Säule, wovon die Krone herab geschlagen ist.

Schönheit - Kunst - Bildung im klassischen Griechenland

Daß aber wirklich dies der Fall war bei den Griechen und besonders den Athenern, daß ihre Kunst und ihre Religion die echten Kinder ewiger Schönheit – vollendeter Menschennatur – sind, und nur hervorgehen konnten aus vollendeter Menschennatur, das zeigt sich deutlich, wenn man nur die Gegenstände ihrer heiligen Kunst, und die Religion mit unbefangenem Auge sehn will, womit sie jene Gegenstände liebten und ehrten.

Mängel und Mißtritte gibt es überall und so auch hier. Aber das ist sicher, daß man in den Gegenständen ihrer Kunst doch meist den reifen Menschen findet. Da ist nicht das Kleinliche, nicht das Ungeheure der Aegyptier und Goten, da ist Menschensinn und Menschengestalt. Sie schweifen weniger als andre, zu den Extremen des Übersinnlichen und des Sinnlichen aus. In der schönen Mitte der Menschheit bleiben ihre Götter mehr, denn andre. Und wie der Gegenstand, so auch die Liebe. Nicht zu knechtisch und nicht gar zu sehr vertraulich! – Aus der Geistesschönheit der Athener folgte denn auch der nötige Sinn für Freiheit. (…)

Der Athener kann die Willkür nicht ertragen, weil seine göttliche Natur nicht will gestört sein, er kann Gesetzlichkeit nicht überall ertragen, weil er ihrer nicht überall bedarf. Drako taugt für ihn nicht. Er will zart behandelt sein, und tut auch recht daran.

Gut! unterbrach mich einer, das begreif ich, aber, wie dies dichterische religiöse Volk nun auch ein philosophisch Volk sein soll, das seh ich nicht. Sie wären sogar, sagt ich, ohne Dichtung nie ein philosophisch Volk gewesen!

Was hat die Philosophie, erwidert' er, was hat die kalte Erhabenheit dieser Wissenschaft mit Dichtung zu tun? Die Dichtung, sagt ich, meiner Sache gewiß, ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft. Wie Minerva aus Jupiters Haupt, entspringt sie aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seins. Und so läuft am End auch wieder in ihr das Unvereinbare in der geheimnisvollen Quelle der Dichtung zusammen.

Das ist ein paradoxer Mensch, rief Diotima, jedoch ich ahn ihn. Aber ihr schweift mir aus. Von Athen ist die Rede.

Der Mensch, begann ich wieder, der nicht wenigstens im Leben Einmal volle lautre Schönheit in sich fühlte, wenn in ihm die Kräfte seines Wesens, wie die Farben am Irisbogen, in einander spielten, der nie erfuhr, wie nur in Stunden der Begeisterung alles innigst übereinstimmt, der Mensch wird nicht einmal ein philosophischer Zweifler werden, sein Geist ist nicht einmal zum Niederreißen gemacht, geschweige zum Aufbaun. Denn glaubt es mir, der Zweifler findet darum nur in allem, was gedacht wird, Widerspruch und Mangel, weil er die Harmonie der mangellosen Schönheit kennt, die nie gedacht wird. Das trockne Brot, das menschliche Vernunft wohlmeinend ihm reicht, verschmähet er nur darum, weil er insgeheim am Göttertische schwelgt.

Schwärmer! rief Diotima, darum warst auch du ein Zweifler. Aber die Athener!

Ich bin ganz nah an ihnen, sagt ich. Das große Wort, das εν διαφερον εαυτω (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden war, gabs keine Philosophie. Nun konnte man bestimmen, das Ganze war da. Die Blume war gereift; man konnte nun zergliedern. Der Moment der Schönheit war nun kund geworden unter den Menschen, war da im Leben und Geiste, das Unendlicheinige war. Man konnt es aus einander setzen, zerteilen im Geiste, konnte das Geteilte neu zusammendenken, konnte so das Wesen des Höchsten und Besten mehr und mehr erkennen und das Erkannte zum Gesetze geben in des Geistes mannigfaltigen Gebieten. Seht ihr nun, warum besonders die Athener auch ein philosophisch Volk sein mußten? (…)

Aus bloßer Vernunft aber kommt keine Philosophie, denn Philosophie ist mehr, denn blinde Forderung eines nie zu endigenden Fortschritts in Vereinigung und Unterscheidung eines möglichen Stoffs.

