Montag, 31. Oktober 2011

Ernest Renan und die Kultur

Am 11. März 1882 hielt der große französische Gelehrte Ernest Renan einen Vortrag an der Sorbonne mit dem Titel "Was ist eine Nation?". Auf der Suche nach ihrem vermeintlich konstitutiven Element macht Renan folgende Bemerkungen über den Zusammenhang zwischen "Nation" und "Kultur":

"Man schließt sich in einer bestimmten, für national gehaltenen Kultur ein, man begrenzt sich. Man verlässt die freie Luft, die man in der Weite der Menschheit atmet, um sich in die Konventikel seiner Mitbürger zurückzuziehen. Nichts ist schlimmer für den Geist, nichts ist schlimmer für die Zivilisation. Geben wir das Grundprinzip nicht auf, dass der Mensch ein vernünftiges und moralisches Wesen ist, ehe er sich in dieser oder jener Sprache einpfercht, ... Mitglied dieser oder jener Kultur ist.

Ehe es die französische, deutsche, italienische Kultur gibt, gibt es die menschliche Kultur.

Die großen Menschen der Renaissance waren weder Franzosen noch Italiener noch Deutsche. Durch ihren Umgang mit der Antike hatten sie das wahre Geheimnis des menschlichen Geistes wiedergefunden, und ihm gaben sie sich mit Leib und Seele hin. Wie gut sie daran taten!" (29)

Renans Feststellungen haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Mit Hilfe des Begriffes "Kultur" ziehen Menschen bis heute noch immer eine scharfe Trennlinie zwischen ihrem eigenen Bereich und dem Rest der Welt. Jede Kultur strebt letztlich nach Hegemonie, nach dem Monopol über die Normen und Werte, nach Uniformität in dem Bereich, der ihrem Einfluss unterworfen ist.

Aber: Was ist das eigentlich, was mit dem Begriff "Kultur" beschrieben wird bzw. werden soll? Es ist kaum überraschend, dass sich in der Literatur eine überbordende Anzahl von Kulturbegriffen findet, die sich alle da­durch auszeichnen, dass der durch sie jeweils eröffnete Inter­pre­tationsspielraum praktisch keine Grenzen kennt: Kultur also als "Unschärfejoker" (Baecker)?

Letztendlich kann jeder Sachverhalt, jeder Tatbe­stand und jeder Zusammenhang, der auch nur irgendetwas mit Men­schen, der Art und Weise ihres Zusammenlebens oder ihren Hervorbringun­gen zu tun hat, als „Kultur“ begriffen werden. Kein noch so ausgefeilter Definitionsversuch kann etwas daran ändern, dass das als „Kultur” bezeichnete thematische Feld völlig diffus ist.

Weil also unklar ist, was gemeint ist, wenn von „Kultur” gesprochen wird, kann sich leicht der jeweils aktuell dominierende Kulturbegriff unter der Hand praktisch in jeder konkreten Situation, in der es um Politik und Macht im weitesten Sinne geht, durchsetzen.

Anstatt den hoffnungslosen Versuch zu unternehmen, "Kultur" inhaltlich zu bestimmen, erscheint es sinnvoller, „Kultur” im Anschluss an Luhmann als eine bestimmte Art und Weise „auf die Welt zu blicken” zu begreifen, als einen bestimmten Umgang also mit den Sachver­halten und Tatbeständen des menschenlichen Zusammenlebens, als eine in die Gesellschaft eingezogene Ebene für vergleichende Beobachtungen und Beschreibungen.

Verabschieden wir uns also von dem fruchtlosen Versuch, Kultur immer wieder neu definieren zu wollen. Vielmehr sollten wir „Kultur“ als das Interesse am Vergleich beschreiben, als eine Vergleichstechnik (Baecker) und damit als ein übergreifendes Konzept für ein auf Vergleiche ausgerichtetes Zusammenhangswissen.

Ein solches vergleichendes Wissen gewinnt um so mehr an Bedeutung, wie im Zuge der Globalisierung "das kulturell Andere" anscheinend zu einem Problem wird, das Unruhe und Verunsicherung hervorruft. Auch daran hat sich seit Ernest Renans Zeiten nicht viel geändert.

