Donnerstag, 19. Dezember 2013

Sascha Tamm und die Sündensteuern

In letzter Zeit mehren sich die Anzeichen dafür, dass immer mehr Staatsführungen in den westlichen Demokratien sich zunehmend selbst als Super Super Nanny sehen und auch dementsprechend von den Bürgerinnen und Bürgern als Super Super Nanny wahrgenommen, verehrt und geliebt werden wollen.

Für Horst Wolfgang Boger, Herausgeber des Sammelbandes „Der Staat als Super Super Nanny“ jedenfalls steht fest: „Unser Staat sieht gut aus, unser Staat ist super-empathisch, unser Staat ist super-sympathisch, unser Staat denkt niemals an sich selbst, unser Staat weiß auf alles die richtige Antwort, unser Staat ist fast göttinnengleich."

Ein besonders gutes Beispiel sind die „Sündensteuern“, mit denen sich Sascha Tamm in dem erwähnten Buch beschäftigt.

Die Super Super Nanny weiß, was gut für Dich ist!
Wir alle kennen die gutgemeinten Ratschläge: „Du sollst nicht rauchen, du sollst dich nicht an Glücksspielen beteiligen, du sollst dich nicht an alkoholischen Getränken berauschen. Sicher ließen sich noch einige andere Sünden nennen, die von vielen Menschen als schädlich angesehen werden.“

Während früher bestimmte Handlungen aus einer religiösen Perspektive als Sünden bezeichnet wurden, sind es heute eher Wissenschaftler und Politiker, die bestimmte Handlungen als gefährlich oder schädlich definieren. Statt jedoch mit Teufel und Höllenfeuer zu drohen, erhebt der Staat – zusätzlich zum Verbot bestimmter Handlungen oder Aktivitäten – sogenannte Sündensteuern, um die potentiellen Sünder an bestimmten Handlungen zu hindern – oder doch wenigstens ihre Häufigkeit zu verringern.

Die bekanntesten Beispiele für diese Sündensteuern sind Tabaksteuer und die die Branntweinsteuer (einschließlich der Alkopopsteuer):

„Unabhängig von der Bezeichnung sind überall auf der Welt die Argumente, die von den Befürwortern derartiger Steuern verwendet werden, sehr ähnlich. Sündensteuern werden auf den Kauf von bestimmten Waren oder Dienstleistungen erhoben, deren Nutzung als nicht erwünscht gilt. Der Staat will damit, so wird jedenfalls argumentiert, die Bürger vor den negativen Folgen des Konsums schützen.“

Dabei muss unterschieden werden zwischen zwei Typen von Sündensteuern. Im ersten Fall soll die Gesamtheit oder eine bestimmte Gruppe von Menschen vor den Folgen des Handelns anderer geschützt werden, wie das Beispiel der Mineralölsteuer zeigt: Hier ist „eine spezielle Handlung, also das Autofahren, oder genauer gesagt der Verbrauch von Benzin und die damit verbundene Umweltverschmutzung, nicht erwünscht und wird durch die Erhebung der Steuern sanktioniert. In diesem Fall lassen sich externe Effekte benennen, wie etwa die Umweltverschmutzung und die damit verbundene Schädigung anderer, die zur Legitimation der Steuern herangezogen werden können.“

Rauchen ist eine Sünde !

Im zweiten Fall sollen die Menschen davon abhalten werden, sich selbst zu schaden, also wenn z.B. „Raucher, Spieler, Trinker oder – wie für die Zukunft nicht auszuschließen ist – die Anhänger von fetten oder süßen Speisen vor sich selbst geschützt werden sollen.“

Hier handelt es sich um Sündensteuern im engeren Sinne. „Sie werden unterstützt von einer breiten Propaganda gegen bestimmte Verhaltensweisen, die sich auf wissenschaftliche Aussagen über die Schädlichkeit verschiedener Verhaltensweisen beruft.“

Nun ist die Frage, ob ein Staat wirklich berechtigt ist, Sündensteuern zu erheben. Sorgt er damit wirklich für das das Wohl seiner Bürger? Darf der Staat ein Verhalten sanktionieren, das vor allem dem Handelnden selbst schadet – oder von dem zumindest behauptet wird, dass es ihm schade?