Leuchtet aber das göttliche εν διαφερον εαυτω, das Ideal der Schönheit der strebenden Vernunft, so fordert sie nicht blind, und weiß, warum, wozu sie fordert.

Scheint, wie der Maitag in des Künstlers Werkstatt, dem Verstande die Sonne des Schönen zu seinem Geschäfte, so schwärmt er zwar nicht hinaus und läßt sein Notwerk stehn, doch denkt er gerne des Festtags, wo er wandeln wird im verjüngenden Frühlingslichte.

So weit war ich, als wir landeten an der Küste von Attika."

So weit die Antwort von Hölderin!

Zitate aus: Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland, in: Ders.: Gesammelte Werke, Gütersloh 1955 (Bertelsmann), hier: S. 386 ff

Donnerstag, 15. August 2013

Karl Popper und die Philosophie als aufgeklärter Alltagsverstand


Karl Popper ist Begründer und Hauptvertreter des sogenannten Kritischen Rationalismus. Popper sieht in der menschlichen Vernunft einerseits unverzichtbares Hilfsmittel des Erkennens und Handelns, andererseits betont er zugleich deren Fehlbarkeit. Wissenschaftliche Theorien zeichnen sich nach Popper dadurch aus, dass sie durch Erfahrung überprüft und widerlegt werden können. Daher ist nicht Beweisbarkeit, sondern „Falsifikation“, also Widerlegbarkeit, für Popper das Kennzeichen der Wissenschaft.

Karl Raimund Popper (1902 - 1994)

So wie der Versuch, absolute Wahrheiten zu erkennen zum Scheitern verurteilt ist, so werden auf dem Gebiet der praktischen Philosophie die politische Utopien, die auf eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft abzielen, von Popper als undurchführbar und inhuman kritisiert. Die von Popper entwickelte politischer Philosophie der „offenen Gesellschaft“ beruht demgegenüber – ausgehend von der fundamentalen Bedeutung von Freiheit und Kritik – auf einem schrittweisen Umbau der Gesellschaft.

Grundlegend wird Popper kritischer Rationalismus auch in seiner Auffassung vom Wesen der Philosophie, die er in dem Aufsatz „Wie ich die Philosophie sehe“ veröffentlichte.

Gleich zu Beginn seiner Gedanken stellt Popper unmissverständlich fest, dass Philosophie keine Sache einer Elite ist. Vielmehr geht er von der Prämisse aus: „Alle Menschen sind Philosophen. Auch wenn sie sich nicht bewusst sind philosophische Probleme zu haben, so haben sie doch jedenfalls philosophische Vorurteile.“ Die meisten dieser Vorurteile sind natürlich Theorien, die die Menschen aus ihrer geistigen Umwelt oder ihrer Tradition übernommen haben und die sie als selbstverständlich akzeptieren.

Alle Menschen sind Philosophen !!!

Diese Theorien sind Vorurteile in dem Sinne, „dass sie ohne kritische Prüfung vertreten werden“, obwohl sie natürlich von großer Bedeutung für das praktische Handeln der Menschen sein können. Dennoch ist eine „Rechtfertigung der Existenz der professionellen oder akademischen Philosophie, dass es notwendig ist diese weitverbreiteten und einflussreichen Theorien kritisch zu untersuchen und zu überprüfen.“

Jede Philosophie müsse also nach Popper mit den „unsicheren und oft verderblichen Ansichten des unkritischen Alltagsverstandes“ beginnen, wenngleich das Ziel der Philosophie schließlich der „aufgeklärte, kritische Alltagsverstand (ist), die Erreichung eines Standpunktes, der der Wahrheit näher ist, und der einen weniger schlimmen Einfluss auf das menschliche Leben hat.“

Popper warnt jedoch vor „Haarspaltereien“, wenn er schreibt: „Eine minuziöse, kleinliche Kritik kleinlicher Angelegenheiten, ohne Verständnis der großen Probleme der Kosmologie, der menschlichen Erkenntnis, der Ethik und der politischen Philosophie und ohne das ernsthafte und hingebende Bemühen, sie zu lösen scheint mir verhängnisvoll zu sein.“

Philosophen ...