Zitate aus: Ernest Renan: Was ist eine Nation?, Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne. Reihe EVA Reden, Bd. 20, Hamburg 1996 (Europäische Verlagsanstalt)  -   Weitere Literatur zum Thema: Dirk Baecker: Kultur, begrifflich, in: Wit­tener Diskussionspapiere, Neue Folge, Heft 19, Witten 1999 (Verlag der Universität Witten) -- Zygmunt Baumann, „Natur und Kultur“; in: Ders.: Vom Nutzen der Soziologie, Frankfurt am Main 2000 (Suhrkamp), 198-222 -- Niklas Luhmann, Kultur als historischer Begriff, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissensso­zio­logie der modernen Gesellschaft. Bd. 4, Frankfurt am Main 1995 (Suhr­kamp), 31‑54.

Sonntag, 30. Oktober 2011

Karl Raimund Popper und die Falsifikation

Wie für John Stuart Mill so ist Kritikfreudigkeit auch für Karl Raimund Popper ein Zeichen von Wahrhaftigkeit. In seinem Werk Die Logik der Forschung (1958) entwickelt Popper die bekannte Idee der Falsifikation für den Bereich der Forschung und Lehre. 

 
Popper zufolge kommen wir - ausgehend von dem Horizont der Ungewissheit, in dem wir leben - nicht durch Induktion, also nicht durch Anhäufung von Beobachtungen ("Tatsachen") der Wahrheit näher. Fortschritte macht unsere Erkenntnis nur auf dem Weg der Deduktion:

"Was wir uns klarmachen müssen, ist, dass wir es in der Wissenschaft immer mit Erklärungen, Voraussagen und Prüfungen zu tun haben, und dass die Prüfungsmethode für Hypothesen immer die gleiche ist ... Aus den zu prüfenden Hypothesen – etwa einem allgemeinen Gesetz – und einigen anderen Sätzen, die in diesem Zusammenhang als unproblematisch aufgefasst werden – etwa irgendwelche Randbedingungen -, deduzieren wir die Prognose. Wir konfrontieren dann diese Prognose, wann immer es möglich ist, mit den Ergebnissen experimenteller oder anderer Beobachtungen. Übereinstimmung mit diesen gilt als Bewährung der Hypothese, aber nicht als endgültiger Beweis; klare Nichtübereinstimmung gilt als Widerlegung oder Falsifikation.“ (118)

Für Popper sind Theorien also letztlich nur Scheinwerfer, die einen ganz bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit, aber niemals die gesamte Realität beleuchten.

Theorien enthalten keine objektiven Erkenntnisse, sondern sind nur subjektive Urteile über wissenschaftliche Resultate, also lediglich wissenschaftliche Meinungen. Theorien sind Hypothesen, die falsch sein können - und die Erfahrung aus der Vergangenheit zeigt, dass die meisten von ihnen falsch waren.

„Die Prüfungen führen zur Auswahl von Hypothesen, die die Prüfungen bestanden haben, oder zur Eliminierung derjenigen Hypothesen, die sie nicht bestanden haben und die deshalb verworfen werden ... Alle Prüfungen lassen sich als Versuche auffassen, falsche Theorien auszumerzen, die schwachen Punkte einer Theorie zu finden, um sie zu verwerfen, wenn sie durch Prüfung falsifiziert wird. ... Doch gerade weil es unser Ziel ist, Theorien so gut zu begründen, wie wir können, müssen wir sie so streng prüfen, wie wir können, d.h. wir müssen versuchen, ihre Fehler zu finden, sie zu falsifizieren.“ (119)

Für Popper geben diese Beobachtungen dennoch keinen Anlass zum Skeptizismus: Die Falsifikation führt vielmehr dazu, neue und bessere Hypothesen zu entwickeln. Fortschritt in der Erkenntnis und in der Wissenschaft besteht also in der Widerlegung alter Theorien und deren Überwindung durch neue. Wissenschaft ist und bleibt ein Prozess von trial and error.


„Deswegen bedeutet die Entdeckung von Fällen, die eine Theorie bestätigen, sehr wenig, wenn wir nicht ohne Erfolg versucht haben, Fälle zu finden, die sie widerlegen. Denn wenn wir unkritisch sind, werden wir stets finden, was wir suchen: Wir werden nach Bestätigungen Ausschau halten und sie finden, und wir werden über alles, was unseren Lieblingstheorien gefährlich werden könnte, hinwegsehen ... Wenn wir wollen, dass die Methode funktioniert, ... dann müssen wir dafür sorgen, dass ihr Kampf ums Dasein hart ist.“ (119f)


In letzter Konsequenz verpflichten die Gedanken Poppers dazu, die Freiheit des Denkens unter allen Umständen zu verteidigen. Übertragen auf den Bereich der Politik bedeutet Poppers Lehre, jeden Dogmatismus zu bekämpfen, der in der Praxis zum Totalitarismus führt. Auch hier gilt es, das Prinzip von Versuch und Irrtum durchzusetzen gegen die Ansprüche von selbsternannten Philosophenkönigen.

