Harmodios und Aristogeiton (Römische Marmorkopie, Archäologisches Museum Neapel) |
Harmodios und Aristogeiton ermorden den Tyrannen Hipparchos (Martin-von-Wagner Museum der Universität Würzburg) |
Harmodios und Aristogeiton (Römische Marmorkopie, Archäologisches Museum Neapel) |
Harmodios und Aristogeiton ermorden den Tyrannen Hipparchos (Martin-von-Wagner Museum der Universität Würzburg) |
Im Sekundentakt werden Nachrichten durchs Internet geschleust. Das bringt die Politik mit ihren langsamen Denk- und Entscheidungsprozessen in Zugzwang. Sie muss Lösungen finden, wie sie den "digitalen Menschen" überhaupt noch erreichen kann. Gleichwohl haben sich die ‚Spielregeln‘ des Kommunikationsbetriebs im Zuge der Digitalisierung dramatisch verändert und so stellt Ullrich Sarcinelli in seinem Beitrag für die Reihe SWR2-Wissen die Frage, was der Staat bei der Steuerung und Gestaltung der Kommunikationsverhältnisse heute tun könne.
Ulrich Sarcinelli (* 1949) |
Es gehöre daher zur staatlichen Verantwortung, die Voraussetzungen für eine Öffentlichkeit zu schaffen, die freie Meinungsbildung gewährleistet. „Das ist leichter gesagt als getan in einer Zeit, in der sich die Informationsinfrastruktur der alten liberalen Demokratie grundlegend verändert hat: durch digitale Plattformen, durch Medienunternehmen neuen Typs wie Google, Facebook, Youtube u.a.m. Dabei handelt es sich um privatwirtschaftlich organisierte Weltkonzerne, die sich zu international wirkmächtigen Meinungs-maschinen entwickelt haben.“
Diese „Suchmaschinen und Internetanbieter agieren nicht wie Post oder Telekom als neutrale Plattformen, sondern als Informationsanbieter, die Öffentlichkeit nach ihren eigenen Regeln und Normen herstellen. Vor allem mit den sogenannten Sozialen Medien sind neue Kommunikationsräume entstanden. Diese stellen eine Art publizistisches Paralleluniversum dar, das der alten – auf den klassischen Journalismus gestützten – Öffentlichkeit immer stärker die Agenda vorgibt. Das bedroht dann nicht nur massiv die ökonomischen Grundlagen der herkömmlichen Medien, sondern berührt auch die Frage nach der politischen Verantwortung für die Gewährleistung transparenter und freiheitlicher Kommunikationsverhältnisse. Vor allem darin liegt die große Herausforderung einer neuen Ordnungspolitik für den digitalen Kapitalismus.“
Der Grund dafür, warum sich der liberale Verfassungsstaat mit der Gestaltung der digitalen Kommunikationsverhältnisse so schwertut, liegt Sarcinelli zufolge darin, „dass das freiheitlich verfasste Gemeinwesen auf Machtbegrenzung setzt, auf Verantwortungsteilung und auf die rechtliche Sicherung individueller und kollektiver Freiheiten. Das betrifft nicht nur die Informations- und Meinungsfreiheit, sondern eben auch die Freiheit des Eigentums und der wirtschaftlichen Betätigung. Dies begrenzt ausgreifende Steuerungsfantasien, ersetzt aber nicht die Steuerungsverantwortung der Politik.“
„Die literarische Verarbeitung digitaler Horrorvisionen mag von der Wirklichkeit ziemlich weit entfernt liegen“, aber totalitäre Steuerungsfantasien im Stile von George Orwells `1984´ haben jüngst wieder ihren literarischen Ausdruck gefunden in dem dystopischen Digitalalptraum `Der Circle´ von Dave Eggers oder in Martin Burckhardts Roman `Score´, die einen fiktionalen Blick auf den sanften Totalitarismus im digitalen Zeitalter geben.
Dave Eggers: The Circle (2013): Totalitäre Steuerungsfantasien ... |
Der Blick in die fiktionale Literatur könne also durchaus für politische (Fehl-)Entwicklungen sensibilisieren. Schließlich zeige die Entwicklung in anderen Ländern, dass mit der Digitalisierung nicht unbedingt die Einlösung von Freiheitsversprechen einhergeht. „Denn es gibt bereits exportfähige Alternativen digitaler Herrschaft, die in Konkurrenz zum Modell westlich-liberaler Systeme stehen. Beispiel China.
