Donnerstag, 18. April 2024

Hannah Arendt und die Revolution

Im Februar 1965 beginnt die amerikanische Luftwaffe mit der Bombardierung von Nordvietnam. In den USA formiert sich langsam und öffentlich ein breiter Widerstand gegen den Krieg in Asien. An vielen Universitäten wird der Protest zum Widerstand. In Berkeley, wo die ersten Unruhen ausbrechen, hindern Studenten einen Zug mit Soldaten an der Weiterfahrt.

Doch die Kritik an der amerikanischen Politik in Vietnam ist nicht der einzige Grund für die Studentenunruhen. Es geht auch um Mitbestimmung an den Universitäten und um einen Protest gegen die Benachteiligung schwarzer Studenten.

Hannah Arendt (1906 - 1975)

Hannah Arendt, die seit 1955 mit Lehraufträgen in Berkeley betraut, verfolgt die Vorgänge in der Universätit mit großem Interesse. „In Berkeley“, so schreibt sie an ihren Freund und Mentor Karl Jaspers, „haben sie alles durchgesetzt, was sie wollten  – und können und wollen nun nicht abblasen; nicht aus Bosheit oder Verhetztheit, sondern einfach, weil sie Blut geleckt haben, was es heißt, wirklich zu handeln, und nun, da die Ziele erreicht sind, nicht wieder nach Hause wollen. Das ist sehr gefährlich, gerade weil es sich um etwas ganz Echtes handelt.“

Was dieses „ganz Echte“ ist und warum es auch „gefährlich“ sein kann, das hat Hannah Arendt in ihrem Buch „Über die Revolution“ beschrieben, das bereits 1963 erschien, also noch vor den Unruhen in Berkeley und anderen amerikanischen Universitäten.

Das Buch knüpft an ihr Werk „Vita activa oder: Vom tätigen Leben“ an. In diesem Werk ging es darum, was eigentlich Handeln bedeutet – im Gegensatz zum Arbeiten und Herstellen. Handeln ist für Arendt zuerst die Initiative zu ergreifen, zusammen mit anderen etwas Neues beginnen.

In ihrem Buch über Revolution führt sie den Gedanken weiter: Revolution ist gewissermaßen Handeln im großen Maßstab, das Ereignis, mit dem in der Geschichte eine alte Ordnung über Bord geworfen und ein neuer Anfang gewagt wird. Der Mut und die Begeisterung, etwas Neues anzufangen, wobei man eigentlich keine rechte Vorstellung davon hat, was dabei herauskommt, das ist für Hannah Arendt etwas Mitreißendes, dieses „ganz Echte“, eine elementare Erfahrung von Freiheit.

Arendt interessiert sich vor allem für die Frage, was aus diesem ersten spontanen Impuls wird. D.h., es geht darum, wie man verhindern kann, dass der revolutionäre Anfang in Chaos und Gewalt endet. Anders formuliert: Wie kann man Einrichtungen und Absicherungen schaffen, um diesen Impuls zu erhalten und ihn zu stabilisieren?

„Hannah Arendt beantwortet diese Fragen anhand der zwei wohl bekanntesten Revolutionen in der Geschichte: der Französischen Revolution und der Amerikanischen Revolution. Diese zwei historischen Ereignisse sind für sie Musterbeispiele dafür, wann eine Revolution glücken kann und wann sie missglücken muss.“

Für Arendt ist offensichtlich, dass die Französische Revolution einen Verlauf zeige, der ab einem bestimmten Punkt von der ursprünglichen Richtung abweicht. „Dieser Punkt war erreicht, als es den gemäßigten Girondisten nicht gelang, eine neue Verfassung durchzusetzen, und die radikalen Jakobiner die Befreiung der Massen von Not und Leid zum obersten Ziel machten. „Die Republik? Die Monarchie? Ich kenne nur die soziale Frage“, rief Robespierre aus.

„Eben mit dieser neuen Fragestellung, so Hannah Arendt, habe sich die Revolution zum Scheitern verurteilt. Jetzt wurde das Mitleid mit dem Volk, mit den Unglücklichen und Notleidenden zur politischen Tugend.“ Mitleid aber ist für Hannah Arendt jedoch nur gegenüber einem einzelnen Menschen möglich. Gegenüber einer Masse wird es abstrakt und wirkt sich politisch verheerend aus. „Das Elend eines ganzen Volkes sprengt sozusagen das Fassungsvermögen des Mitleids und es neigt dann dazu, dieses maßlose Unglück auch mit maßlosen Mitteln abschaffen zu wollen, sprich mit Gewalt.“ So kommt es zu dem merkwürdigen Paradox, dass jemand aus Menschenliebe und Mitleid bereit ist, über Leichen zu gehen.

