Im Gegensatz zu Herodot wurde Thukydides zum Historiker der Niederlage seiner Heimatpolis Athen. In den 27 Jahren des Krieges hatte Thukydides erlebt, was Herodot über einen längeren Zeitraum beobachtete: Alles war dem Wechsel unterworfen, ständig veränderten sich Bedingungen und Voraussetzungen des Krieges. Zufälle (týche, symphóra) machten alle Vorausberechnungen zunichte, nichts war von Bestand.
Aber Thukydides hatte seinen Lesern versprochen, sein Werk würde über den Augenblick hinaus von Nutzen sein. Um freilich von der „Erkenntnis des Vergangenen“ zu einer „Erkenntnis des Zukünftigen“ zu gelangen, bedurfte es einer Konstante im geschichtlichen Prozeß, und diese fand Thukydides in der menschlichen Natur (anthropeía phýsis, anthrópinon), die zum gemeinsamen Nenner der Analysen der Politik der Großmächte, aber auch einzelner Akteure wurde.
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Thukydides (454 - 399 v. Chr.) |
„Schon in der Debatte um das Schicksal von Mytilene formuliert der Demagogos Kleon eine Ansicht, von der wir annehmen können, daß Thukydides sie teilte: Armut bringe Not und erzeuge dadurch Verwegenheit, Macht führe durch Frevelmut und Stolz zu Habgier. Wie alle anderen Lebensfälle, die den Menschen beherrschten, trieben sie in wilder Leidenschaft, gleichsam mit übermächtiger Gewalt, zum Wagnis. Zeichen großer Einfalt sei es, wenn jemand glaube, man könne dem wilden Tatendrang der menschlichen Natur Einhalt gebieten durch die Kraft der Gesetze oder sonst etwas, das Furcht errege. In der Natur, sei es von Einzelnen oder von Staaten, liege nun einmal der Hang zum Verbrechen und es gebe kein Gesetz, das sie davon abhalte.“
Auch die Gesandten Athens in Melos vertreten den gleichen Gedanken: „So haben auch wir nichts Verwunderliches getan, nichts wider die menschliche Natur, wenn wir eine uns angebotene Herrschaft annahmen und nicht aufgeben wollen, von den drei stärksten Beweggründen getrieben: Ehre, Furcht und Nutzen. Wir haben auch nicht als erste damit angefangen, es gilt vielmehr seit jeher, daß der Schwächere vom Mächtigeren niedergehalten wird …“.
Selbst der den Athenern prinzipiell feindlich gesinnte syrakusanische Staatsmann Hermokrates stimmt mit ein: „Daß die Athener ihre Macht erweitern und nur darauf sinnen, ist ihnen gar nicht zu verdenken, und ich tadle an niemandem den Willen zu herrschen, wohl aber allzu rasche Bereitschaft, sich zu ducken; denn so ist nun einmal Menschennatur: zu herrschen über alles, was nachgibt, aber sich abzusichern gegen alles, was angreift.“
Kern des menschlichen Denkens und Ziel menschlichen Strebens ist also das Erringen von Herrschaft gemäß der menschlichen Natur. „Nichts Größeres gibt es für den Menschen als Freiheit - d.h. Herrschaft über sich selbst - oder Herrschaft über andere. Wer immer Schwäche zeigt, muß dem Stärkeren unterliegen, wer immer die Möglichkeit zu herrschen sieht, scheut kein Verbrechen. Es schrecken ihn weder Gebot, Gesetz noch Strafe.“
Mit eigener Stimme hat sich Thukydides dazu in einem der wichtigsten Kapitel des gesamten Werkes geäußert, in der sogenannten Pathologie. Dieses Kapitel wurde von Thukydides erst gegen Ende des Krieges geschrieben und enthält das Resümee von Erfahrungen, die der Historiker in langen Jahren des athenisch-spartanischen Kampfes machte. „Thukydides nennt in der Pathologie die Sucht, den Trieb, ja den Zwang zum Herrschen arché“ (…) und faßt sie als die Ursache von Allem.
