„Dort oben ist die Behörde in ihrer
unentwirrbaren Größe – ich glaubte, annähernde Vorstellungen von ihr zu haben,
ehe ich hierher kam, wie kindlich war das alles.“ (Kafka, Das Schloss)
Franz Kafka (1883 - 1924) |
Die Werke Franz Kafkas gehören
zum unbestrittenen Kanon der Weltliteratur mit vielfältigen und bis heute
anhaltenden Wirkungen. Von besonderem, weil hochaktuellem Interesse sind Kafkas Beobachtungen zur
Herrschaftsform der Bürokratie, die er aus eigener Berufserfahrung
ausgezeichnet kannte.
Nach dem Abschluss seines Jurastudiums
arbeitete Kafka von 1908 bis 1922 in der „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen“ (AUVA) in Prag. Die Tätigkeit
als Beamter in der halbstaatlichen Institution verlangte von ihm genaue
Kenntnisse der industriellen Produktion und der großbetrieblichen Technik. Er
begann als „Aushilfsbeamter“ in der Unfallabteilung, wurde dann in die
versicherungstechnische Abteilung versetzt und gehörte ab 1910 schließlich zur
Betriebsabteilung.
Kafka arbeitete Bescheide aus und brachte sie
auf den Weg, wenn es alle fünf Jahre galt, die Betriebe in Gefahrenklassen einzuteilen. Kafka
arbeite sich schnell in seine neuen Arbeitsgebiete ein, und wurde in
Anerkennung seiner Leistungen viermal befördert.
Gleichwohl klagt er in einem Brief an Milena:
„Mein Dienst ist lächerlich und kläglich leicht … ich weiß nicht wofür ich das
Geld bekomme“. 1917 erkrankte Kafka an Lungentuberkulose und bat um
Pensionierung. Die AUVA sperrte sich und gab ihn erst nach fünf Jahren am 1.
Juli 1922 endgültig frei.
Durch seinen Kontakt zu Unfallopfern wusste
Kafka nur zu gut um den „Schicksalsaberglauben“, der unweigerlich diejenigen
erfasst, die in ihrem täglichen Leben unter die Herrschaft des Zufalls gefallen
sind. Dieser Schicksalsaberglaube, in „irgendeine furchtbare, dunkle
Notwendigkeit verstrickt zu sein“ bildet die Brücke zu Kafkas Blick auf
bürokratische Weltordnung (522).
Wie in einem Albtraum bewegen sich Kafkas
Protagonisten durch ein Labyrinth undurchsichtiger Verhältnisse und sind
anonymen Mächten ausgeliefert. In besonderem Maße wird dies in den beiden Roman
„Der Process“ und „Das Schloß“ sichtbar.
Der Process - Erstausgabe 1925 |
Im „Process“ wird, Josef K., der Protagonist des Romans, am Morgen seines 30. Geburtstages verhaftet,
ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. Trotz seiner Festnahme darf sich der
Bankprokurist Josef K. noch frei bewegen und weiter seiner Arbeit nachgehen.
Vergeblich versucht er herauszufinden, weshalb er angeklagt wurde und wie er
sich rechtfertigen könnte. Dabei stößt er auf ein ebenso wenig greifbares
Gericht, einem weit verzweigten Gewirr unübersichtlicher Räume, darunter die Kanzleien,
die sich auf den Dachböden befinden.
Josef K. versucht verzweifelt, Zugang zum
Gericht zu finden, doch auch dies gelingt ihm nicht. Er beschäftigt sich immer
öfter mit seinem Prozess, obwohl er anfangs das Gegenteil beabsichtigte. Er
gerät dabei immer weiter in ein albtraumhaftes Labyrinth einer surrealen
Bürokratie. Immer tiefer dringt er in die Welt des Gerichts ein. Gleichzeitig
dringt jedoch auch das Gericht immer mehr in Josef K.s Leben ein. Ob
tatsächlich ein irgendwie gearteter Prozess heimlich voranschreitet, bleibt
sowohl dem Leser als auch Josef K. verborgen.
Bezeichnenderweise bekommt der Angeklagte
Josef K. niemals auch nur die Anklageschrift zu Gesicht. Josef K. fügt sich schließlich
einem nicht greifbaren, mysteriösen Urteilsspruch, ohne jemals zu erfahren,
weshalb er angeklagt war und ob es tatsächlich dazu das Urteil eines Gerichtes
gibt. Am Vorabend seines 31. Geburtstages wird Josef K. von zwei Herren
abgeholt und in einem Steinbruch „wie ein Hund“ erstochen.
