Dienstag, 17. September 2024

Harald Welzer und die Notwendigkeit von Orten anlassloser Vergemeinschaftung

Ausgehend von dem 2016 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Spielfilm “Ich, Daniel Blake” von Ken Loach, in dem ein wegen eines Herzinfarktes arbeitsunfähiger Zimmermann mit den britischen Sozialbehörden kämpft (… verliert), hält Harald Welzer in seinem Buch “Zeiten-Ende” ein flammendes Plädoyer für eine Gesellschaft, in der analoge Formen des Zusammenkommens erwünscht und möglich sind, in der Begegnungsräume des lebendigen Sozialen eröffnet und Orte anlassloser Vergeimschaftung geschätzt und gefördert werden.

Die Erosion des Gemeinsamen ist für Welzer die vermutlich größte Gefahr für die Demokratie, die individuelle Freiheit und den Rechtsstaat. Bedauerlicherweise ist die Würde des Menschen heutzutage anfechtbar geworden, weil den Menschen – wie Daniel Blake in dem Film – die würde erst genommen werden muss, um sie anschließend “gefügig für all den Quatsch zu machen”, dem man im Alltag begegnet.

Daniel Blake: Den Menschen die Würde nehmen und sie dann gefügig machen ...


Ein Beispiel für diesen “Quatsch”: “Wir alle hatten noch nicht eine Sekunde im Leben Lust darauf, uns die Scheißmusik der entwürdigenden Warteschleifen anzuhören, die es nur deshalb gibt, weil Unternehmen und Verwaltungen aus Gründen der Kosteneffizienz die stetige Absicht hegen, Menschen schlecht zu behandeln. Überhaupt, so zeigt das Beispiel der allgegenwärtigen Warteschleifen, geht der Wunsch nach Kosteneffizienz prinzipiell damit einher, dass Menschen schlecht behandelt werden. 

 

Inzwischen dürfen Sie sich als Mensch nicht einmal mehr die Hoffnung machen, nach all der Scheißmusik und all den beschissenen Zwischenansagen (`Wussten Sie schon, dass Sie auch online…´) einen anderen Menschen sprechen zu können, sondern man mutet Ihnen zu, mit einem Bot, also einem Algorithmus zu kommunizieren. Als wären Sie ein kompletter Idiot. Und als wären Sie nicht einmal mehr das, müssen Sie bei Ihrem innigsten Wunsch, dafür zu bezahlen, dass Sie gerade als kompletter Idiot behandelt wurden, erst mal nachweisen, dass Sie `kein Roboter´ sind. Ich denke, man kann mit Sicherheit sagen, dass eine Kultur, die an diesem Punkt angekommen ist, keine Zukunft hat.”

 

Es ist für Welzer mehr als offensichtlich, dass man die Menschen zunächst möglichst weitgehend vereinsamen und voneinander isolieren muss, weil dies die Voraussetzung für die Maximierung von Effizienz, insbesondere mit Blick auf "das Digitale": “In Zeiten der Digitalisierung von Allem und Jedem gelingt dies in umfassendem Maße, und auch wenn die sogenannten sozialen Netzwerke in totalitären Staaten oft die Instrumente zur Organisation von Protest bilden, sind sie generell doch ein Mittel, die Menschen zu dissoziieren, von Vergemeinschaftung abzuhalten. Und sie algorithmisch in die berühmten Filterblasen einzusperren, in denen sie in perfekter Redundanz permanent gespiegelt bekommen, was sie ohnehin schon denken und glauben.”

 

Orte anlassloser Vergemeinschaftung: Markthallen

Gerade mit Blick auf die Durchsetzung einer gebetsmühlenartig behaupteten erwünschten “digitalen Kultur” wäre in einer lebendigen Demokratie daran zu erinnern, “dass es die Gesellschaft ist, die den Gebrauch definiert, den sie von einer Technologie machen möchte. Und nicht die Technologie, die definiert, welchen Gebrauch sie von der Gesellschaft machen möchte.”

