Donnerstag, 9. April 2020

Thukydides und die Attische Seuche



Wer die Vergangenheit nicht kennt, 
kann die Gegenwart nicht verstehen 
und die Zukunft nicht gestalten.

Paideia in Zeiten von Corona ...


Im Jahr 431 v. Chr. standen sich mit dem Ersten Attischen Seebund und dem Peloponnesischen Bund zwei in etwa gleichstarke Machtblöcke unversöhnlich und voller Misstrauen gegenüber. Damals nahmen die Führungsmächte Athen und Sparta den offenen Kampf um die innergriechische Hegemonie auf – aber damit letztlich auch um die Vorherrschaft im östlichen Mittelmeerraum.

Als Peleponnesischer Krieg ist dieser Konflikt in die Geschichtsbücher eingegangen, ein Konflikt, der zu Lande und zu Wasser ausgetragen wurde, und der sich, von einigen kürzeren Phasen der Waffenruhe unterbrochen, bis ins Jahr 404 v. Chr. hinziehen und so viele Staaten involvieren sollte, daß man in der Forschung gelegentlich sogar von einem „antiken Weltkrieg“ spricht.

Der Athener Thukydides hat in einem einzigartigen Werk früher Geschichts-schreibung den Verlauf des Krieges aufgezeichnet aufgezeichnet.

Thukydides (454 - 399 v. Chr.)

Folgt man Thukydides, dann wird man Zeuge jener militärischen Katastrophe Griechenlands, die mit unvorstellbarem menschlichen Leid, der Aufkündigung aller Rechtsgrundsätze im zwischenstaatlichen Verkehr und brutalster Durchsetzung der Positionen des Stärkeren einherging.

So wie in den Perserkriegen im frühen 5. Jahrhundert die eigentlichen Kriegs-handlungen auf wenige Kampagnen beschränkt waren, so wurde auch im sogenannten Ersten Peloponnesischen Krieg, der zwar von 457 bis 446 dauerte, immerhin 451 ein fünfjähriger Waffenstillstand abgeschlossen wurde. Dagegen fanden während des fast zehnjährigen sogenannten Archidamischen Krieges (431 v. Chr. bis 421 v. Chr.) nahezu ununterbrochen Kämpfe statt.

Thukydides hat eindringlich beschrieben, wie der Krieg durch katastrophale und unerwartete existentielle Belastungen, aber auch durch seine bloße Dauer die Mentalitäten der vom Kriegsgeschehen betroffenen Menschen in grundsätzlicher Weise veränderte.

Zu den unerwarteten Ereignissen gehörte zunächst die Pest von 430. Die Umstände des Krieges lösten die Pest zwar nicht aus, aber die kriegsbedingte, von Perikles betriebene Übersiedlung der Landbevölkerung nach Athen, d.h. in das Stadtgebiet innerhalb der „Langen Mauern“ hatte auf jeden Fall zur katastrophalen Zuspitzung der Lage beigetragen.

Es bedrückte sie zusätzlich zur gegenwärtigen Not besonders auch das Zusammenziehen vom Land in die Stadt, und zwar vor allem die, die hinzu-gekommen waren. Denn da keine Häuser zur Verfügung standen, mußten sie im Sommer in stickigen Verschlägen wohnen und erlagen der Seuche ohne jede Ordnung. (Thuk. 2,52)

Thukydides konnte die Pest – im Griechischen steht übrigens schlicht loimos (Seuche) – deshalb äußerst genau beschreiben, weil er an ihr selbst erkrankt war.

Seine genaue Beschreibung lässt sich allerdings mit einer heute bekannten Krankheit nicht in Verbindung bringen. Das hat entweder damit zu tun, dass man Krankheiten vor 2500 Jahren völlig anders wahrnahm als heute oder dass ganz andere Erreger virulent waren.

Thukydides schildert aber nicht nur medizinisch exakt den Verlauf der Seuche, sondern vor allem die schrecklichen Szenen im zwischenmenschlichen Bereich, die sich während der Seuche abspielten. Die Pest ist nach seiner Darstellung eine der vielen kriegsbedingten Extremsituationen, die den dünnen Lack der Zivilisation absprengt. 