„Der Verklärer der bürokratischen Weltordnung
im Prozess ist der Geistliche im Dom,
der dem Angeklagten K. ihr Grundprinzip in einem Satz erklärt: „Man muss nicht
alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten.“ Woraufhin K. eben
meint: Trübselige Meinung. Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht“ (522).
In dieser prägnanten Aussage steckt die gesamte
Essenz der Kritik an einer sich verselbstständigen und unmenschlichen Bürokratie und am Fehlen bürgerlicher Freiheitsrechte.
Das Schloss - Erstausgabe 1926 |
Im Zentrum des Romans „Das Schloss“ steht der
Protagonist K., der als Landvermesser in ein winterliches Dorf kommt, das zu
dem Besitz eines Schlosses gehört. Das Schloss mit seiner Verwaltung scheint
durch einen gewaltigen, undurchschaubaren bürokratischen Apparat jeden
Einzelnen der Einwohner zu kontrollieren und dabei unnahbar und unerreichbar zu
bleiben. Einer nicht greifbaren bedrohlichen Hierarchie ausgesetzt, an deren
Spitze sich die Beamten des Schlosses befinden, gestaltet sich das Leben der
Dorfbewohner bedrückend. Bei Überschreitung der Vorschriften droht vermeintlich
Schlimmes.
Vom Schloss werden aber tatsächlich niemals
erkennbare Sanktionen erhoben. K.s ganzes Streben ist darauf gerichtet, sich
dem Schloss zu nähern. Doch sämtliche Anstrengungen scheitern. Die Vorgänge
zwischen Dorf und Schloss und das untertänige Verhalten der Dorfbewohner
bleiben ihm unverständlich.
Nur bruchstückhaft erfährt K. und mit ihm der
Leser im Laufe des Romans mehr über die Beamten des Schlosses und ihre
Beziehungen zu den Dorfbewohnern. Die allgegenwärtige, aber gleichzeitig
unzugängliche, faszinierende und bedrückende Macht des Schlosses über das Dorf
und seine Menschen wird dabei immer deutlicher. Trotz all seiner Bemühungen, in
dieser Welt heimisch zu werden und seine Situation zu klären, erhält K. keinen
Zugang zu den maßgeblichen Stellen in der Schlossverwaltung. Anfangs voll
Ehrgeiz und Zuversicht, fühlt sich K. zunehmend ohnmächtig angesichts der Undurchschaubarkeit
des Systems, in dem er sich befindet.
So leben die Dorfbewohner im „Schloss" „unter der Allmacht einer
bürokratischen Herrschaft leben, die ihre Geschicke bis in alle privatesten
Einzelheiten kontrolliert und ihnen beigebracht hat, dass es eine Frage des
Schicksals, dunkler und menschlich unkontrollierbarer Mächte ist, ob einer im
Recht oder im Unrecht ist“ (522).
„Die zentrale Geschichte des Romans in dieser
Hinsicht ist „Amalias Geheimnis“, das darin besteht, dass die ganze Familie
dafür bestraft wird, dass einer der hohen Beamten ihr einen obszönen Brief
geschrieben hat; das ist nun ihre und nicht des Beamten „Schande“. Dem K. des
Romans „scheint das ungerecht und ungeheuerlich, aber das ist eine im Dorf
völlig vereinzelte Meinung“, denn „man muss schon ein Fremder in meiner
besonderen Lage sein, um sich dem Vorurteil zu entwinden“ und an der
unabänderlichen Notwendigkeit dieses „erstaunlich einheitlichen Spiels“
zweifeln zu können“ (522).
Mit der Herrschaftsform der Bürokratie hat
sich auch Hannah Arendt in ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totaler
Herrschaft“ beschäftigt: „Juristisch gesprochen und im Gegensatz zur
Gesetzesherrschaft ist Bürokratie das Regime der Verordnungen.“ In der Bürokratie werde die Macht,
die in Verfassungsstaaten nur der Ausführung der Gesetze dient, hier wie in
einem Befehl, zur direkten Quelle der Anordnung.