Zitate aus: Karl Raimund Popper: Das Elend des Historizismus,Tübingen 2003 (Mohr Siebeck)

Samstag, 29. Oktober 2011

John Stuart Mill und die Kritikfreudigkeit

John Stuart Mill widmet sich in seinem berühmten Essay Über die Freiheit (1859) der Frage, warum innerhalb der Menschheit die vernünftigen Meinungen und Handlungen überwiegen.

Aus heutiger Sicht muss uns dieser Optimismus verblüffen. Für Mill dagegen steht fest, dass der menschliche Geist die Eigenschaft zur Fehlerverbesserung besitzt. Aus dieser Eigenschaft ergibt sich nach Mill zugleich die Verpflichtung zu aufrichtiger Kritikfähigkeit.

"Die Menschen sind ja imstande, ihre Fehler gut zu machen durch Diskussion und durch Erfahrung. Nicht durch Erfahrung allein, vielmehr müssen sie sich untereinander besprechen, um gewiss zu werden, wie die Erfahrung zu deuten sei. Irrige Meinungen und Gewohnheiten weichen allmählich der Macht der Tatsachen und der Gründe, aber beide müssen, damit sie irgendwelchen Eindruck auf den Geist machen, ihm bewusst werden. (...)

Die ganze Kraft und der Wert des menschlichen Urteils beruht also auf der einen Eigenheit, dass der Mensch, wenn im Irrtum, zurecht gewiesen werden kann, darum kann dem menschlichen Urteil nur so lange Vertrauen geschenkt werden, als die Mittel der Zurechtweisung stets bereit gehalten werden." (37)

Die Worte von Mill enthalten einige Gedanken von großer Bedeutung:

Es sind zunächst eigene, häufig negative Erfahrungen, die uns unsere Fehler schmerzhaft bewusst werden lassen. Gleichwohl eröffnen uns eben diese Erfahrungen die Chance, die begangenen Fehler nicht zu wiederholen.

Das allein aber reicht nach Mill nicht. Wahre Kritikfähigkeit zeigt sich erst im Gespräch, in der Diskussion mit anderen Menschen. Dabei geht es nicht nur um eine kritische Deutung der eigenen Erfahrung, sondern letztlich um bewusste Suche und Korrektur unserer Irrtümer auf der Grundlage evidenter Fakten und vernunftgestützer Argumentation.

Sowohl die kritische Deutung unserer Erfahrungen als auch die daraus resultierende Verpflichtung zur Fehlerverbesserung stellen hohe Anforderungen an unsere Kritikfähigkeit. Im Zweifelsfall müssen wir selbst gewährleisten, dass die "Mittel der Zurechtweisung" zur Verfügung stehen. Kritikfähigkeit wird so zur Kritikfreudigkeit.

Der Lohn für solch eine Geisteshaltung ist klar: Klare Urteilskraft und vor allem Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit sind die Früchte der Kritikfreudigkeit:

"Worauf beruht es, dass das Urteil eines Menschen wahrhaft vertrauenswürdig erscheint? Es kommt daher, dass er seinen Geist für die Kritik an seiner Meinung und an seinem Handeln offen gehalten hat, daher, dass er sich gewöhnt hat, auf alles zu hören, was gegen ihn vorgebracht werden konnte. Er hat sich das, was an dieser Kritik richtig war, zunutze gemacht, und er hat sich und gelegentlich auch anderen zum Bewusstsein gebracht, was an seinem Urteil etwa fehlerhaft war. Er hat gewusst, dass der einzige Weg, auf dem ein Mensch dazu kommt, einen Gegenstand ganz genau zu kennen, der ist, dass er über diesen Gegenstand die Meinungen der verschiedensten Menschen höre und alle Gesichtspunkte studiere, unter denen die Sache von den verschiedensten Charakteren betrachtet werden kann." (37f)

Die Forderung Mills lassen sich auf nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche beziehen, auf die politischen Auseinandersetzung wie auf persönliche Beziehungen, auf Forschung und Wissenschaft ebenso wie auf Lehre und Erziehung.

