Ausgehend von dem 2016 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Spielfilm “Ich, Daniel Blake” von Ken Loach, in dem ein wegen eines Herzinfarktes arbeitsunfähiger Zimmermann mit den britischen Sozialbehörden kämpft (… verliert), hält Harald Welzer in seinem Buch “Zeiten-Ende” ein flammendes Plädoyer für eine Gesellschaft, in der analoge Formen des Zusammenkommens erwünscht und möglich sind, in der Begegnungsräume des lebendigen Sozialen eröffnet und Orte anlassloser Vergeimschaftung geschätzt und gefördert werden.
Die Erosion des
Gemeinsamen ist für Welzer die vermutlich größte Gefahr für die Demokratie,
die individuelle Freiheit und den Rechtsstaat. Bedauerlicherweise ist die Würde des
Menschen heutzutage anfechtbar geworden, weil den Menschen – wie Daniel Blake
in dem Film – die würde erst genommen werden muss, um sie anschließend “gefügig für all den
Quatsch zu machen”, dem man im Alltag begegnet.
Daniel Blake: Den Menschen die Würde nehmen und sie dann gefügig machen ...
Ein Beispiel für diesen
“Quatsch”: “Wir alle hatten noch nicht eine Sekunde im Leben
Lust darauf, uns die Scheißmusik der entwürdigenden Warteschleifen anzuhören,
die es nur deshalb gibt, weil Unternehmen und Verwaltungen aus Gründen der
Kosteneffizienz die stetige Absicht hegen, Menschen schlecht zu behandeln.
Überhaupt, so zeigt das Beispiel der allgegenwärtigen Warteschleifen, geht der
Wunsch nach Kosteneffizienz prinzipiell damit einher, dass Menschen schlecht
behandelt werden.
Inzwischen dürfen Sie sich als Mensch nicht einmal mehr die Hoffnung machen, nach all der Scheißmusik und all den beschissenen Zwischenansagen (`Wussten Sie schon, dass Sie auch online…´) einen anderen Menschen sprechen zu können, sondern man mutet Ihnen zu, mit einem Bot, also einem Algorithmus zu kommunizieren. Als wären Sie ein kompletter Idiot. Und als wären Sie nicht einmal mehr das, müssen Sie bei Ihrem innigsten Wunsch, dafür zu bezahlen, dass Sie gerade als kompletter Idiot behandelt wurden, erst mal nachweisen, dass Sie `kein Roboter´ sind. Ich denke, man kann mit Sicherheit sagen, dass eine Kultur, die an diesem Punkt angekommen ist, keine Zukunft hat.”
Es ist für Welzer mehr als offensichtlich, dass man die Menschen zunächst möglichst weitgehend vereinsamen und voneinander isolieren muss, weil dies die Voraussetzung für die Maximierung von Effizienz, insbesondere mit Blick auf "das Digitale": “In Zeiten der Digitalisierung von Allem und Jedem gelingt dies in umfassendem Maße, und auch wenn die sogenannten sozialen Netzwerke in totalitären Staaten oft die Instrumente zur Organisation von Protest bilden, sind sie generell doch ein Mittel, die Menschen zu dissoziieren, von Vergemeinschaftung abzuhalten. Und sie algorithmisch in die berühmten Filterblasen einzusperren, in denen sie in perfekter Redundanz permanent gespiegelt bekommen, was sie ohnehin schon denken und glauben.”
Orte anlassloser Vergemeinschaftung: Markthallen |
Gerade mit Blick auf die Durchsetzung einer gebetsmühlenartig behaupteten erwünschten “digitalen Kultur” wäre in einer lebendigen Demokratie daran zu erinnern, “dass es die Gesellschaft ist, die den Gebrauch definiert, den sie von einer Technologie machen möchte. Und nicht die Technologie, die definiert, welchen Gebrauch sie von der Gesellschaft machen möchte.”
In diesem Zusammenhang sei an die permanente Belästigung durch Cookies, Updates, Erinnerungen, Hinweise und ständige Werbung erinnert, was das Prinzip der Entwürdigung so alltäglich macht, dass man seine Niedertracht gar nicht mehr bemerkt. Dazu gehören ebenfalls andere Nebenwirkungen der digitalen Transformation, z.B. “die dauernde Anforderung, sich mit all den vorgeblichen Innovationen, Disruptionen und Angeboten zur Verbesserung von irgendwas zu befassen, also eine dauernde Ablenkung. Und zum anderen die Dissoziation, also die Verhinderung von Vergemeinschaftung.”
Welzer setzt dagegen: Eine Demokratie braucht statt einer unbegrenzten Menge digitaler `Communities´ “vor allem analoge Formen des Zusammenkommens. Das ist die anlasslose Vergemeinschaftung. Sie bedeutet, zwanglos und ohne Angst vor persönlichen Unterschieden zusammenkommen zu können.” Es geht letztlich um die Schaffung von Orten der “Ausübung sozialer Aktivitäten, besser: der Einübung des Sozialen.”
“Für das lebendige Soziale muss es Gelegenheitsstrukturen geben – das Gartenfest, das Straßenfest, die Nachbarschaft, die Gemeinschaftsflächen in Mehrfamilienhäusern, die Schwimmbäder, das Theater, das Gemeindezentrum usw. (…) Was man dafür braucht, ist nicht so sehr technische Intelligenz, sondern soziale. Die hat ihren Wert nicht in sich, sondern findet ihren Maßstab in der Ermöglichung guten Lebens in der Zukunft.”
Orte anlassloser Vergemeinschaftung: Town-Hall-Meeting
Potenziale für die anlasslose Vergemeinschaftung - darunter Gemeinschafts-gärten, Flussschwimmbäder, Markthallen und Wochenmärkte – müssen in einer lebendigen Demokratie ebenso gefördert werden wie die Bereitstellung von öffentlichen Räumen (“Town-Halls”), in denen die gemeinsamen Angelegen-heiten - altgriechisch “ta politiká” – auch gemeinsam be- und ausgehandelt werden können.
Es gibt so viele “Formate der Assoziation jenseits von Kaufzwang, Mitgliedschaft und der berühmten `Vernetzung´: Menschen kommen zusammen aus dem einfachen Grund, dass es gut ist, zusammenzukommen. (…)
Man kann umgekehrt sagen: Je mehr Vergemeinschaftung durch Vereinzelung gefährdet wird, durch die Dissoziation der Menschen im Netz, durch (…) Finanzialisierung aller denkbaren Aktivitäten, desto mehr muss Sorge dafür getragen werden, dass es analoge Orte der lebendigen Begegnung gibt. Dazu gehören übrigens auch Kneipen, Kioske, Schützenfeste.
Bier gibt es nur analog, nie digital.”
Orte anlassloser Vergemeinschaftung: "Bier gibt es nur analog, nie digital!"
Zitate aus: Harald Welzer: ZEITEN ENDE. Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr, Frankfurt a.M. 2023 (Fischer)