Französische Revolution: Der Terror als Herrschaftsmittel

„`Immer wieder´, schreibt Hannah Arendt, `war es die Maßlosigkeit ihrer Emotionen, welche die Revolutionäre so seltsam unempfindlich für das faktisch Reale und vor allem für die Wirklichkeit von Menschen machte, die sie immer bereit waren, für die Sache oder den Gang der Geschichte zu opfern.´“ Diese „emotionsgeladene Unempfindlichkeitentsteht dann, wenn das Handeln von Wut geleitet wird und wenn das Ziel nicht mehr Freiheit ist, sondern „die schiere Wohlfahrt und das Glück“ .

Die Amerikanische Revolution dagegen ist in den Augen von Arendt ganz verlaufen. In ihr spielte die soziale Frage so gut wie keine Rolle, weil das Land reich war und eine Massenarmut und wirkliches Elend wie in Frankreich nicht kannte. „Der `Fluch der Armut´, so Hannah Arendt, lag für die amerikanischen Revolutionäre nicht nur in der materiellen Not, sondern auch in der `Dunkelheit´, nämlich darin, dass man `von dem Licht der Öffentlichkeit ausgeschlossen ist´“.

Dementsprechend lag den Gründervätern der USA alles daran, Einrichtungen zu schaffen, die es so vielen wie möglich erlauben sollten, an der Meinungsbildung mitzuwirken. „Statt dem ominösen `Willen des Volkes´, auf den sich die französischen Revolutionäre beriefen und der im Grunde nur ein Freibrief für Willkür war, gab es in Amerika Versammlungsstätten wie die `townhall meetings´, wo die einfachen Leute wirklich ihre Meinung äußern konnten. Statt Gewalt bildete sich auf diese Weise Macht, die auf einem gemeinsamen Willen beruhte.“

Das Aushandeln der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (John Trumbull) 

Nach Arendt war dabei eben der Grundgedanke, den revolutionären Aufbruch sozusagen immer wieder zu wiederholen. „Und das hing in erster Linie davon ab, ob und in welcher Weise es gelang, den Einfluss der Bürger auf die Politik zu erhalten. Die Repräsentation durch Abgeordnete sollte nicht nur ein bloßer Ersatz für die direkte Teilnahme des Volkes sein. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung schreibt Hannah Arendt: `Für eine vernünftige Meinungsbildung bedarf es des Meinungsaustauschs; um sich eine Meinung zu bilden, muss man dabei sein; und wer nicht dabei ist, hat entweder – im günstigsten Fall – gar keine Meinung oder er macht sich in den Massengesellschaften des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts aus allen möglichen, konkret nicht mehr gebundenen Ideologien einen Meinungsersatz zurecht.´“

Im Rahmen der Studentenproteste an den amerikanischen Universitäten kommt es zu Sit-ins und Teach-ins und auch Vorlesungen werden bestreikt. Hannah Arendt sympathisiert mit den Studenten, bleibt aber auch skeptisch. Für sie ist wichtig, dass der Protest nicht ausufert und nicht der `Mob´ die Führung übernimmt. Nach einer Veranstaltung gegen den Vietnam-Krieg, an der sie teilgenommen hat, schreibt sie an Karl Jaspers: “Alles außerordentlich vernünftig und unfanatisch. So überfüllt, dass man kaum durchkam. Niemand schrie, niemand hielt Reden, und das in einer Art Massenveranstaltung. Wirkliche Diskussion und auch Information. Sehr angenehm.” – eben ganz in der Tradition der amerikanischen Revolution bzw. ganz im Stile der Townhalls!

 

Zitate aus: Alois Prinz: Hannah Arendt oder die Liebe zur Welt, Weinheim 2013 (Insel)

Donnerstag, 11. April 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 7

Fortsetzung vom 04.04.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. 