 

In diesem Zusammenhang sei an die permanente Belästigung durch Cookies, Updates, Erinnerungen, Hinweise und ständige Werbung erinnert, was das Prinzip der Entwürdigung so alltäglich macht, dass man seine Niedertracht gar nicht mehr bemerkt. Dazu gehören ebenfalls andere Nebenwirkungen der digitalen Transformation, z.B. “die dauernde Anforderung, sich mit all den vorgeblichen Innovationen, Disruptionen und Angeboten zur Verbesserung von irgendwas zu befassen, also eine dauernde Ablenkung. Und zum anderen die Dissoziation, also die Verhinderung von Vergemeinschaftung.”

 

Welzer setzt dagegen: Eine Demokratie braucht statt einer unbegrenzten Menge digitaler `Communities´ “vor allem analoge Formen des Zusammenkommens. Das ist die anlasslose Vergemeinschaftung. Sie bedeutet, zwanglos und ohne Angst vor persönlichen Unterschieden zusammenkommen zu können.” Es geht letztlich um die Schaffung von Orten der “Ausübung sozialer Aktivitäten, besser: der Einübung des Sozialen.”

 

“Für das lebendige Soziale muss es Gelegenheitsstrukturen geben – das Gartenfest, das Straßenfest, die Nachbarschaft, die Gemeinschaftsflächen in Mehrfamilienhäusern, die Schwimmbäder, das Theater, das Gemeindezentrum usw. (…) Was man dafür braucht, ist nicht so sehr technische Intelligenz, sondern soziale. Die hat ihren Wert nicht in sich, sondern findet ihren Maßstab in der Ermöglichung guten Lebens in der Zukunft.”

 

Orte anlassloser Vergemeinschaftung: Town-Hall-Meeting

Potenziale für die anlasslose Vergemeinschaftung - darunter Gemeinschafts-gärten, Flussschwimmbäder, Markthallen und Wochenmärkte – müssen in einer lebendigen Demokratie ebenso gefördert werden wie die Bereitstellung von öffentlichen Räumen (“Town-Halls”), in denen die gemeinsamen Angelegen-heiten - altgriechisch “ta politiká” – auch gemeinsam be- und ausgehandelt werden können.

 

Es gibt so viele “Formate der Assoziation jenseits von Kaufzwang, Mitgliedschaft und der berühmten `Vernetzung´: Menschen kommen zusammen aus dem einfachen Grund, dass es gut ist, zusammenzukommen. (…)

 

Man kann umgekehrt sagen: Je mehr Vergemeinschaftung durch Vereinzelung gefährdet wird, durch die Dissoziation der Menschen im Netz, durch (…) Finanzialisierung aller denkbaren Aktivitäten, desto mehr muss Sorge dafür getragen werden, dass es analoge Orte der lebendigen Begegnung gibt. Dazu gehören übrigens auch Kneipen, Kioske, Schützenfeste.

 

Bier gibt es nur analog, nie digital.”

 

Orte anlassloser Vergemeinschaftung: "Bier gibt es nur analog, nie digital!"

 

Zitate aus: Harald Welzer: ZEITEN ENDE. Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr, Frankfurt a.M. 2023 (Fischer)

 

Samstag, 17. August 2024

Sokrates, Platon und das Erwachsenwerden

Von Fichte stammt das Urteil, dass unterwürfige Seelen sich für ein naturalistisches System entscheiden, das ihre Servilität rechtfertige, während Menschen von stolzer Gesinnung nach einem System der Freiheit greifen. Welche Philosophie man wähle, hängt also davon ab, was für ein Mensch man ist.