Die arché selbst besitzt für Thukydides ihren tiefsten Grund in zwei Eigenschaften, die den Menschen unauslöschlich beherrschen, „der pleonexia, dem Mehrhabenwollen, zu der das Bemühen um den eigenen Vorteil oder Nutzen (xymphéron, ophelía) tritt, und der philotimia, der Ehr- und Ruhmsucht. Der Historiker hat diesen Zusammenhang in einem Satz von lapidarer Kürze hergestellt, der das Zentrum der Pathologie bildet. Dort drückt Thukydides ein Gefühl aus, an dem es ihm ansonsten gänzlich zu mangeln scheint: Empörung.
Wie er in der Analyse der Pest vom moralischen Verfall im Gefolge der Seuche berichtet, so legt Thukydides in der Pathologie die Deformation der menschlichen Physis durch den Bürgerkrieg bloß:
„Der Bürgerkrieg steigerte sich ins Unmenschliche, und er schien um so grausamer, als er der erste dieser Art war. Später ergriff die Erschütterung fast die gesamte griechische Welt. An jedem Ort herrschte Zwiespalt, so daß die Führer des Volkes die Athener, die Adligen die Spartaner für ihre Sache zu gewinnen suchten.
Solange noch Friede währte, besaßen sie keinen Vorwand und mangelte es ihnen auch an Willen, Hilfe zu holen. Sobald sie sich aber im Krieg befanden, leisteten zugleich beide Bündnisse, Athener wie Spartaner, zum Schaden des Gegners und eben dadurch zur eigenen Machtverstärkung leicht denen Unterstützung, die einen Umsturz planten.
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"Wer immer die Möglichkeit zu herrschen sieht, scheut kein Verbrechen. Es schrecken ihn weder Gebot, Gesetz noch Strafe.“ |
Unter solchem Aufruhr brach viel Schweres über die Städte herein, wie es geschieht und immer wieder geschehen wird, solange die Natur des Menschen gleich bleibt, einmal schlimmer, einmal gemäßigter und in sich ändernden Erscheinungsformen, je nachdem der Wechsel der Umstände es mit sich bringt. In Zeiten des Friedens und des Wohlstandes erweisen sich Städte und Menschen von besserer Gesinnung, weil sie nicht in ausweglose Zwangslagen geraten.
Der Krieg aber, der das leichte Leben des Alltags aufhebt, ist ein gewalttätiger Lehrmeister und lenkt die Stimmungen der Menge nach dem Augenblick. Und so ergriff der Zwist zwischen den Bürgern alle Städte, und diejenigen, die sich erst später entzweiten, überboten auf die Kunde des bereits Vorgefallenen hin jene an Erfindungsreichtum, da es galt, Anschläge mit heimtückischer List zu ersinnen oder auf scheußliche Weise Rache zu üben. (…)
Ursache von allem ist die Sucht (der Zwang) zu herrschen, erwachsen aus Habgier (pleonexia) und Ehrgeiz (philotimia). Und aus diesen entstand leidenschaftliche Begierde, wenn die Menschen in Streit gerieten.
Die führenden Männer in den Städten nämlich verkündeten auf beiden Seiten mit schön klingenden Worten, sie träten ein für die politische Gleichheit aller Bürger oder die gemäßigte Herrschaft der Besten, doch sie machten das Gemeinwesen, dem sie sich dem Wort nach verpflichteten, zum Ziel persönlicher Belange, und in dem Bemühen, mit allen Mitteln einander auszustechen, wagten sie das Äußerste, übertrumpften einander in unversöhnlicher Rache, machten vor Recht und Staatswohl nicht Halt und taten, ohne eine Grenze zu stecken, was einem jeden gerade angenehm war.