"Die Identitätspolitik ist dabei das Schwert der Moral, die Ikone des Moralismus wider die Vernunft. Sie bietet ihren Anhängern Orientierung und Sinn, natürlich auch Jobs, etwa mit Hilfe von Quotenregelungen (…), und vor allem einfache Antworten auf schwierige Fragen.

In Verbindung mit transatlantischer Werteorientierung (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte) entsteht hier ein wirkmächtiges gesellschaftliches Amalgam, der Anti-Machiavelli schlechthin. Nicht die Staatsräson zählt, nicht das nationale Interesse, auch keine `diskursive Ethik´– es gilt allein die eigene, zutiefst verinnerlichte, absolutistisch gesetzte Moral.

Diese Dynamik lässt sich Lüders zufolge vor allem bei den Grünen beobachten. „Die Grünen mögen sich als `postmaterialistisch´ verstehen, tatsächlich aber gehören sie zu den Bessergestellten und Privilegierten. Ihren Wohlstand missverstehen sie offenbar als quasi gottgegeben, als Lohn des eigenen, im Grundsatz richtig geführten Lebens, auf den man fast schon einen Rechtsanspruch zu haben glaubt. Doch über Geld zu verfügen, beantwortet nicht die Sinnfrage, die sich dem Einzelnen wie auch jeder Gruppe stellt. (…)

Die Grünen - Von friedensbewegten Idealisten zu Panzer-Fans (Der Spiegel)

Das Bekenntnis zur »Ökologie« reicht dafür nicht aus. Auf gesellschaftlicher Ebene gehen der digitale Wandel, die Globalisierung, die fortschreitende Individualisierung der Arbeitswelt (Homeoffice) einher mit dem Bedeutungs-verlust traditioneller identitätsstiftender Bezugsrahmen, darunter etwa Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Vereine. Begriffe wie `Nation´ oder `Religion´ erzielen in höhergestellten sozialen Milieus kaum noch Bindungswirkung. Auch die klassische Familie aus Vater, Mutter, Kind ist nur noch bedingt Refugium; sie konkurriert mit gender- und queerorientierten Lebensformen.

Gehen aber Gewissheiten verloren, ist das Tattoo am Ende identitätsprägender als jede überlieferte Bindung, offenbart sich darin ebenso ein Höchstmaß an Freiheit wie auch ein Krisensymptom. Eine Gesellschaft ohne kollektives Ich, ohne verlässliche Erzählungen, ohne Mythen, läuft Gefahr sich zu verlieren. Konsumismus und Hedonismus sind lediglich Ersatzhandlungen, Lückenfüller.

Hier nun kommt die Moral ins Spiel, wenn auch keine ethisch fundierte, sondern eine subjektiv begründete. Die berühmte Liedzeile `Erst kommt das Fressen, dann die Moral´ aus Brechts Dreigroschenoper könnte richtiger kaum sein. Das Wissen darum ist lediglich in den Hintergrund gerückt im (noch) reichen Deutschland. Wer im Schatten des Wohlstands lebt, erst recht in ärmeren Teilen der Welt, wird dagegen lauthals mitsingen.

Den Grünen ist das bemerkenswerte Kunststück gelungen, den emotional ansprechenden Begriff `Moral´ politisch umfassend zu besetzen und damit ein Angebot zur Identifikation in einer postmodernen Gesellschaft anzubieten, die sich ihrer selbst längst nicht mehr sicher ist. Praktischerweise gibt es hier kein Copyright – jeder kann unter `Moral´ verstehen, was er mag, wie es gerade gefällt oder nützlich erscheint.

Moral ist massentauglich. Wird sie dann noch in einen größeren Zusammenhang überführt, jenen der `Werte´, wird aus dem von Race & Gender inspirierten Gutmenschen leichtfüßig ein Ideologe, der sich eingebettet weiß in einen größeren, ebenfalls heiligen Gral aus Freiheit und Demokratie. (…)

Wir sind die Guten! Das ist das Angebot der Grünen an die Gesellschaft wie auch an sich selbst, darin überflügeln sie jede Konkurrenz. (…)

Die emotionale Selbstvergewisserung, die mit der Absage an das Böse einhergeht, ist nicht zu unterschätzen. Auch ich bin ein Guter! Mit diesem Kick stelle ich mich nach außen dar, gelingt mir der Brückenschlag zu Gleich-gesinnten, erfahre ich Anerkennung und Wohlwollen. Im Beruf, im Alltag, in den sozialen Medien.