Ausgehend von dieser Beobachtung beschreibt Peter Sloterdijk verschiedene philosophische Temperamente von Platon bis Foucault, eine Galerie von Charakterstudien und intellektuellen Portraits, die zeigen, wie sehr Nietzsche im Recht war, wenn er notierte, alle philosophischen Systeme seien immer auch so etwas wie unbemerkte Memoiren und Selbstbekenntnisse ihrer Verfasser gewesen.

 

Von Menschen mit stolzer Gesinnung oder von unterwürfigen Seelen ...

In jedem Fall markieren Sokrates und Platon für Sloterdijk den Durchbruch einer neuen Erziehungsidee, denn sie treten an gegen den Konventionalismus und Opportunismus der Rhetoriklehrer und der Sophisten und für eine umfassende Neuprägung des Menschen hervor. Paideia oder Erziehung als Formung des Menschen für das Gemeinwesen versteht sich explizit auch als ein Programm der Philosophie als politischer Praxis.Daran lässt sich auch ablesen, dass die Entstehung der Philosophie nicht zuletzt durch die Heraufkunft einer neuen, machtgeladenen Weltform bedingt war, die der griechsichen Stadtstaaten!

Diese erzwang eine Formung des Menschen in Richtung auf Politiktauglichkeit. Insofern darf man behaupten, “daß die klassische Philosophie ein logischer und ethischer Initiationsritus für eine Elite junger Männer – in seltenen Fällen auch für Frauen – gewesen ist; diese sollten es unter der Anleitung eines fortgeschrittenen Meisters dahin bringen, ihre bisherigen bloßen Familien- und Stammesprägungen zu überwinden” zugunsten einer weitblickenden und großgesinnten Menschlichkeit.

So sei die Philosophie “gleich an ihrem Anfang unvermeidlich eine Initiation ins Große, Größere, Größte; sie präsentierte sich als Schule der universalen Synthesis; sie lehrt, das Vielfältige und Ungeheure in einem guten Ganzen zusammenzudenken; sie führt ein in ein Leben unter steigender intellektueller und moralischer Belastung; (…)  sie will aus ihren Schülern Bewohner einer logischen Akropolis machen; sie weckt in ihnen den Trieb, überall zu Hause zu sein.” Die griechische Tradition verwendet dafür den Terminus “σωφροσύνη“ (sophrosyne – Besonnenheit), lateinisch humanitas.

Sokrates - Wo Ambivalenz herrscht, fallen naiv-positive Bilanzen schwer

Sofern die antike philosophische Schule also paideia ist, Einführung in die erwachsene Besonnenheit, die Humanität bedeutet, vollzieht sie eine Art Übergangsritus zur Formung eines  des polistauglichen  Menschen. Die Werte der paideia und der humanitas sind also weit mehr als nur unpolitische Charakterideale.


Denn: “Die klassische Philosophie stellte ihren Adepten in Aussicht, sie könnten es in einem chaotischen Kosmos zur Heiterkeit bringen; zum Weisen wird, wer das Chaos als Maske des Kosmos durchschaut. Wer in die Tiefenordnungen durchblickt, gewinnt Verkehrsfähigkeit im Ganzen; kein Ort im Sein ist ihm mehr ganz fremd; darum ist die Liebe zur Weisheit die Hochschule der Exilfähigkeit. Indem sie den Weisen so witzig wie programmatisch als kosmopolités, als Weltallbürger, bezeichnete, versprach die Philosophie Überlegenheit über ein Universum, das seiner Form nach schon ein wüster Markt der Götter, der Bräuche und der Meinungen war – zugleich ein Schlachtfeld, auf dem mehrere Staatswesen um die Hegemonie kämpften. (…)

 

In moderner Sprache würde man die klassische Philosophie mithin als Orientierungsdisziplin bezeichnen; wollte sie für sich werben, so konnte sie es vor allem mit dem Versprechen tun, den Wirrwarr der vorgefundenen Verhältnisse durch einen geordneten Rückgang auf sichere Grundlagen zu übersteigen – in heutiger Terminologie spräche man von Komplexitätsreduktion.” Der Philosophie also als “Eliminator von schlechter Vielfalt”.