Das Problem sieht Popper darin, dass große Ideen häufig unter einer Flut von Worten begraben werden – „Scholastik, im übelsten Sinne dieses Wortes, gibt es im Überfluss.“

Daher hat jeder Intellektuelle die Pflicht, „einfach und klar und in einer möglichst zivilisierten Art zu schreiben und weder die Probleme zu vergessen, die die Menschheit bedrängen und die neues, kühnes und geduldiges Nachdenken erfordern, noch die sokratische Bescheidenheit – die Einsicht dessen, der weiß, wie wenig er weiß.“

Im Gegensatz zu den minuziösen Philosophen mit ihren kleinlichen Problemen sieht Popper also die Hauptaufgabe der Philosophie darin, kritisch über das Universum und unseren Platz in ihm nachzudenken „sowie über die gefährliche Macht unseres Wissens und unsere Kraft zum Guten und zum Bösen.“
  
Zitate aus: Karl R. Popper: Wie ich die Philosophie sehe, in: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus 30 Jahren, München 1987 (piper), hier: 201ff 

Donnerstag, 8. August 2013

Karl Jaspers und der Ursprung der Philosophie

Karl Jaspers ist einer der Hauptvertreter der Existenzphilosophie, die das philosophische Denken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in Deutschland und Frankreich beherrschte. Das Grundanliegen dieser philosophischen Auffassung ist es, dem Menschen das volle Bewusstsein seiner Freiheit zu vermitteln.

Karl Jaspers (1883 - 1969)
Der Existenzialismus zeichnet sich dadurch aus, dass er einen bedeutsamen Unterschied zwischen „Existieren“ und „Sein“ zeichnet, zwei Begriffe, die zwei völlig verschiedene Dinge bezeichnen. Während Pflanzen nur „sind“, d.h. sich um ihre Existenz nicht zu kümmern brauchten, „existiert“ der Mensch, d.h. er muss aktiv sein Leben gestalten.

Existieren bedeutet letztlich, dass die Menschen die Freiheit haben, sich zu entscheiden – oder in den Worten von Jaspers: „Freiheit ist das ursprüngliche Wesen des Menschen.“ Aus der Freiheit selbst entscheiden zu können, leitet Jaspers nun die Pflicht zur  Selbstverwirklichung ab, d.h. die Fähigkeit des Menschen, sich Lebensziele zu setzen und diese zu verwirklichen zu versuchen: „Der Mensch ist das, was er aus sich macht.“

Auch der Ursprung der Philosophie bzw. des Philosophierens (beides ist eben nicht identisch!) wird von Jaspers existenzphilosophisch beschreiben.

Zwar ließe sich der historische Anfang der Philosophie als methodisches Denken relativ eindeutig auf das 5. Jh. v.u.Z. datieren, jedoch dürfe man den historischen Anfang nicht mit dem individuellen Ursprung gleichsetzen: „Der Anfang ist historisch und bringt für die Nachfolgenden eine wachsende Menge von Voraussetzungen durch die nun schon geleistete Denkarbeit. Ursprung aber ist jederzeit die Quelle, aus der der Antrieb zum Philosophieren kommt.“

Dieses Ursprüngliche wird für Jaspers auf dreifache Weise sichtbar: „Aus dem Staunen folgt die Frage und die Erkenntnis, aus dem Zweifel am Erkannten die kritische Prüfung und die klare Gewissheit, aus der Erschütterung des Menschen  und dem Bewusstsein seiner Verlorenheit die Frage nach sich selbst.“

Im Anschluss an Platon und Aristoteles ist auch für Jaspers der Ursprung der Philosophie das Staunen: „Denn die Verwunderung ist es, was die Menschen zum Philosophieren trieb“ (Aristoteles). Damit ist nun eine Bewegung angestoßen, die strenggenommen kein Ende kennt. Zunächst drängt das Staunen zur Erkenntnis: „Im Wundern werde ich mir des Nichtwissens bewusst. Ich suche das Wissen, aber um des Wissens selber willen, nicht `zu irgendeinen gemeinen Bedarf´.“

Es ist die Philosophie in ihrem Ursprung also nichts anderes als ein Erwachen, in dem sich ein zweckfreier Blick auf die Dinge, den Himmel und die Welt vollzieht. Ein zweckfreier Blick, in den auch die „Fragen: was das alles und woher das alles sei – Fragen, deren Antwort keinem Nutzen dienen soll, sondern an sich Befriedigung gewährt“, eingeschlossen sind.