Leider kann das süchtig machen: die Jagd nach solchen Glücksmomenten, nach Bestätigung. Die meisten Moralisten, einmal auf den Geschmack gekommen, suchen unbewusst den fortwährenden Applaus und landen früher oder später in einer narzisstisch umrandeten `Selbstbestätigungsfalle´.” (…)

Leider interessieren sich grüne Moralisten nur wenig für diejenigen, die den Preis für ihre Weltenrettung zu bezahlen haben. Grün zu sein, sich grün zu verorten bedeutet (noch), zu den Privilegierten zu gehören. In dem Maß, wie die gesellschaftlichen Verwerfungen in Deutschland zunehmen, dürften Kulturfragen mehr und mehr zum Gradmesser von `links´ oder `rechts´, von `oben´ oder `unten´ werden – wie in den USA seit langem schon zu beobachten. Plakativ gesagt: Der urbane Mittelstand wird auch weiterhin Lastenfahrrad fahren, sich gesund ernähren und auf seine Work-Life-Balance achten. Und gleichzeitig herabsehen auf die Malocher, die zu viel duschen, mehr Fleisch statt Gemüse essen, zu dick sind, sich zu wenig bewegen, die falschen Autos fahren und einfach nicht verstehen wollen, dass in der Ukraine auch unsere Freiheit verteidigt wird.”

“In letzter Konsequenz läuft das hinaus auf einen Klassenkampf der Besitzenden gegen die Habenichtse, die wirtschaftlich immer größere Mühe haben, sich über Wasser zu halten. Hier das privilegierte, autoritär-ökologisch gestimmte Oben, dort ein (Sub-)Proletariat, dem die `Stoppt das Russenzeugs´-Regierungslinie als Erstes um die Ohren fliegt. Je mehr Menschen arbeitslos werden und sich um ihre Zukunft betrogen sehen, nicht mehr wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, umso größer die Wut, umso stärker die Gegenbewegung. Menschen, die ihre Lebensweise brutal abgewertet sehen oder sich zu Recht als Verlierer einer Entwicklung begreifen, auf die sie keinen Einfluss haben, orientieren sich erfahrungsgemäß in Richtung Rechtspopulismus.

In den USA und einer Vielzahl europäischer Länder ist das längst geschehen, treten rechtspopulistische Volksparteien auf den Plan oder sind bereits an der Macht. In Deutschland vor allem wohl deswegen (noch) nicht, weil es diesem Land bislang, alles in allem, gut ergangen ist. Doch diese Zeiten sind vorbei, unwiderruflich wohl.

Nutznießer dieser Entwicklung muss nicht zwangsläufig die AfD sein. Gut vorstellbar, dass neue, ganz andere Bewegungen entstehen, auch ultra-nationalistische oder gewaltbereite im Stil der `Proud Boys´, die bei der Erstürmung des Kapitols in Washington im Januar 2021 eine führende Rolle spielten. Noch fehlt den `Patrioten´ hierzulande eine charismatische Führungspersönlichkeit à la Jörg Haider. Sobald ein solcher Anti-Habeck die Bühne betritt, wird die Zweiteilung der Gesellschaft zügig voranschreiten. Daran zu zweifeln besteht wenig Anlass. Entzünden dürfte sich die Auseinandersetzung auch und vor allem entlang kultureller Symbole, an den `unten´ zutiefst verhassten identitätspolitischen Glaubensgewissheiten, allen voran die Gendersprache.

Die herrschende Moralpolitik ist eine gefährliche Ideologie, weil die “Zweifel weder kennt noch zulässt – stehen die eigenen Gewissheiten doch für `42´, bekanntlich die Antwort auf alle großen Fragen der Menschheit in Douglas Adams’ Kultbuch Per Anhalter durch die Galaxis.

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023

 

Donnerstag, 4. April 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 6

Fortsetzung vom 28.03.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. 

Die politisierte Moral enthält einen totalitären Bodensatz, der letztlich eine Rück-kehr der Stämme in neuem Gewand bedeutet. Insbesondere in jenem der Identitätspolitik, dem neuen Label und Bannerträger eines missionarisch veranlagten Gutmenschentums.