Es gehört selbstverständlich zu der Kernaufgabe des Staates, Handlungen zu verhindern oder zu bestrafen, die andere schädigen. Aus liberaler Perspektive jedoch, „die sich strikt an dem Vorrang des Schutzes von Freiheit und Eigentum jedes einzelnen Menschen orientiert, sind Sündensteuern nicht zu legitimieren. Sie widersprechen nicht nur dem Prinzip einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, sondern haben zum Ziel, den Menschen einen bestimmten Lebensstil aufzuzwingen oder doch wenigstens starke Anreize für ein bestimmtes Verhalten zu setzen.“ Letztlich maßt sich der Staat an, ein größeres Wissen als seine Bürger zu besitzen für die Suche nach Glück oder für die besten Verwendungsmöglichkeiten ihres Eigentums.
 
Die Super Super Nanny und der Zwang zu einem bestimmten Lebensstil

Natürlich darf es private Initiativen geben, die Aufklärungsarbeit über die Folgen des Rauchens leisten können. Natürlich wird nicht behauptet, dass es vernünftig oder sinnvoll ist zu rauchen. Natürlich darf eine öffentliche Debatte zum Rauchen oder zum Alkoholgenuss oder zum Glücksspiel stattfinden – gerade weil sich Urteilsvermögen und Entscheidungsfähigkeit sich vornehmlich in dieser Debatte entwickeln.

Doch all dies ist für die politische Diskussion irrelevant: „Das Recht, sich selbst zu schädigen oder etwas zu tun, was alle anderen für voll kommen unsinnig und falsch halten, gehört zum Kern des Liberalismus“

Die Durchsetzung bestimmter Werturteile mit staatlicher Zwangsgewalt entwertet ja gerade individuelle Urteile und öffentliche Debatten. „Gerade diejenigen, für die Werturteile und moralische Prinzipien große Bedeutung haben und die selbst über starke Überzeugungen verfügen, müssen deren staatliche Durchsetzung strikt ablehnen, weil sie durch sie entwertet werden.“

Staatliches Handeln ist also nur dann legitimiert, wenn durch eben dieses Handeln die Einen daran gehindert werden, die Anderen in ihren Freiheitsrechten einzuschränken oder ihnen auf andere Weise Schaden zuzufügen. Dies wiederum soll in einer Weise geschehen, dass das staatliche Handeln wiederum die Freiheitsrechte aller so wenig wie möglich eingeschränkt. Das trifft auf Sündensteuern nicht zu:

„Hier wird in ganz individuelle Entscheidungen eingegriffen, die andere nicht betreffen. Die negativen Folgen für eine freiheitliche Ordnung sind groß. Indem der Staat versucht, das Handeln der Menschen zu steuern, nimmt er ihnen etwas von ihrer Verantwortung. Er nimmt ihnen Entscheidungen ab (oder beeinflusst sie doch in eine bestimmte Richtung). Damit leistet er einer Tendenz Vorschub, die in modernen Wohlfahrtsstaaten selbstzerstörerisch wirkt: Die Menschen vertrauen ihrem eigenen Urteilsvermögen, ihren eigenen Entscheidungen immer weniger.“

Das Beispiel der Sündensteuern demonstriert auf einfache Weise, wie staatliches Handeln von individuellen Entscheidungen entwöhnt.

Ein weiteres Argument, das von den Verteidigern der Sündensteuern immer wieder ins Feld gebracht wird, betrifft die externe Effekte der sündigen Handlungen, die es zu kompensieren gilt: „So werden z.B. im Zusammenhang mit den gesundheitlichen Folgen des Rauchens oft auch die Kostenbelastung für das Gesundheitssystem oder die volkswirtschaftliche Belastung durch den Arbeitsausfall genannt.“

Zielwiderspruch: Je weniger Sünder, desto geringer die Staatseinnahmen.
Diese Argumentation enthält gleichwohl einen unauflösbaren Zielwiderspruch: „Einerseits soll ein bestimmtes Konsumverhalten sanktioniert werden. Das Ziel besteht also darin, etwa den Tabakkonsum zu reduzieren. Dem gegenüber steht das Interesse des Staates an der Maximierung der Einnahmen aus den Sündensteuern. Die Sündensteuern leisten z.B. in Deutschland einen relevanten Beitrag zur Finanzierung des Staatshaushaltes (…) Wenn also die Bürger weniger „sündigen“, sinken die Staatseinnahmen.“