Aus dem Staunen erwächst jedoch bald der Zweifel: „habe ich Befriedigung meines Staunens und Bewunderns in der Erkenntnis des Seienden gefunden, so meldet sich bald der Zweifel“, denn „bei kritischer Prüfung ist nichts gewiss.“

Der Zweifel ist zunächst den Erkenntniswerkzeugen geschuldet, denn sowohl unsere Sinne können uns täuschen, aber auch „unsere Denkformen sind die unseres menschlichen Verstandes. Sie verwickeln sich in unlösbare Widersprüche.“ Hier sei es gerade die Aufgabe der Philosophie, den Zweifel zu ergreifen, ihn radikal durchzuführen, entweder „mit der Lust an der Verneinung“ oder „mit der Frage, wo denn Gewissheit sei, die allem Zweifel sich entziehe und bei Redlichkeit jeder Kritik standhalte.“

12 Radiovorträge über Philosophie (1950)
So wird der Zweifel als methodischer Zweifel die Quelle kritischer Prüfung jeder Erkenntnis. Daher könne es nach Jaspers auch kein wahrhaftiges Philosophieren ohne radikalen Zweifel geben.

Schließlich führt der Zweifel in die Erschütterung des Menschen, „wenn ich meiner selbst in meiner Situation mir selbst bewusst werde.“ So wie der Stoiker Epiktet meinte, „der Ursprung der Philosophie ist das Gewahrwerden der eigenen Schwäche und Ohnmacht“, so müsse sich der Mensch auch Jaspers zufolge stets der eigenen menschlichen Lage vergewissern.

Diese menschliche Lage zeichnet sich nun dadurch aus, dass wir „immer in Situationen sind. Die Situationen wandeln sich, Gelegenheiten treten auf. Wenn sie versäumt werden, kehren sie nicht wieder.“ Jeder Mensch könne zwar an der Veränderung der Situation arbeiten, aber es gäbe Situationen, „die in ihrem Wesen bleiben, auch wenn ihre augenblickliche Erscheinung anders wird und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt: ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld.“

Diese Grundsituationen des menschlichen Daseins nennt Jaspers Grenzsituationen, also Situationen, „über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können. So ist es für das Gelingen (oder für das Scheitern) der Selbstverwirklichung von entscheidender Bedeutung, wie der einzelne Mensch mit den im Leben unvermeidlichen „Grenzsituationen“ umgeht.

Daher ist nach dem Staunen und dem Zweifel das Bewusstwerden dieser Grenzsituationen der tiefere, weil existentielle Ursprung der Philosophie.

Zitate aus: Karl Jaspers: Was ist Philosophie?, München 1980 (dtv)

Donnerstag, 1. August 2013

Sunzi und die Kunst des Krieges


„Der Krieg ist für jeden Staat ein Ereignis von großer Bedeutung. Er ist der Ort, der über Leben und Tod entscheidet, er ist der Weg, der das Überleben sichert oder in den Untergang führt. Unumgänglich ist es, ihn eingehend zu untersuchen.“

Sunzi (ca 544 - ca. 496 v. Chr.)
Das Buch „Die Kunst des Krieges“ von Sunzi ist der älteste erhaltene Traktat, der sich ausschließlich mit dem Phänomen des Krieges, seinen Strategien und Taktiken, seinen Regeln und Listen, seinen moralischen und politischen Implikationen, seinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen befasst.

Als wichtige philosophische Schrift wendet sich die „Kunst des Krieges“ schließlich viel weiter gefassten Themen wie der Beziehung zwischen Herrscher und Untertan und den Strukturen des menschlichen Zusammenlebens zu.

Insofern ist das Grundanliegen des Traktates nicht nur die Vermittlung militärischer Regeln, sondern vor allem auch die Warnung vor der Hydra des Krieges mit allen seinen wiederkehrenden Grausamkeiten.

So mag es zunächst überraschen, dass Sunzi zufolge List und Täuschung eine wichtige Grundlage jeder militärischen Strategie bilden sollen. Auch wenn der Begriff „List“ heutzutage vorwiegend negativ verwendet wird, so steht er ursprünglich für eine wichtige Tätigkeit des Verstandes und ist mit Wörtern wie lehren, lernen und leisten verwandt. So wie der „listenreiche Odysseus“ aufgrund dieser Fähigkeiten verehrt wurde, so werden auch List und Klugheit von Sunzi propagiert, weil sie die bewaffnete Auseinandersetzung überflüssig machen, also größeren Schaden abwenden können.