Damit kein Missverständnis aufkommt. Nach Lüders gibt es Identitätspolitik im linken wie im rechten politischen Lager, unter Trump-Anhängern beispielsweise. “Meist ältere heterosexuelle Männer fordern für sich denselben `Milieuschutz´, dieselben Privilegien, die auch Frauen, Latinos, Schwarze oder Schwule für sich in Anspruch nehmen. Was letztendlich das ursprüngliche Anliegen von Identitätspolitik ad absurdum führt, da diese Bevölkerungsgruppe der »White Old Men« ein Hauptadressat ihrer Kritik war und ist. 

Das Pendant in Deutschland ist die »identitäre Bewegung«, ein Sammelbegriff für mehrere aktionistische, völkisch gesinnte Gruppierungen. Sie sehen in der `Islamisierung´ Europas eine Gefahr für die `Identität´ einer als ethnisch homogen wahrgenommenen `europäischen Kultur´.” Dabei ist “Kultur” niemals homogen, insbesondere wenn sie absurderweise auch noch in engen nationalen bzw. nationalstaatlichen Grenzen definiert wird.

Kulturelle Aneignung! - Verbieten oder "Eigne dir etwas an! Aber mach es gut!"  

Am wirkmächtigsten aber ist Identitätspolitik im (vermeintlich) linken Spektrum. “Ihre Bannerträger finden sich etwa in der Wissenschaft, im Kulturbetrieb, in den Medien, im Verlagswesen. Und natürlich in der Politik, in Deutschland am sichtbarsten bei den Grünen. Die Gruppenbildung erfolgt bevorzugt im theoretisierenden Umfeld von Race, Gender und Sexualität und ist hochgradig moralaffin (…) 

Der als progressiv anzusehende Impuls, bislang Marginalisierten Einfluss und Stimme zu verleihen, ist allerdings auf gutem Weg, sich zu überleben: Rassismus und sexuelle Diskriminierung werden in westlichen Gesellschaften längst sanktioniert. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist bei weitem nicht vollendet, doch schreitet sie unaufhörlich voran. Um nicht perspektivisch der Bedeutungslosigkeit anheimzufallen, bei der Verteilung von Macht und Ressourcen gar ins Hintertreffen zu geraten, erwuchsen der Identitätspolitik zwei neue, zugkräftige Stränge.

Zum einen die Fokussierung auf Gendersprache als Ausdruck korrekter Gesinnung, verbunden mit der Forderung, sie im öffentlichen Raum umfassend, wenn nicht verpflichtend zu verwenden. Und zum anderen die Geburt immer neuer Theorien, meist Sub- und Subsub-Strömungen der genannten Schwerpunkte Race, Gender und Sexualität (…).

Auch wer sich nie mit Identitätspolitik befasst hat, kennt doch ihre unmittelbaren Auswirkungen. In Gestalt von Gendersternchen, von Cancel Culture (Ausgrenzung missliebiger Personen, Gruppen, Fakten oder Meinungen mit dem Ziel, sie öffentlich mundtot zu machen oder zu tabuisieren) und Wokeness (»Wachheit«: im Ergebnis ein inquisitorisches Vorgehen gegenüber politisch als nicht korrekt empfundenen Haltungen, meist im Kontext von Race, Gender und Sexualität).

Auf dem Index hexenjagender Wachheit steht auch die `kulturelle Aneignung´, ein Sub-Thema von Race. Darf ein*e Weiße*r Rasta-Locken tragen oder zeugt das von falschem Bewusstsein und Neokolonialismus? Dürfen deutsche Museen afrikanische Artefakte ausstellen, gar besitzen oder dürfen das nur afrikanische Museen? Gegenfrage: Dürfen Deutsche Pizza essen? Chinesen Mozart spielen?

Identitätspolitik ist das Schwert der Moral, die Ikone des Moralismus wider die Vernunft. Sie bietet ihren Anhängern Orientierung und Sinn, natürlich auch Jobs, etwa mit Hilfe von Quotenregelungen (…), und vor allem einfache Antworten auf schwierige Fragen.

In Verbindung mit transatlantischer Werteorientierung (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte) entsteht hier ein wirkmächtiges gesellschaftliches Amalgam, der Anti-Machiavelli schlechthin. Nicht die Staatsräson zählt, nicht das nationale Interesse, auch keine `diskursive Ethik´– es gilt allein die eigene, zutiefst verinnerlichte, absolutistisch gesetzte Moral.

Fortsetzung folgt 

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023