In China wird ein solches Alternativmodell seit einigen Jahren erprobt – unter der verharmlosenden Bezeichnung `Sozialkreditsystem´. Es geht dabei um die Entwicklung von Werkzeugen für eine verbesserte Sozialkontrolle […]. Dahinter steckt eine enzyklopädische Datenerfassungsinfrastruktur, in der mittels künstlicher Intelligenz Informationsquellen (z.B. von Gerichten, Steuerbehörden, Banken, Krankenkassen, Verkehrsbehörden, sozialen online- Netzwerke etc.) bis hin zur Gesichtserkennung im öffentlichen Raum erfasst und zur Grundlage von Sozialbewertungen gemacht werden; etwa, wenn Informationen aus unterschiedlichsten Lebensbereichen – Zahlungsmoral, Einkaufsgewohnheiten, digitale Surf- und Kommunikationsgewohnheiten sowie das Sozialverhalten im Allgemeinen, im Straßenverkehr, bei der Arbeit, in der Schule, in der Freizeit – zu einem Persönlichkeitsprofil zusammengeführt werden. Konformität kann so mit verbesserter Kreditwürdigkeit, beruflichem Aufstieg oder besonderer Anerkennung belohnt und unerwünschtes Verhalten entsprechend sanktioniert werden.“
Diese Art von kybernetischer Politik laufe letztlich auf Verhaltenslenkung durch extensive Verwendung von Nutzerdaten hinaus. Die Bürger würden so zu Komplizen der eigenen Überwachung, eine besonders raffinierte Form daten-gestützter totalitärer Herrschaft.
Das chinesische Beispiel zeige mit erschreckender Deutlichkeit, dass es alternative und mit unseren Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit unvereinbare Ordnungsvorstellungen zum Verhältnis von Staat und Internet durchaus gibt. „Hier wird die liberale Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Herrschaft und Freiheit aufgelöst, ja umgekehrt. Rechte werden gekoppelt an den im Sozialkreditsystem erwirtschafteten „Wert“ des Menschen. Nicht der Bürger muss dem System vertrauen können, sondern das System muss – möglichst messbar – Vertrauen in den Bürger haben. Die Perfektion dieser Art von digitalem Totalitarismus wäre dann erreicht, wenn durch die staatliche Rundumkontrolle auch noch das Gefühl der individuellen Freiheit vermittelt wird.“
Davon sei, so Sarcinelli, das westliche Rechtsverständnis zum Glück dann doch weit entfernt, auch wenn die freiwillige Weitergabe von Daten (z.B. Gesundheitsdaten, Bewegungsdaten, Daten zum Freizeitverhalten etc.) inzwischen auch in Demokratien voranschreite. Aber rechtliche Barrieren wie die europäische Datenschutz-Grundverordnung sind ein wichtiger Schritt, um Informations-gewinnung zum Zwecke der Verhaltenssteuerung bzw. Gratifikation bei Nutzung individueller Daten entgegenzuwirken, denn es geht schließlich darum, das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit in Einklang zu bringen.
Dennoch „scheint die Verunsicherung auf staatlicher Seite, was den Umgang mit den digitalisierten Kommunikationsräumen anbelangt, ziemlich groß […] Offenbar besteht in der Politik erheblicher Beratungsbedarf.“ Vermutlich wird der Wandel „nicht allein technikdeterminiert sein wird, sondern von vielfältigen institutionellen und politisch-kulturellen Faktoren abhängen. Die Horrorvision, dass die digitale Kommunikationsgesellschaft durch und durch nur noch ein Produkt einer durch Algorithmen definierten Computer-Welt sein werde, ist jedenfalls mit den Vorstellungen einer `offenen Gesellschaft´ (Karl Popper - Link) und einer liberalen Demokratie nicht vereinbar.“
Natürlich biete Digitalisierung neue Chancen zur `Selbstorganisationsfähigkeit demokratisch-liberaler Gesellschaften´ […]. Aber gegenüber der allzu euphorischen Vorstellung, die Digitalisierung führe in eine Art Demokratie 4.0, eine „Smart Democracy“, ist jedoch Skepsis angebracht. Die Zeiten, in denen das Hoch-geschwindigkeitsmedium Internet allzu schlichte sozialromantische Vorstellungen von individueller Autonomie und Demokratisierung beflügelt hat, scheinen vorbei zu sein. […]
Skepsis gegenüber euphorischen Vorstellungen von Smart Democracy 4.0 |
