Donnerstag, 29. Juni 2017

Der 30-jährige Krieg und die Marschordnung der Armeen

Die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges sind über Jahrhunderte im kollektiven Gedächtnis präsent geblieben. Millionen von Menschen kamen ums Leben, manche Gegenden im heutigen Deutschland und seinen Nachbarstaaten wurden regelrecht entvölkert. Ausgehend vom Schicksal eines schwedischen Zeitgenossen schildert Peter Englund, wie der Krieg die Kultur, die Gesellschaft und die Geschichte in Europa geprägt hat und wie er die Menschen formte, die in seinen Mahlstrom hineingezogen wurden.

Pieter Meuleneer - Reiterschlacht im 30-jährigen Krieg
Englund versucht dabei auch, die Ereignisse dieses ersten europäischen Krieges von den Staubwolken zu befreien, um sie dem Leser fast greifbar nahezubringen. Ein gutes Beispiel ist seine Auseinandersetzung mit den Ideen der zahlreichen militärischen Reformer und Neudenker des 17. Jahrhunderts, die den Traum von der Armee als einer perfekt funktionierenden und in allen ihren Einzelteilen lenkbaren Maschine hatten.

Zwischen Ideal und Wirklichkeit lag allerdings meistens eine meilenweite Kluft; davon zeugten die chaotischen Schlachten, die alle Generale verabscheuten, weil sie praktisch unmöglich zu lenken waren; davon zeugten die ruckhaften Kriegsbewegungen, die mehr von dem verfügbaren Unterhalt, vom Wetter, von politischen Rücksichten und der schlechten Disziplin der Truppen bestimmt wurden als von eventuell genialen Plänen. Doch auch wenn man die Heere nicht als fehlerfreie Uhrwerke bezeichnen kann, gab es einige Teilbereiche, in denen sich ein hohes Maß an Verfeinerung, ja sogar so etwas wie Meisterschaft entwickelt hatte.

Zu den hochentwickelten kollektiven Fertigkeiten der Heere gehörte unter anderem das Marschieren. Die Armeen hatten im 17. Jahrhundert an Umfang erheblich zugenommen – vielleicht der wichtigste Grund dafür, dass die Kriege so schrecklich teuer und so schrecklich zerstörerisch geworden waren. Zwischen dem Beginn des 16. und dem Ende des 17. Jahrhunderts verzehnfachte sich die Heeresgröße! Es handelte sich schlicht um enorme Mengen von Soldaten und Material, die nun während der Kampagnen vor-und zurückbewegt werden mussten.

„Dies war etwas Neues und Unerprobtes, aber rasch lernten die hohen Militärs, auch die Schwierigkeiten der großen Märsche zu bewältigen (und hätten sie das nicht gekonnt, wären diese Kriege eine Unmöglichkeit gewesen). Viele Waffen waren zwar einfach, aber die Mechanismen des Krieges kompliziert und schwer zu beherrschen. Eine Streitmacht mit Zehntausenden von Soldaten, Pferden und Wagen, Proviant und schwerem Material zu bewegen, stellte höchste Ansprüche an die logistischen Fähigkeiten der hohen Militärs. Ein solcher Marsch wurde nicht nach dem Zufallsprinzip durchgeführt, sondern erfolgte [...] nach genau ausgearbeiteten Plänen und mit einer Präzision, die zumindest in diesem Punkt nahezu maschinenmäßig war.

Im Lager
Ein normaler Marschtag konnte folgendermaßen aussehen: In der Dunkelheit, eine Stunde vor der Morgendämmerung, schlugen die Trommler des Fußvolks Vergatterung – Sammlung und Aufstellung –, während die Trompeter der Reiterei boute-selle bliesen. Oft ging es zu diesem Zeitpunkt im Lager bereits sehr lebhaft zu. Das Stallpersonal war auf und striegelte und tränkte die Pferde und sammelte das übriggebliebene Futter ein. In der Stunde bis Tagesanbruch sollte sich der Rest der Mannschaften ankleiden, die Zelte abbrechen, alles Zubehör auf die Trosswagen laden und schließlich seinen Platz im Glied einnehmen.

Bei Sonnenaufgang begann der Marsch. An der Spitze gingen Führer und eine Patrouille, dicht gefolgt von einem Brückenmeister mit Handlangern und Zimmerleuten; sie sollten alle Hindernisse aus dem Weg räumen und die Fahrwege und Brücken ausbessern oder sogar, wenn dies nötig sein sollte, neue anlegen. Die schlechten Wege und die Tatsache, dass die Armeen nicht selten gezwungen waren, sich ihren Weg durch das Terrain zu graben und zu hauen, erklären, warum die Tagesetappen so kurz waren, in der Regel fünf bis sechs Kilometer. Deshalb kamen die Heere oft nur ruckhaft voran: Immer wieder kam es zu Zwangspausen, wenn Hindernisse aus dem Weg geräumt oder Staus aufgelöst werden mussten.