Wenn also das vorrangige Ziel der Sündensteuern darin besteht, Kosten zu verringern, dann muss diese Argumentationsschiene auch konsequent zu Ende geführt werden: Wenn wir also davon ausgehen, dass Raucher über ihre Lebenszeit hinweg höhere Kosten im Gesundheitswesen verursachen, dann stellen sich mindestens zwei Fragen:

„1. Entstehen vielleicht durch Raucher an anderer Stelle geringere Kosten, so z.B. im Rentensystem? 2. Liegt das wesentliche Problem nicht darin, dass unser staatliches Gesundheitssystem (vermeidbare) Risiken nicht dem Einzelnen zuordnet, sondern allen Versicherten und außerdem allen Steuerzahlern? Die Antwort auf beide Fragen lautet „Ja“. Dass z.B. Raucher eine geringere durchschnittliche Lebenserwartung als Nichtraucher haben, ist in der Wissenschaft allgemein anerkannt. Sie erhalten also, bei ansonsten gleichen Parametern, geringere Auszahlungen aus der Rentenkasse als Nichtraucher.“

Die Antwort auf die zweite Frage könnte darin bestehen, dass sich in einem an individualisierten (privaten) Versicherungen orientierten System ohne Zweifel Bewertungen für bestimmte systematische Gesundheitsrisiken ergeben würden. Das gilt selbstverständlich nur bei den Risiken, die allein vom Verhalten des Einzelnen abhängen, also nicht etwa bei Erbkrankheiten.

Auf diese Weise gäbe es durchaus finanzielle Anreize, die bestimmte Konsumgewohnheiten sanktionieren bzw. belohnen.

Solange Menschen „für die Risiken, die mit ihren eigenen Handlungen verbunden sind, nicht oder jedenfalls nicht vollständig aufkommen müssen, wenn also die Risiken nicht mit dem richtigen Preisschild versehen sind, so werden viele Menschen übergroße Risiken auf sich nehmen, die dann im aktuellen System von allen getragen werden müssen. Es geht wohlgemerkt nur um die finanziellen Risiken – das erhöhte Krankheits- und Todesrisiko hat ohnehin jeder selbst zu tragen.“

Entscheidend ist, dass sich hier der Staat nicht einmischen darf: „Es ist durchaus legitim, dass Menschen den Genuss des Rauchens höher einschätzen als ein paar zusätzliche Lebensjahre (…) Irgendetwas anderes vorauszusetzen würde heißen, dass der einzelne Mensch in irgendeiner Weise Eigentum der anderen Menschen oder des Staates ist.“
  

Zitate aus: Sascha Tamm: Sündensteuern, in: Horst Wolfgang Boger (Hg.): Der Staat als Super Super Nanny, Berlin 2008 (liberal Verlag GmbH), S. 105ff.

Donnerstag, 12. Dezember 2013

Horst Wolfgang Boger und der Staat als Super Super Nanny

"Die Super Nanny" war eine Sendung des TV-Senders RTL, in der die Diplom Pädagogin Katharina Saalfrank Familien in Erziehungsfragen beriet. Das Originalformat stammt aus Großbritannien. In Deutschland lief die Sendung seit der Erstausstrahlung am 19. September 2004 bis ins Jahr 2011.

Jede Sendung verlief nach dem gleichen Grundmuster: „Die Super Nanny Katia Saalfrank, besucht Familien in Not, sie bleibt einige Tage, spricht system-pädagogische Sätze (was immer genau das heißen mag), die wahre und vor allem nachhaltige Wunder wirken, und sucht dann die nächste Familie in ihrem Heim auf.

“Off with her head“ (John Tennier - "Alice im Wunderland")
Die Super Nanny sieht gut aus, die Super Nanny ist super-empathisch, die Super Nanny ist super-sympathisch, die Super Nanny denkt niemals an sich selbst, die Super Nanny weiß auf alles die richtige Antwort, die Super Nanny ist fast göttinnengleich.“ In dem Sammelband von Horst Wolfgang Boger wird die Idee der Super Super Nanny nun von der Pädagogik auf die Politik, genauer auf den Staat übertragen.