Das Netz mag den Glauben nähren, man könne die traditionellen Eliten durch eine neue digitale Polis ersetzen, die ohne die alten Institutionen der Repräsentativ-demokratie auskäme […]. Das Internet erleichtert zwar den Informationszugang, die Erreichbarkeit und den kommunikativen Austausch innerhalb und mit der Politik.“
Das Netz werde aber auch zunehmend zu einem Stressfaktor: „Mehr und mehr wird die eher zeitintensive demokratische Willensbildung und Entscheidungs-findung einem medien- und netzgetriebenen Reiz-Reaktions-Druck ausgesetzt, nicht selten im Twitter-Modus. – Von den nationalen und internationalen Verwerfungen infolge der morgendlichen Tweets des amerikanischen Präsidenten ganz zu schweigen.“
So könnte sich die Wechselwirkung zwischen `Beschleunigung und Entfremdung´ als Grundphänomen des modernen sozialen Lebens als eine der größten Herausforderungen für Gesellschaft und Demokratie erweisen. So würde gerade die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Dynamisierung in der Moderne zu einer „progressiven Verlangsamung demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung“ führen. „Man kann auch sagen: zu einem rasenden Stillstand. Es passiert scheinbar viel, aber es bewegt sich nichts! Die politische Welt und die technologisch-ökonomische Welt, sie entwickeln sich nicht nur in unterschiedlichem Tempo. Sie bewegen sich auch auseinander.“
Sarcinelli gibt zu bedenken, dass die Welt der `Entscheidungspolitik´ und das Bild medien- bzw. internetvermittelter `Kommunikationspolitik´ sich durch die digitale Beschleunigung noch weiter entkoppeln könnten. „Denn offensichtlich ist, dass die `Kultur der Digitalität […] anderen Gesetzen folgt als die politische Kultur im liberalen Rechtsstaat. Wie bei jeder medientechnologischen Revolution bleibt deshalb die Ambivalenz, dass auch die digitale Beschleunigung politische Aufklärung ermöglichen und zugleich die Chancen für kollektive Täuschung erhöhen kann.“
Hier gehe es auch um das Informationsverhalten der Bürger, die „sich zunehmend in Teilpublika zerstreut, meinungskonformer Spezialangebote bedienen und in abgeschotteten Kommunikationsräumen die Bestätigung der eigenen Position finden kann – und seien sie noch so absurd. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass sich mit der Digitalisierung, mit den Möglichkeiten, sich überall und jederzeit über alles Informationen zu verschaffen, auch das Gefühl einer gut informierten Orientierungslosigkeit einstellt.“
Voraussetzung für demokratische Meinungsbildung aber sei vor allem politische Urteilskraft und diese beruhe nicht allein auf Informationen, „sondern auf der Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen und Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen. Informieren und gewichten, dies vor allem war die Aufgabe von Qualitätsmedien. Ihnen kam als `Informations-Marken´ – bisher zumindest – eine wichtige Orientierungsfunktion zu. Inzwischen sieht sich der professionelle Journalismus seiner Gatekeeper-Rolle, seiner Schleusenwärter-Funktion, beraubt.“
Politische Urteilskompetenz: Unterscheiden und gewichten! |
Twitter, Facebook und andere social-media-Angebote würde nicht mehr nur als bloße Plattformen genutzt. Für immer mehr Menschen sind sie zur maßgebliche Nachrichtenquelle geworden. Aber: Die Sozialen Netze „befördern die Kommunikation unter Gleichgesinnten und setzen Themen. Erinnert sei nur an die im Netz beflügelten Lügenpresse-Kampagnen, an die unseligen Fake-News-Debatten und an die Verbreitung von sogenannten Social Bots. Das sind algorithmusgesteuerte Meinungsproduzenten, mit denen adressatengenau politischer Einfluss ausgeübt wird.“
Gleichwohl ist es in den Augen von Sarcinelli zu alarmistisch, vor einem `Kommunikationsinfarkt“ […] zu warnen und gleich von `Empörungsdemokratie´ oder von einer Entwicklung zur `Erregungsdemokratie´ zu sprechen“, denn solche pauschalen Zeitdiagnosen mögen zwar talkshow-tauglich sein, „doch lenken sie von der großen politischen Aufgabe ab, eine neue Legitimationsarchitektur für die digitale Kommunikationsgesellschaft zu entwerfen.