Dann folgte ein großer Teil der kämpfenden Verbände in dichten Marschkolonnen: die Glieder der Reiterei, mit den verschiedenen farbenfrohen Standarten der Schwadronen geschmückt; die dichten Reihen der Bataillone des Fußvolks, gekrönt von einem klappernden Wald von langen,schwankenden Piken und schaukelnden Musketen. Gleichzeitig wurden Patrouillen nach den Seiten ausgeschickt. Sie sollten auf den Flanken des vorrückenden Heeres marschieren, teils als Sicherung gegen feindliche Überfälle, teils um die eigenen Soldaten daran zu hindern, sich aus dem Staub zu machen oder auf eigene kleine Plünderungszüge zu gehen.

Trosswagen
Danach folgte der Teil der Armee, der transporttechnisch die größten Probleme bereitete, nämlich der Tross. Die Überwachung des Trosses oblag einem Generalwagenmeister, der an der Spitze ging und von Profossen unterstützt wurde, die an den Wagenkolonnen entlangpatrouillierten und jeden handgreiflich zurechtwiesen, der gegen die vorgegebene Zugfolge verstieß oder wegzulaufen versuchte. [...].

Die Wagen oder Karren standen meistens in langen, hintereinander angeordneten Reihen – wie ein riesiger Autoparkplatz –, die sich, wenn der Marsch begann, langsam auseinanderzogen, Wagen an Wagen, um sich zu einem unüberschaubaren Zug von Fuhrwerken und Zugtieren zu strecken. Wagen und Karren waren von jeder denkbaren Art: zwei-und vierrädrige, zweispännige, dreispännige und vierspännige, oft schwer beladen, die Ladung unter groben, mit Tauen festgezurrten Persenningen verstaut, unter denen Zeltstangen und Fourage nach hinten herausragten.

Der Tross bestand jedoch keineswegs nur aus den Wagen, den Pferden und ihren Kutschern. Mit ihm folgten auch alle zivilen Handlanger des  Heeres, außerdem Frauen und Kinder – sie gingen in der Regel neben den Wagen, schneller ging es ja meistens nicht voran –, aber auch zahlreiche Ersatzpferde und Vieh, das alle Armeen als wandernden Essensvorrat mitführten und das von Viehtreibern und Hütejungen beaufsichtigt wurde.

Die Feldschlange -
Kleine Kanonen im 30-jährigen Krieg
Die Artillerie folgte meistens direkt hinter dem Tross. Besonders die großen Geschütze waren schwer beweglich, verursachten aber dennoch geringere Probleme als die Tausende von Trosswagen, eben weil sie so wenige waren und oft von großen Gruppen eigens dafür zuständiger Handlanger fortbewegt wurden. Die Artillerie bestand indessen nicht nur aus den von Pferden gezogenen Geschützen; da rollten auch Ersatzlafetten, Kugel-und Pulverkarren, Kranwagen, mobile Feldschmieden, Kohlenwagen, Rüstwagen mit Werkzeug – Winden, Spaten, Faschinenmessern und so weiter – und Fahrzeuge mit Pontons für größere Brückenbauten.

Mit der Artillerie marschierte im Allgemeinen auch eine besonders abgeteilte Feldwache von ein paar hundert Musketieren. Und als Letztes folgte die bewaffnete Nachhut, deren Größe und Zusammensetzung sich danach richtete, ob man gegen den Feind marschierte oder von ihm fort.


Zitate aus: Peter Englund: Verwüstung. Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart 1998.


Donnerstag, 22. Juni 2017

Ottfried Höffe und der Unterschied zwischen dem antiken und neuzeitlichen Menschen

In seinem Buch „Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert. Annäherungen an eine zeitgemäße Ethik“ zeigt Otfried Höffe, daß Fragen zu Ethik und moralischem Handeln immer wieder neu gestellt werden müssen und versucht Antworten auf diese Fragen zu finden - ohne unverständliche Terminologie und vor allem ohne moralischen Zeigefinger.

Gegen die Kulturpessimisten, die die Welt werde mit jeder Generation schlechter, betont Höffe, dass in Wahrheit jede Zeit ihre eigenen Herausforderungen zu meistern habe, auf die sie in den letzten Dezennien mehr und mehr moralisch sensibel zu antworten sucht. Schon darin zeigt sich die Macht, sogar eine wachsende Macht der Moral.