"Kein Weiser hat seine Weisheit jemals auf anderem als auf diesem Wege gewonnen, es liegt nicht in der Natur des menschlichen Geistes, auf andere Art klug zu werden." (37f)

Das Gegenteil von Kritikfreudigkeit ist Dogmatismus. Und so verbirgt sich hinter den zitierten Zeilen - wie im gesamten Werk Über die Freiheit - ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit des Individuums, seine Freiheit des Denkens und der Meinung:

"Wenn die ganze Menschheit eine übereinstimmende Meinung verträte, und nur eine Person wäre vom Gegenteil überzeugt, so hätte die Menschheit nicht mehr Recht, den Einen zum Schweigen zu bringen, als er, wenn ihm die Macht dazu zustände, das Recht hätte, der ganzen Menschheit den Mund zu verbieten. (...)

Aber das eigentliche Übel, wenn man eine Meinung zum Schweigen bringt, besteht darin, dass es ein Raub an der Menschheit ist, an der künftigen und an der, die jetzt lebt, und zwar noch mehr an den Menschen, die von der Meinung abweichen, als an denen, die sich zu ihr bekennen.

Wenn jemand einer Meinung das Gehör verweigert, weil er überzeugt ist, dass sie falsch sei, so setzt er voraus, dass seine Überzeugung gleichbedeutend mit absoluter Sicherheit sei. Eine Diskussion zum Schweigen zu bringen bedeutet immer: sich Unfehlbarkeit anmaßen.“ (32f)

Alle Zitate aus: J. S. Mill, Über die Freiheit, Köln 2009 (Anaconda)

Freitag, 28. Oktober 2011

Werner Jaeger und die Paideia

Im Jahre 1933 erschien der erste von insgesamt drei Bänden des Hauptwerkes von Werner Jaeger. Die Paideia war ein Buch, das wie kein zweites den Bildungsgedanken der griechischen Antike als Fundament der abendländischen Kultur idealisierte. 

Werner Jaeger war einer der führenden klassischen Philologen des zwanzigsten Jahrhunderts, der 1934 aufgrund seiner distanzierten Haltung zum Nationalsozialismus in die USA emigrierte. Dort wurde er der erste Leiter des Institute for Classical Studies an der Havard University.


Nach Jaeger hat die Kultur im Griechentum schlechthin ihren Ursprung: "So hoch wir auch die künstlerische, religiöse und politische Bedeutung der früheren Völker schätzen mögen, beginnt doch die Geschichte dessen, was wir als Kultur in unserem bewussten Sinne bezeichnen können, nicht eher als bei den Griechen." (3)

In diesem Zusammenhang sei Paideia gleichbedeutend mit der griechischen Bildung. Die Besonderheit der Griechen in der Geschichte der menschlichen Erziehung beruhe "auf dem allbeherrschenden Formtrieb, mit dem der Grieche nicht nur an künstlerische Aufgaben, sondern ebenso an die Dinge des Lebens herangeht, und auf dem philosophischen, das Allgemeine erfassenden Sinn für die tiefer liegenden Gesetze der menschlichen Natur und die aus ihnen entspringenden Normen der persönlichen Seelenführung und des Aufbaus der Gemeinschaft." (12)

Das höchste Kunstwerk, das es zu bilden gelte, aber sei der Mensch. Zwar sei Erziehung zunächst keine individuelle Angelegenheit, "sondern ihrem Wesen nach Sache der Gemeinschaft" (2), gleichwohl entspringe die weltgeschichtliche Bedeutung der Griechen als Erzieher "aus der neuen bewussten Erfassung der Stellung des Individuums in der Gemeinschaft." (8) 

"Unser deutsches Wort Bildung bezeichnet das Wesen der Erziehung am anschaulichsten im griechischen, platonischen Sinne. Es enthält in sich die Beziehung auf das künstlerisch Formende, Plastische wie auf das dem Bildner innerlich vorschwebende normative Bild, die 'Idea' oder den 'Typos'. Überall wo später dieser Gedanke in der Geschichte wieder auftaucht, ist er ein Erbe der Griechen." (12f)

Zitate aus: Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin 1989 (de Gruyter)