Das Bemühen um Verständnis ist immer auch der erste Schritt auf dem Weg zur Verständigung, dient also letztlich der Vermeidung und dem Abbau politischer wie auch militärischer Konflikte:

„Wer die Gedanken der vorliegenden Schrift genau studiert und mit abendländischen Vorstellungen vom Krieg als Vater aller Dinge (Heraklit) oder der unaufhaltsamen Eskalation der Gewalt bei Clausewitz vergleicht, wird in Meister Sun einen vergleichsweise menschenfreundlichen Theoretiker erkennen, der den Sieg am höchsten einschätzt, der ohne militärischen Einsatz errungen wird, der wiederholt vor der Zerstörung des gegnerischen Territoriums und der Vernichtung der feindlichen Truppen warnt und der jeden Krieg so bald wie möglich beendet sehen möchte“ (87f).

Sunzi lebte in der Zeit der ausgehenden Zhou-Dynastie, in der sogenannten Frühlings- und Herbstperiode (770 – 476 v.Chr.). Die gesamte Zhou-Zeit (1045 – 256 v.Chr.) lässt sich auch als „Zeitalter der Säkularisierung und Rationalisierung beschreiben, als eine allmähliche Abkehr von einer schamanisch-religiös bestimmten Weltsicht zu zunehmend von der Vernunft und dem Streben nach Zweckmäßigkeit geleiteten Verhaltensnormen“ (92). Die Suche nach neuen Wegen und Werten, mit denen die Herausforderungen einer sich rasch verändernden Welt gemeistert werden konnten, ist kennzeichnend für die Zeit, in der das Werk von Sunzi entstand.

Der Anfang des Traktates in einem klassischen Bambusbuch

Das Werk ist kurz und bündig geschrieben, denn Sunzi verzichtet auf lange Argumentationsketten und Begründungen und stellt seine Ansichten eher in der Form von Postulaten und Aphorismen dar. Der Traktat – bestehend aus knapp 6000 Schriftzeichen – ist in 13 Kapitel und 68 Thesen gegliedert:

    I. Die Bewertung der Lage
   II. Die Kriegführung
  III. Die Planung des Angriffs
  IV. Die Formation
   V. Die Schlagkraft
  VI. Die Leere und die Fülle (Schwächen und Stärken)
 VII. Das Gefecht
VIII. Die neun Wechselfälle (taktische Varianten)
  IX. Der Marsch
   X. Die Beschaffenheit des Geländes
  XI. Der Angriff mit Feuer
 XII. Der Einsatz von Spionen

Sunzi ist fest davon überzeugt, dass der Erfolg der militärischen Absichten unweigerlich eintritt, wenn die notwendigen Voraussetzungen sorgfältig genug erfüllt werden: „Der Sieg ist machbar.“

Der Krieg wird in erster Linie nicht als eine materielle, sondern eine intellektuelle Herausforderung beschrieben, deren erste bereits darin besteht, den bewaffneten Kampf, wenn es irgend geht, zu vermeiden.

„Daher ist nicht derjenige der Inbegriff der Tüchtigkeit, der in hundert Schlachten hundert Siege erringt, sondern derjenige, der sich die Truppen des Gegners ohne Kampf unterwirft“ (Kap. III).

Der Ausbruch von bewaffneten Kampfhandlungen ist für Sunzi immer nur ultima ratio, die erst dann legitim wird, wenn alle anderen Mittel versagt haben. Nüchternheit und Besonnenheit werden damit zu den vordringlichsten Qualitäten des Herrschers und Feldherrn.

Im Kampf ist stets die schnelle Entscheidung zu suchen: „Dass ein Staat Nutzen aus einem langwierigen Kampf gezogen hätte, ist noch nie dagewesen“ (Kap. II).

Das Ziel des Kampfes ist nicht die Vernichtung und Zerstörung des Feindes, denn dies würde nicht zuletzt den Wert der Kriegsbeute verringern. Entscheidend aber ist, dass der Feind von heute ein potentieller Verbündeter von morgen sein kann. So habe sich der Feldherr stets vom Prinzip der Unversehrtheit (quan) leiten zu lassen.