Es geht um Politik im Netz und für das Netz; eine Politik, welche die Grundlagen der `offenen Gesellschaft´ (Popper) schützt und liberale Verfassungsstaatlichkeit nicht gegen, sondern in und mit der digitalen Welt sichert.“
Zitate aus: Ullrich Sarcinelli: „Der demokratische Staat und die digitale Gesellschaft“, SWR2-Wissen, Sendung vom 17. Februar 2019
Im Sekundentakt werden Nachrichten durchs Internet geschleust. Das bringt die Politik mit ihren langsamen Denk- und Entscheidungsprozessen in Zugzwang. Sie muss Lösungen finden, wie sie den "digitalen Menschen" überhaupt noch erreichen kann.
Ulrich Sarcinelli (* 1946) |
Für Sarcinelli scheint die Diagnose klar, zumindest aus juristischer Sicht: „In Zeiten des Internets, dieser geographisch und sozial grenzenlosen Universalplattform, hat der Staat, der Nationalstaat zumal, an Macht eingebüßt. Das gilt für seine drei Kernelemente: für das Staatsgebiet, das Staatsvolk und für seine Staatsgewalt. Von Kontrollverlusten und Staatsversagen ist deshalb allenthalben die Rede, von Souveränitätseinbußen und Legitimitätsdefiziten.“
So entsteht zwangsläufig die Frage, ob der Staat in Zeiten des digitalen Wandels zum Auslaufmodell, zu einem „postfaktischen“ Phänomen wird. Die Vorstellung vom Staat als Auslaufmodell ist in historischer Sicht keineswegs neu! So haben Fichte, Marx und Engels, Nietzsche und vor allem Carl Schmitt den Untergang des Staats prognostiziert. Für Schmitt beispielsweise sei der Staat im Übergang zur liberalen Massendemokratie „als Träger der souveränen Staatsgewalt einem Ansturm vieler Kräfte und Mächte ausgesetzt. Im gesellschaftlichen Pluralismus schwinde der Dualismus von Staat und Gesellschaft und damit ein zentrales Unterscheidungsmerkmal des Politischen […]. Schmitts Befund, dass das Politische weit mehr ist als das Staatliche, gilt heute – und zwar mit Blick auf innerstaatliche wie auf zwischenstaatliche und multilaterale Politikverflechtungen – als eine Binsenweisheit.“
Für die belgische Politiktheoretikerin Chantal Mouffe dagegen ist der Staat kein postnationales Auslaufmodell. Sie fordert „die Schaffung einer lebendigen Sphäre des öffentlichen Streits“ und wendet sich „damit gegen den Traum progressiver Gesellschaftswissenschaftler (z.B. Ulrich Beck, Antony Giddens, Collin Crouch, Jürgen Habermas u.a.) von einer versöhnten Welt, in der Macht, Souveränität und Hegemonie als überwunden gelten. In ihrer jüngsten Streitschrift spricht sie sich sogar `Für einen linken Populismus´ […] aus, mit klaren Frontlinien und Polarisierung. Chantal Mouffe stellt damit den linken Populismus auf rechte Füße und bringt den Nationalstaat gegen Brüssel in Stellung.“
Die Frage ist nach Sarcinelli durchaus berechtigt, ob wir inzwischen den „Leviathan“ – hier verstanden als Staat als durchsetzungsfähige Ordnungsmacht mit Gewaltmonopol – nicht doch vermissen. „Nicht nur die anhaltende Debatte über die Flüchtlingsfrage gibt der Diskussion über Staatsversagen und Steuerungsverlust immer wieder Nahrung. Gleiches gilt für die Unfähigkeit zur Regulierung der internationalen Finanzmärkte, für die Klimapolitik und viele andere Politikfelder. Hier werden nicht nur die Grenzen rein staatlicher Handlungs-kompetenz deutlich, sondern auch die Grenzen im Rahmen europäischer und multilateraler Regelungen.“
Thomas Hobbes: Der Leviathan (Titelbild der Erstausgabe 1651) |
Dennoch hält Sarcinelli am Staat als der zentralen demokratischen Legitimationsinstanz fest. Obwohl wir in einem Zeitalter hoher Unsicherheit leben, „in einer Zeit, in der Rechtsstaatlichkeit nur in einem Geflecht von nationalen und suprainternationalen Regelungen geschützt werden kann, wo die Kontrolle der Staaten über ihre Ressourcen trotz Steuerhoheit und Gewaltmonopol zunehmend eingeschränkt wird, in einer Zeit aber auch, in der die Widerstände gegen Souveränitätsverluste national und international zunehmen“, erfolge demo-kratische Legitimation immer noch weitgehend auf nationaler Ebene. „Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die politische Architektur von Staatlichkeit verändert hat.“
Das sei übrigens kein Phänomen der Gegenwart. „Die Unterscheidung zwischen Staatlichkeit und Souveränität begleitet die deutsche Geschichte seit der Reichs-gründung. Neben der gesamtstaatlichen Souveränität des Bundes haben die Glieder, die Bundesländer in Deutschland, ihre Staatlichkeit behalten, bis heute. Das zeigt der deutsche Föderalismus mit seinen bisweilen mühsamen Kooperations- und Entscheidungsmechanismen.