Ob sie nun durch unredliche Abstimmung oder mit Gewalt zur Herrschaft kamen, sie waren zu allem bereit, nur um ihre Streitwut zu sättigen. Mit ehrlichem Gewissen handelte keine der beiden Parteien, wem es aber gelang, abscheuliche Taten unter dem Deckmantel schöner Phrasen zu verbergen, der stand in besserem Ruf.
Die Parteilosen unter den Bürgern wurden von beiden Seiten umgebracht, sei es, weil sie sich niemandem anschließen wollten, sei es aus Neid, sie kämen vielleicht davon.“
Die Aussagen über die Natur des Menschen formen sich in den Reden zu einem einheitlichen Bild. „Der Mensch gleiche dem Menschen, Erziehung verstärke oder schwäche nur Anlagen. Wer schmeichle, werde verachtet, wer sich widersetze, bewundert. Mehr als Gewalttat empöre ihn erlittenes Unrecht, da ihm jenes als Zwang eines Mächtigen, dieses aber als Übergriff des Gleichgestellten erscheine. Immer wieder stifteten Hoffnung und Begierde den größten Schaden, diese führend, jene folgend. Eine (vom Zufall) angebotene Herrschaft zu ergreifen und nicht wieder loszulassen, sei menschliche Natur.“
Es sind die menschlichen Ziele und die Motive hinter dem menschlichen Handeln, die Thukydides am stärksten interessieren: „Pleonexia und philotimia treiben die Menschen zu Verbrechen aller Art. Das `Mehrhabenwollen´ beherrscht Einzelne und Staaten. Großmächte dehnen sich aus oder sie brechen zusammen. Perikles selbst darf dies bei Thukydides formulieren: `Glaubt ja nicht, der Kampf gelte nur der einen Entscheidung: Knechtschaft oder Freiheit; nein, es droht euch der Verlust des Reiches, und Gefahr bedeutet der Haß, den ihr euch durch eure Herrschaft zugezogen habt. Von ihr zurückzutreten steht euch nicht mehr frei, falls etwa jemand voll Angst über die Lage mit einem solchen Vorschlag den friedliebenden, biederen Bürger spielen will. Denn eine Art Tyrannis ist ja bereits die Herrschaft, die ihr ausübt; sie zu ergreifen mag ungerecht scheinen, sie loszulassen (ist) aber lebensgefährlich.´“
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Schlachtszene im antiken Krieg |
Was hier und in der Pathologie noch als persönlicher Kommentar (des Autors und seines Personals) erscheint, verdichtet sich im Melier-Dialog zum nómos, zur Gesetzmäßigkeit:
„Götter wie Menschen, Individuen wie Staaten unterliegen dem Zwang, wo immer sich Gelegenheit dazu bietet, zu Macht und Herrschaft zu drängen. Jeder Staat strebt nach Expansion, jede Großmacht entwickelt sich zur Tyrannis, zum Gewaltstaat. Nur Ausgreifen sichert das Überleben, mit dem Ende der Expansion bricht auch die Großmacht zusammen.
Recht gilt nur, wo sich Gleichstarke paralysieren. Es ist ein bloßes Instrument der Mächtigen, um die Schwachen schwach zu halten, eine Spielregel, die allein für Untertanen gemacht ist. Der Schwache fügt sich oder versucht, der Stärkere zu werden. Sein Mittel ist wie das des Mächtigen die Gewalt und diese hat (…) viele Namen: Tyrannis oder arché, Befreiung oder Unterwerfung, Krieg oder Terror, doch nur einen Ursprung. Das gemeinsame Movens, das kein Gut und kein Böse kennt, jegliche moralische Wertung verbietet und keine Hoffnung zuläßt, ist die anthropeía phýsis, die menschliche Natur.“
Zitate aus: Wolfgang Will: Herodot und Thukydides. Die Geburt der Geschichte, München 2015 (C.H. Beck)