„Verordnungen sind ferner
immer anonym, während Gesetze immer auf bestimmte Personen oder gesetzgebende
Versammlungen zurückgeführt werden können; sie bedürfen weder der Begründung
noch der Rechtfertigung im einzelnen Fall – wiewohl die in jedem
Ausnahmezustand sich als notwendig erweisenden Notverordnungen insgesamt den
Notstand als ihre Rechtfertigung anrufen müssen, der dann aber zeitlich
begrenzt, klar als Ausnahme von der Regel erkannt wird. Der Notstand
rechtfertigt in der Ausnahme das, was in der Despotie die Regel ist, nämlich
die Konzentration und Unbegrenztheit der Macht gegenüber dem Untertan“ (516).
Vom Standpunkt der bürokratischen Herrschaft erscheinen
die verfassungsrechtliche Regierung als unendlich unterlegen und die ihr
eigentümlichen Gesetze als „Fallen“, in welchen die Herrschenden sich nur
unnötigerweise verstrickten. Auch fühlten die Bürokraten, so Arendt, „wiewohl
sie selber doch nur den Willen des Herrschers vollstreckten, sich den
gesetzgebenden verfassungsmäßigen Regierungen dadurch überlegen, dass sie durch
keine Prinzipien in der Ausübung der Macht eingeschränkt waren, also in ihrem
Sinne über eine sehr viel größere Freiheit verfügten“ (517).
So habe der Bürokrat, „wiewohl er nur
Verordnungen durchführt, die er selbst nicht erlassen hat“, zum mindesten „die
Illusion einer ständigen weitreichenden Tätigkeit und fühlt sich himmelweit den
„unpraktischen“ Leuten überlegen, die sich dauernd über legalistische Details
den Kopf zerbrechen müssen und daher außerhalb der Machtsphäre bleiben, die für
ihn Politik überhaupt verkörpert“ (517).
So wie in den Werken Kafkas deutlich wird,
liegen hinter diesen Verordnungen „keine an sich immer einfachen Prinzipien,
die jedermann verstehen könnte, sondern sie entspringen einer Reihe oft höchst
komplizierter Umstände, die nur der Fachmann übersehen kann. Menschen, die
unter dem Regime der Verordnungen leben, wissen niemals, was oder wer sie
eigentlich regiert, weil Verordnungen an sich immer unverständlich sind und die
Umstände und Absichten, die sie verständlicher machen könnten, von der
Bürokratie immer sorgfältig, als handele es sich gerade hier um die höchsten
Staatsgeheimnisse, verschwiegen werden“ (518).
Bürokratische Herrschaft - keine Probleme mit "legalistischen Details" ! |
So unterscheidet sich auch der Verwaltungsbeamte
von allen gesetzgebenden politischen Körperschaften dadurch, dass er
unmittelbar handelt, und dies „innerhalb des Rahmens eines von ihm selbst nicht
gegebenen und daher von ihm nur als Grenze und Hindernis empfundenen Gesetzes“
(526).
Für die Herrschenden liegen die Vorteile
bürokratischer Herrschaft natürlich auf der Hand: „Die Effektivleistung der
Verordnung ist durchschlagend, weil sie die vermittelnden Stufen zwischen
Gesetzgebung, Veröffentlichung und Exekution vermeidet und dadurch gar keine
Gelegenheit zur Diskussion und einer etwaigen Meinungsbildung bietet“ (518).
In einer bürokratischen Herrschaft, wo an die
Stelle des Gesetzes die Verordnung getreten ist, wird dauernd gehandelt, bevor
Recht gesprochen worden ist, werden dauernd vollendete Tatsachen geschaffen,
gegen die es dann einen Einspruch entweder überhaupt nicht gibt oder nur auf
einem so komplizierten, eben `bürokratischen´ Wege, dass ihm praktisch keine
Bedeutung mehr zukommt: „Willkür und Zufall werden zum Kennzeichen des
Wirklichen selbst“ (527).
„Ob es Kontrollbehörden gibt? Es gibt nur
Kontrollbehörden. Freilich sie sind nicht dazu bestimmt, Fehler im groben
Wortsinn herauszufinden, denn Fehler kommen ja nicht vor, und selbst, wenn
einmal ein Fehler vorkommt, wer darf denn endgültig sagen, dass es ein Fehler
ist.“ (Franz Kafka, Das Schloss).
Zitate aus: Hannah Arendt:
Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper), v.a. S. 515ff
Weitere
Literatur: Franz Kafka: Der Process, als Text bei Gutenberg,
als Hörspiel beim BR -
Franz Kafka: Das Schloss, als Text bei Zeno