Wenn es um staatliche Ordnungen geht, sind wir vielfach mit einem `komplexen Patchwork´ […] von Verträgen und Mitgliedschaften konfrontiert, mit jeweils eigenen Normen und Regeln. Von der engen Einbindung Deutschlands in den europäischen Staatenverbund ganz zu schweigen. Es gibt also viel mehr und ganz andere Arrangements hoheitlicher Herrschaft als den Nationalstaat.“
Dies führt verfassungsrechtlich zwangsläufig zu einer gewissen „Verantwortungs-diffusion“, die nicht selten als politisches Verantwortlichkeits-durcheinander wahrgenommen werde. „Das ist alles andere als trivial. Denn die Zuschreibung von Verdiensten wird ebenso erschwert wie die gezielte politische Sanktionierung im Wege demokratischer Wahlen. Letztlich geht es um eine veränderte „Architektur moderner politischer Ordnungen.“
Folglich gibt es heute eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Staatsauffassungen und Souveränitätskonzepten. „Sie reichen von Versuchen, den Staat als Ort des Politischen zu reanimieren bis hin zu postnationalen Abgesängen auf den Staat. Und dazwischen steht ein ‚bunter Strauß‘ mit differenzierten Arrangements hoheitlicher Herrschaftsausübung. Das alles gilt es in den Blick zu nehmen, wenn über die Rolle des Staates im Internetzeitalter nachgedacht wird. Halten wir zunächst einmal fest: Staatlichkeit verändert sich. Der moderne Staat ist Teil eines multinationalen, verflochtenen Systems. Aber der Staat verschwindet nicht einfach.“
Die Frage ist nun, welche Bedeutung diese staats- und politiktheoretischen Entwicklungen für die Gestaltung eines Gemeinwesens in Zeiten der Digitalisierung besitzen. Die These Sarcinellis lautet: „Auch in der globalisierten und digitalisierten Welt löst sich die politische Geographie nicht auf. Der Staat bleibt die zentrale Legitimationsinstanz.
"Der Staat bleibt die zentrale Legitimationsinstanz." |
Trotz Transnationalisierung bleibt der Staat auch in Zeiten der geographisch unbegrenzten medialen Universalplattform Internet der maßgebliche kommu-nikative Bezugsrahmen für politische Akteure ebenso wie für uns Bürger. Denn öffentliche Diskurse über politische Themen finden ganz überwiegend innerhalb nationaler Gemeinschaften statt. Selbst in der Europäischen Union kann von einer entwickelten europäischen Öffentlichkeit keine Rede sein.“
So könne es auf nicht absehbare Zeit nur im staatlichen Kontext gelingen, gleichermaßen eine für die solidarische Produktion kollektiver Güter notwendige Sozialintegration und eine für die Durchsetzung bindender Entscheidungen erforderliche Systemintegration zu erreichen. „Bei allen Integrationserfolgen gilt dies sogar für die Staaten der Europäischen Union.“
„Trotz internationaler Kooperation, Verflechtung und Verantwortungsteilung unterliegt demokratische Politik in letzter politischer Konsequenz nur im staatlichen Kontext dem Gebot von Zustimmungsabhängigkeit und Begründungspflicht. Beides ist Grundlage von `Legitimation durch Kommunikation´ […]. Und hier stehen die Medien mit ihrem Auftrag zu informieren, zu orientieren und zu bewerten in einer besonderen Verantwortung.“
Allerdings verlange die Pflicht, Öffentlichkeit herzustellen und damit die Grundlage für den freien Austausch von Informationen und Meinungen zu schaffen, mehr als die „Bewirtschaftung von Aufmerksamkeit“ […], nämlich die Wahrnehmung von öffentlicher Verantwortung.
Gleichwohl haben sich die ‚Spielregeln‘ des Kommunikationsbetriebs im Zuge der Digitalisierung dramatisch verändert und so stellt sich die Frage, was der Staat bei der Steuerung und Gestaltung der Kommunikationsverhältnisse heute tun könne.
Zitate aus: Ullrich Sarcinelli: „Der demokratische Staat und die digitale Gesellschaft“, SWR2-Wissen, Sendung vom 17. Februar 2019