Die Attische Seuche (Gemälde von Michiel Sweerts, um 1653)

Der völlige Zusammenbruch jeglicher sozialen und moralischen Ordnung wird als die eigentliche Katastrophe empfunden:

Die Leichen lagen im Tod übereinander, Halbtote wälzten sich auf den Wegen und um alle Brunnen, gierig nach Wasser. Die Heiligtümer, in denen sie zelteten, lagen voller Toter, die dort drinnen gestorben waren. (...)

Überhaupt machte die Krankheit in der Stadt auch sonst den Anfang mit der Verachtung aller Werte. Leichter wagte man nämlich das, was man früher unterdrückt hatte, nämlich nach bloßer Lust zu handeln. Denn sie sahen, wie schnell die Wohlhabenden und plötzlich Sterbenden mit denen wechselten, die zuvor nichts hatten und nun sofort das Hab und Gut jener besaßen.

So hielten sie es für richtig, rasche Genüsse zur Annehmlichkeit zu erleben, in der Meinung, dass Leib und Geld in der gleichen Weise völlig vergänglich waren. (Thuk. 2,52f)

Das Interesse, das Thukydides an der Pest hatte, erklärt sich offenkundig auch mit ihrer Bedeutung für das Verhältnis zwischen dem Demos und dem führenden Politiker Perikles.

Vor allem aber illustriert die Pestbeschreibung einen Einzelaspekt des apokalyptischen Vernichtungszenarios, der in den Augen des Thukydides den Peloponnesischen Krieg zum bedeutendsten Ereignis der Geschichte machte, weil die Griechen nicht nur von den eigentlichen Kriegshandlungen, sondern auch von Bürgerkrieg, Erd- beben, Dürre und eben der Pest heimgesucht wurden (Thuk. 1,23).

Die Ärzte konnten nicht helfen, da sie anfangs die Krankheit nicht einmal erkannten - sie starben selber am zahlreichsten, weil sie am meisten mit den Kranken in Berührung kamen - noch irgendwelche anderen menschlichen Mittel. (Thuk. 1,47)

Möglicherweise wollte Thukydides mit der Pestbeschreibung auch auf übergeordnete Zusammenhänge hinweisen. So hat man etwa angenommen, dass Thukydides mit der Darstellung der Pest und der furchtbaren Umstände beweisen wollte, daß der Peloponnesische Krieg im übertragenen Sinn als Krankheit aufzufassen sei, die die griechische Staatenwelt erfasste.

Das vermutlich berühmteste Opfer der Seuche: Perikles (490 - 429 v. Chr.)

Insbesondere gerät die Rolle des athenischen Parlaments, der Volksversammlung, in den Blick, die sich – nicht zuletzt unter dem Einfluss von „Demagogen“, welche die Stimmung in der Versammlung noch anheizten – vielfach zu falschen Entscheidung mit furchtbaren Konsequenzen hinreißen ließ

Die Tatsache, dass die Pestbeschreibung auf die berühmte „Leichenrede“, den Epitaphios, folgt, mit dem der thukydideische Perikles die Gefallenen des Jahres 430 durch ein Lob auf Athen ehrt, deutet möglicherweise darauf hin, daß Thukydides durch diesen Kontrast seine von Anfang han kritische Haltung gegenüber dem im Peloponnesischen Krieg zugrundegegangenen perikleischen Athen habe offenlegen wollen.

Explizit hat Thukydides freilich der Pest einen über sich selbst hinausweisenden oder bedeutungsvollen Charakter nicht zugewiesen. Als Geschehen war die Seuche in den Augen des Thukydides schrecklich genug. Seiner Ansicht nach "bedrängte nichts anderes mehr als diese die Athener und schädigte nichts mehr ihre Macht" (Thuk.3,87,2). 

Die Attische Seuche raffte mindestens ein Viertel  Bevölkerung Athens dahin.


Literatur: Bruno Bleckmann, Der Peloponnische Krieg, München 2007


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