Man darf freilich nicht so naiv sein zu glauben, man müsste deshalb mit der heutigen Welt zufrieden sein, weil sie all ihre Herausforderungen sachgerecht und zugleich moralisch angemessen meistere. Ohnehin ist beides umstritten, sowohl die Frage, worin die genaue Herausforderung, als auch die Anschlußfrage, worin die sachgerechte und zugleich moralisch angemessene Antwort liegt. In dieser Situation dürfte der Beitrag der Philosophie von Moral, der philosophischen Ethik, willkommen sein.

Eine Ethik, zumal eine für mündige Bürger, schlägt selbstverständlich keine Rezepte vor. Ihr Medium bilden Begriffe und Argumente, die sich durch eine Rückwendung des Menschen auf sich und seine Welt, also durch den Charakter einer möglichst erfahrungsgesättigten Reflexion, auszeichnen. In diesem Zusammenhang geht Höffe auch auf den Unterschied zwischen dem antiken und neuzeitlichen Menschen ein.

Im antiken Griechenland richtete sich der griechische Bürger selbst in Zeiten der Demokratie noch lange an den Normen der altgriechischen Adelsgesellschaft aus. Er war vor allem Landbesitzer, Krieger und an den politischen Geschäften beteiligt. Der Sphäre der Arbeit abgeneigt, sogar feindlich eingestellt, überließ er die Landarbeit lieber den Sklaven oder, falls zu arm, um einen Sklaven zu erwerben, einem Ochsen, wie Aristoteles in seiner „Politik“ (I 2, 1252b 10ff.) beschreibt. Handel und Gewerbe dagegen betrieben vorwiegend Nichtbürger, also Sklaven, niedergelassene Ausländer und Ausländer.

Griechische Bürger bei der Volksversammlung auf der Pnyx

Dieser weitgehend personalen Trennung von Staat und Gesellschaft tritt die Neuzeit mit einer institutionellen Trennung entgegen, die sich mit einer personalen Einheit verbindet. Anders als der antike Bürger muß der neuzeitliche Bürger nämlich in der Regel beides in einem sein, sowohl Arbeitssubjekt bzw. Wirtschaftsbürger als auch Staatsbürger, also Bourgeois - in einem weiten, auch Angestellte und Arbeiter umfassenden Sinn -  und Citoyen zugleich.

Diese Einheit beweist nicht bloß ein hohes Maß an sozialer Demokratisierung; sie eröffnet auch jedem große Chancen zur Selbstverwirklichung. Die Arbeit hilft nämlich nicht bloß, den Lebensunterhalt zu sichern und die materiellen Lebensbedingungen zu verbessern. Das könnte eine wohlhabende Gesellschaft einem Teil der Bevölkerung überlassen, um den anderen Teil unter dem so schön klingenden Titel „Bürgerlohn“ zu alimentieren.

In der modernen Welt leistet die Arbeit aber weit mehr. Das Mehr beginnt mit der Bildung und Ausbildung. Um später einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden, muß der Jugendliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben, einschließlich der Fähigkeit zum beruflichen und sozialen Weiterlernen und zur beruflichen und sozialen Mobilität, sowie Einstellungen wie Arbeitswillen, Leistungs- und Kooperationsbereitschaft und nicht zuletzt Kreativität. Auf diese Weise kann er seine Begabungen entfalten, sie sogar zu Höchstleistungen fortbilden, und zwar zu begabungsrelativ, nicht nur absolut bewundernswerten Leistungen.

Immanuel Kant
Für den wichtigsten Moral-philosophen der Neuzeit, Kant, ist die Entfaltung der eigenen Talente ein moralisches Gebot. In der Regel genügt das normativ bescheidenere Argument, daß die für den Menschen unverzichtbare Anerkennung, sowohl die Selbstanerkennung (das Selbstwertgefühl) als auch die Fremdanerkennung, in hohem Maß vom Platz in der Berufs- und Arbeitswelt bestimmt wird.

Erneut widerspricht das aufgeklärte Selbst- und Sicherheitsinteresse einem zu hohen Sicherheitsdenken. Eine Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte jedenfalls zweierlei durch die tatsächliche Politik statt bloß durch „fromme Worte“ prämieren, nämlich die Schaffung von Arbeitsplätzen und jene Suche nach ihnen, die auch Mühen und Durststrecken in Kauf nimmt. Wer diese Politik nicht schon aus Subsidiaritäts- und Gerechtigkeitsgründen einschlägt, sollte sie zumindest aus einem aufgeklärten Paternalismus verfolgen.


Zitate aus: Otfried Höffe: Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert. Annäherungen an eine zeitgemäße Ethik, München 2014