Entscheiden sich Lehrkräfte in ihrer
Unterrichtspraxis für Instrumente des selbstständigen Lernens, wie z.B. dem Stationenlernen,
so sind sie zunächst davon überzeugt, im Prinzip alles richtig gemacht zu
haben. Schließlich haben sie sich für eine schüleraktivierende
Unterrichtsmethode entschieden und abwechslungsreiche Arbeitsmaterialien zusammengestellt.
Die Kinder haben gewöhnlich „Spaß am Lernen“ und sind „voll bei der Sache“,
nur: Was ist in solchen Stunden eigentlich „die Sache“?
Eine glückliche Lehrkraft ... im Prinzip alles richtig gemacht! |
Die Kinder halten zwar ausgefüllte
Arbeitsblätter und selbst gefertigte „Lern-produkte“ in den Händen, aber haben
sie etwas über deren technische Konstruktions-prinzipien verstanden? Haben sie
Transferfähigkeiten entwickelt?
Die starke Fokussierung auf Materialien in schülerzentrierten
Lernumgebungen führt letztlich zu einer Entwertung der Inhalte. So würden die
Materialien die inhaltliche Auseinandersetzung z.B. mit mathematischen oder
auch sprachanalytischen Aufgaben ersetzen, indem sie diese in ein System aus
Verrichtungen und Konventionen überführen.
Im Zuge dieser allgemeinen Formalisierung und
Entfachlichung erscheint individualisierter Unterricht daher tendenziell
„bildungsarm“. So würden die eigentlichen Ergebnisse der Arbeit geradezu zur
Nebensache werden. Bei der Arbeit mit den Lernmaterialien zeigen Schülerinnen
und Schüler häufig sich eine weitreichende und durchgängige Indifferenz
gegenüber den Inhalten bzw. Lernergebnissen.
Die Schülerinnen und Schüler würden entweder
vergessen, ihre Ergebnisse auf Korrektheit zu prüfen, sie gehen über Fehler
hinweg oder dass sie würden entdeckte Fehler schnellstmöglich beseitigen, ohne
deren Ursache nachzu-gehen.
Natürlich funktioniert die Arbeit mit Lösungsblättern
bei einigen Schülerinnen und Schülern gut, andere werden aber, statt die
Aufgaben selbst zu bearbeiten, bei anderen abschauen oder sich mit ihrem
Aufgabenblatt zur Tafel begeben, um die richtigen Lösungen zu übertragen.
Weder das selbstständige Lernen noch die
Verfahren der Selbstevaluation scheinen in der Praxis so zwanglos zu
funktionieren, wie es in den Ratgebern dargestellt wird.
Während früher die Anordnung und Kontrolle von
Abläufen im Unterricht in der Verantwortung der Lehrkraft lag, sollen dies nun
Kompetenzraster und Portfolios übernehmen. Letztlich wird hier ein Selbstzwang
zur kontinuierlichen Reflexion in den Lernprozess eingezogen.
An dieser Stelle zeigt sich besonders auffällig
die – zumeist ungewollte - Verbindung der reformpädagogischen Idee der
selbstständigen und interessegeleiteten Schülerinnen und Schüler mit dem
neoliberalen Modell des sich selbst managenden Subjekts.
Das sich selbst managende Subjekt, oder: Die Scheuklappe wird zur Methode! |
Die selbstständige Schüler kann und darf gar nicht mehr anders, als mitzumachen, sich permanent zu evaluieren und an seinem Kompetenzniveau zu arbeiten.
Wer sich diesem Optimierungsgebot nicht
unterwirft, hat im schülerzentrierten Unterricht mindestens genauso schlechte
Karten, wie im traditionellen Unterricht, wo die Selektionsfunktion bekanntlich
durch Fremdevaluation vonseiten der Lehrkraft gesteuert wurde.
Wenn Schülerinnen und Schüler nicht der Norm
des selbständig lernenden Schülers entsprechen, wenn sie also die in sie
gesteckten Erwartungen nicht erfüllen, wird ihr Verhalten häufig im Sinne von
Aufmerksamkeitsdefiziten und einem Mangel an Selbstkontrolle gedeutet und
pathologisiert. Dabei wird dann allerdings vollkommen ausgeblendet, dass das
selbständige Arbeiten im Unterricht sehr viele Ablenkungsmöglichkeiten biete
und deshalb von den Kindern eine besonders hohe Aufmerksamkeit abverlange.
Wer das selbständige Arbeiten also nicht
gewohnt ist oder Schwierigkeiten damit hat, sich längere Zeit zu konzentrieren,
hat in einem Unterricht, der Selbststeuerung zum Ausgangspunkt macht, das
Nachsehen. Das ist natürlich kein Argument für schnöden Frontalunterricht, der
vom Lehrervortrag und monotonen Übungsphasen dominiert wird. Aber es zeigt,
dass selbstständiges Lernen nicht einfach bei allen Kindern vorausgesetzt
werden kann, sondern dass einige mehr und andere weniger Anleitung und
Rückmeldung brauchen.
Falsch ist nicht die Idee, dass Kinder im Laufe
ihrer Schulzeit in zunehmenden Maße unabhängig werden, sondern die
Vorstellung, dass Kinder von Natur selbstständige Lerner sind und sich deshalb
die Funktion von Lehrkräften im Bereitstellen von interessanten Lernumgebungen
erschöpft. Doch genau dieser Eindruck wird in den Praxisratgebern zuweilen
vermittelt.
Bildung vollzieht sich nicht im Selbststeuerungsmodus ... |
Die Schule hat einen Erziehungs- und
Bildungsauftrag und der vollzieht sich eben
gerade nicht im Selbststeuerungsmodus.
Unterricht zu planen und durchzuführen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die Sachkompe-tenz voraussetzt: Die Lehrkraft muss profundes Wissen haben, um die Themen aus dem Bildungsplan zunächst inhaltlich auszugestalten. Danach wählt sie aus, welche Arbeitsformen und Materialen für die Entwicklung der avisierten Kompetenzen geeignet sind. Und schließlich entscheidet sie, wie Ergebnisse sinnvoll gesichert und überprüft werden können.
Unterricht zu planen und durchzuführen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die Sachkompe-tenz voraussetzt: Die Lehrkraft muss profundes Wissen haben, um die Themen aus dem Bildungsplan zunächst inhaltlich auszugestalten. Danach wählt sie aus, welche Arbeitsformen und Materialen für die Entwicklung der avisierten Kompetenzen geeignet sind. Und schließlich entscheidet sie, wie Ergebnisse sinnvoll gesichert und überprüft werden können.
Nur auf diese Weise läuft schulische Bildung nicht
Gefahr, Lernen mit Beschäftigtsein und Kompetenzerwerb mit dem Ausfüllen von Lückentexten
zu verwechseln.
Literatur: Nicole Vidal: Selbstgesteuertes Lernen. Ein fragwürdiges pädagogisches Konzept? SWR 2, Wissen, Aula, Sendung vom 30.09.2018
Literatur: Nicole Vidal: Selbstgesteuertes Lernen. Ein fragwürdiges pädagogisches Konzept? SWR 2, Wissen, Aula, Sendung vom 30.09.2018