Boger stellt fest: „Keine Frage: Unser Staat, genauer: die Staatsführung samt dem bürokratisch-administrativen Appendix, sieht sich selbst als Super Nanny und möchte dementsprechend auch von den Bürgerinnen und Bürgern als Super Nanny wahrgenommen, verehrt und geliebt werden. Unser Staat sieht gut aus, unser Staat ist super-empathisch, unser Staat ist super-sympathisch, unser Staat denkt niemals an sich selbst, unser Staat weiß auf alles die richtige Antwort, unser Staat ist fast göttinnengleich.“

Nach Boger unterscheidet sich der Staat in mindestens zwei Punkten erheblich von der Super Nanny. Während, erstens, die Super Nanny nur einige Tage bleibt, schenkt uns der Staat „von der Wiege bis zur Bahre“ nicht nur Formulare, sondern bleibt uns als Beraterin, als Erzieherin, vor allem aber als (teuer entlohnte) Vormündin erhalten. Seine prätendierten fachlichen Kompetenzen nehmen zu, seine juridischen ebenso.

Der Staat als Super Super Nanny

Die Super Nanny kann, zweitens, ihre segensreiche Wirkung nur dann entfalten, wenn die Familie in Not ihr Einlass gewährt, unser Staat dagegen sagt wie der Igel zum Hasen „Ick bün al dor!“, womit er völlig recht hat. Denn der Staat ist immer schon da und dies an immer mehr Orten.“

Für Boger ist die staatliche Super Nanny also eher eine „Super Super Nanny.
  • Sie sagt uns, wie wir zu denken, zu sprechen und zu forschen haben.
  • Sie sagt uns, was wir fragen und nicht fragen dürfen.
  • Sie sagt uns, wie wir uns zu ernähren und zu bewegen haben.
  • Sie wacht darüber, dass wir niemanden bevorzugen oder benachteiligen.
  • Sie achtet darauf, dass auf allen Hierarchie-Ebenen, vorzugsweise den oberen, strengste Geschlechterdemokratie obwaltet.
  • Sie sagt schließlich den Schampus-, Zigarren-, Musik-, Kino- oder Tanzsündern, dass sie sich durch Ablasszahlungen (einfühlsam und system-pädagogisch „Steuern“ genannt) ihrer Schuld entledigen können – und müssen.“
Die Folgen ...
Natürlich könne sogar eine Super Super Nanny all diese Aufgaben nicht allein bewältigen. Die notwendige Unterstützung erhält der Staat daher von eifrigen Nichtregierungsorganisationen, „die wie Super-Musterkinder unablässig und unermüdlich supererogatorische Leistungen erbringen, indem sie uns unablässig darauf hinweisen, dass mehr als 1 mg Acrylamid (pro Kilogramm) in Knäckebrot, Pommes Frites, Lebkuchen, Kartoffelchips und Kaffee enthalten sind, indem sie uns sagen, was genau wir in unsere Einkaufswagen packen und packen sollen, aus welchen Hölzern unsere Bleistifte zu bestehen haben, und darüber wachen, dass wir genügend Dihydrogenmonoxid zu uns nehmen (auch wenn wir keinen Durst haben), und darauf acht geben, dass unsere Sprache weder patriarchalistisch, sexistisch, ethnizistisch, eurozentrisch noch militaristisch ist.“


Im Gegenzug bekämen diese Super-Musterschüler „viele Gutpunkte und vor allem viel Geld aus dem Portemonnaie der Super Super Nanny, Geld, das allerdings nicht von der Bank, sondern aus den Portemonnaies von uns Dauermündeln stammt.“

Das Erschreckende ist dabei, dass ein großer Teil der Dauermündel sich durchaus wohl zu fühlen scheint. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das schon Immanuel Kant vor mehr als 220 Jahren konstatiert hatte:

„Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.

Immanuel Kant
Daß der bei weitem größte Teil der Menschen ... den Schritt zur Mündigkeit, außer dem, daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen.

Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einige Mal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab.“

Natürlich konnte Immanuel Kant die Super Nanny noch nicht kennen Die Frage ist aber: „Wollen und sollen wir tatsächlich hinter Kant zurück fallen?“


Zitate aus: Horst Wolfgang Boger (Hg.): Der Staat als Super Super Nanny, Berlin 2008 (liberal Verlag GmbH) - Weitere Literatur: Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: Immanuel Kant: Was ist Aufklärung. Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, Kleine Vandenhoeck-Reihe, Göttingen 1994 (Vandenhoeck und Ruprecht), S. 55-61.



Donnerstag, 5. Dezember 2013

Paul Feyerabend und die freie Gesellschaft

Paul Feyerabend (1924 - 1994)
Kaum ein Philosoph des späten 20. Jahrhunderts hat mehr provoziert und mehr Kontroversen ausgelöst als Paul Feyerabend. Mit seinem Hauptwerk Wider den Methodenzwang (1975) forderte er das traditionelle Wissenschaftsverständnis heraus, indem er alle Methoden der Erkenntnisgewinnung, einschließlich der nicht-wissenschaftlichen, für gleichermaßen legitim, erklärte.

Feyerabend trat aber nicht nur für einen Pluralismus der Methoden, sondern auch für eine gleichberechtigte Vielfalt von Weltdeutungen ein. Jede kulturelle Tradition sollte gleichen Zugang zu den Erziehungs- und Bildungsinstitutionen haben. Mit seiner These Anything goes schuf er einen bekannten Slogan, der auch in der Philosophie der Postmoderne aufgegriffen wurde.

Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stand stets das reife und mündige Individuum in einer freien Gesellschaft. In seinem Buch Erkenntnis für freie Menschen (1979) wendet sich Feyerabend nicht nur gegen das Denken in Kollektiven, sondern er warnt auch vor einer Entmündigung des Bürgers durch die Herrschaft der so genannten wissenschaftlichen Experten.

Vielfalt als Anything goes - eine nicht immer unproblematische Aussage

Feyerabend geht davon aus, dass in einer freien Gesellschaft jeder Mensch das Recht hat, zu lesen, zu schreiben und zu verteidigen, was immer er für gut hält. Er ist nicht nur für sein Denken, sondern gleichermaßen auch für sein Tun selbst verantwortlich: „Erkrankt ein Mensch, dann sollte er das Recht haben, nach seinen eigenen Wünschen behandelt zu werden, von Handauflegern, wenn er an das Handauflegen glaubt, von wissenschaftlichen Ärzten, wenn er der Wissenschaft größeres Vertrauen schenkt.“

Aber der Bürger habe nicht nur das Recht, seine eigenen Ideen zu haben, sondern er kann auch Vereine gründen, die seinen Standpunkt unterstützen. „Dieses Recht kommt dem Bürger aus zwei Gründen zu; erstens, weil jeder Mensch die Möglichkeiten haben muss, das zu verfolgen, was er für die Wahrheit und das richtige Verfahren hält; und zweitens, weil allein die Untersuchung und der Betrieb von Alternativen die Grenzen dessen ermitteln können, was man allgemein für die Wahrheit hält. Diese Gründe wurden von Mill in seinem unsterblichen Essay On Liberty erklärt. Es ist nicht möglich, seiner Argumente zu verbessern.“

Eine freie Gesellschaft sei eben eine Versammlung reifer Menschen und nicht eine Herde von Schafen, geführt von einer kleinen Gruppe von Besserwissern. Aber Reife liege auch nicht auf der Straße herum, sondern man muss sie lernen


Diese Reife lerne man, so Feyerabend weiter, wohl kaum in der Schule, sondern nur durch aktive Teilnahme an Entscheidungen. Reife ist mehr als Spezialwissen.

Die Wissenschaftler glaubten hingegen, dass es nicht Besseres gibt, als die Wissenschaften. „Aber die Bürger einer freien Gesellschaft können sich mit einem solchen frommen Glauben nicht zufrieden geben. Teilnahme von Laien an grundlegenden Entscheidungen ist daher geboten, selbst wenn eine solche Teilnahme die Erfolgsrate der Entscheidungen vermindern sollte.“


Feyerabend gibt zu, dass nur wenige Demokratien diesen Maßstäben genügen, „aber wenn sie es tun, dann leisten sie einen sichtigen Beitrag zu unserer Zivilisation.“

Zitate aus: Paul Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt a.M. 1980 (Suhrkamp), hier: 167ff