Besonderer Wert – und auch darin zeigt sich die Idee vom intellektuellen Charakter des Krieges – hat für Sunzi auch die militärische Aufklärung. Die Beschaffung der notwendigen Informationen mittels des Einsatzes von Spionen nimmt hier großen Raum ein, ohne dass dabei Skrupel erkennbar sind, denn: „Wer sich in der militärischen Aufklärung Versäumnisse zuschulden kommen lässt, wird sogar als `Ausbund an Unmenschlichkeit´ bezeichnet, denn die Folgen dieser Versäumnisse sind unnötige Verluste an Menschenleben und vermeidbare Niederlagen“ (115).

Gleich im Eingangskapitel werden fünf Qualitäten als Anforderungen an einen tüchtigen Feldherren genannt: „Die Führung verkörpert Weisheit, Glaubwürdigkeit, Menschlichkeit, Tapferkeit und Strenge“ (Kap. I). Auch hier zeigt sich der rationale Grundton des Werkes, das die Weisheit an die erste Stelle rückt, weit vor der eher martialischen Tugend der Tapferkeit.

Die Kunst des Krieges

In dem Maße, in dem Sunzi die kühle Umsicht verehrt, verabscheut er jede Art von ungezügelten Gefühlen. Weil diese allzu häufig ins Verderben führen, darf sich der Herrscher oder Feldherr nicht von Zorn oder Rachsucht leiten lassen: „Der Zorn kann nämlich wieder in Freude umschlagen und die Rachsucht sich in Wohlgefallen verkehren, doch ein untergegangenes Reich kann nicht wiederbelebt werden, und die Toten können nicht wieder auferstehen“ (Kap XII).

Gleichwohl ist auch bei Sunzi der Stratege der Herr einsamer Beschlüsse, der seine Pläne den Soldaten gegenüber geheim hält. Sie bleiben Figuren auf dem Schachbrett, die von einem übergeordneten Kopf geführt werden: Um den richtigen Zeitpunkt für das eigene Handeln zu bestimmen, ist die genaue Beobachtung der Natur und die Besonderheiten der Jahreszeiten ebenso von allergrößter Wichtigkeit, wie die Kenntnis der menschlichen Psyche.

Selbstverständlich kennt auch Sunzi angesichts der unendlichen Vielfalt möglicher Konstellationen kein Patentrezept, das den Sieg in jeder Situation sicherstellt, doch zeigt er sich überzeugt, dass am Ende derjenige die Oberhand behält, der sich auf die natürlichen Gegebenheiten eingestellt hat: „Die Formation des Wassers meidet die Höhe und strebt in die Tiefe, und siegreich bleiben die Truppen, indem sie die Fülle meiden und in die Leere stoßen. Das Wasser nimmt seinen Lauf ganz nach der Beschaffenheit des Geländes, die Armee erringt ihre Siege ganz in der Einstellung auf den Gegner“ (Kap. VI).

Fast alle Beobachtungen und Anweisungen für angemessenes Handeln sind Sunzi zufolge nicht auf das militärische Handwerk beschränkt, sondern lassen sich problemlos auch auf allgemeine menschliche Handlungsmuster übertragen. Insofern kann man den Traktat eben auch als zeitloses philosophisches Werk lesen.

„Wer den Gegner kennt und sich selbst, wird in hundert Schlachten nicht in Not geraten“ (Sunzi, Die Kunst des Krieges, Kap III).

Es gehört in diesem Zusammenhang zu den großen zivilisatorischen Leistungen Chinas, das Primat des Zivilen (wen) über das Militärische (wu) zu stellen und so die politische Kontrolle über den Krieg bewahrt zu haben. Der Krieg wurde nicht als Norm, als Normalfall verstanden, sondern als Normverletzung, als letztes Mittel, wenn alle denkbaren politischen Maßnahmen nicht mehr griffen. Eine Verherrlichung militärischer Heldentaten findet sich in der chinesischen Literatur daher eher selten.

Der Zweck des Krieges liegt demzufolge nicht in der Zerstörung des Gegners, sondern in der Beendigung der Kämpfe und der Wiederherstellung der Ordnung.

Zitate aus: Sunzi: Die Kunst des Krieges, Aus dem Chinesischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. 2009 (Insel Verlag)