 

Wer zu Zeiten von Sokrates und Platon erwachsen werden wollte, mußte sich darauf vorbereiten, in einem geschichtlich kaum gekannten Ausmaß Macht zu übernehmen – oder zumindest die Sorgen der Macht zu seinen eigenen zu machen.

 

“Nach Sokrates und Platon kann als erwachsen nicht mehr nur derjenige gelten, von dem die Ahnen und Götter des Stammes Besitz ergriffen haben. Die städtischen Lebensformen erfordern einen neuen Typus von Erwachsenen, dem die Götter nicht zu nahe treten – das heißt zugleich: Sie stimulieren eine Form von Intelligenz, die von Tradition und Wiederholung auf Forschung und »Erinnerung« umstellt. Offenbarungen und Evidenzen entstehen jetzt nicht mehr durch Ekstasen, sondern durch Schlüsse: Die Wahrheit selbst hat schreiben gelernt; Satzketten führen zu ihr hin.” Philosophie wird so zu einem “Unternehmen zur Aufhellung des Zwielichts, das wir bevölkern.”

 

    Platon - Philosophie als Aufhellung des Zwielichtes ...

Sloterdijk stellt fest, dass der moderne Ausdruck “Erziehung” nur wenig von diesem Ehrgeiz des ursprünglichen Projekts Philosophie enthalten würde. Dies liege nicht zuletzt daran, weil “die Fundierung des Wissens und Handelns in der `alteuropäischen´ Idee eines höchsten Gutes” aufgegeben wurde. “Der dominierende technologische Pragmatismus der Neuzeit gewann freie Bahn erst, nachdem die metaphysischen Hemmungen, die einem grenzenlosen moralischen und physischen Experimentieren im Weg standen, beiseite geräumt oder zumindest entkräftet waren.”

 

So bringe Modernisierung unvermeidlich einen Fortschritt im Bewußtsein der Haltlosigkeit mit sich. Aber das Moderne als Selbstzweck könne immer nur eine Hilfskonstruktion für Hilflose liefern; sie erzeuge nur Scheinsicherheiten ohne Weiterwissen; auf lange Sicht ruiniere sie die befallenen Gesellschaften durch die Drogen der falschen Gewißheit.

 

Daher empfiehlt es sich, “das Buch des europäischen philosophischen Wissens von neuem aufzuschlagen und den Zeilen und Wegen des klassischen Denkens noch einmal zu folgen – soweit die Kürze des Lebens es uns erlaubt, solche aufwendigen Wiederholungen zu wagen. 

 

Das Motto »Wieder denken« setzt die Aufforderung, neu zu lesen, voraus. Alle fruchtbaren Neulektüren profitieren von den Winkelbrechungen und Perspektiveverschiebungen, die unseren Rückblicken auf die Überlieferung innewohnen, sofern wir bewußte Zeitgenossen der aktuellen Umbrüche in den Wissens- und Kommunikationsverhältnissen der eben entstehenden telematischen Weltzivilisation sind. (…) 


"Wieder denken" und Lektüre ... statt hilfloses Denken in Bildern!

Besseres Wissen gewinnen wir heute nicht, ohne an den Abenteuern teilzunehmen, die bei der Revision der eigenen Geschichte auf uns zukommen. Ein neuer Aggregatzustand von Intelligenz wird auch den alten Schulen des philosophischen Wissens neue Informationen abgewinnen. Platon wieder lesen: Das kann bedeuten, sich darauf einzulassen, mit Platon – und Platon zum Trotz – an der Aktualisierung unserer Intelligenz zu arbeiten.”

 

Zitate aus: Peter Sloterdijk: Philosophische Temperamente. Vom Platon bis Foucault, München 2009 (Diederichs)

Freitag, 9. August 2024

Ulrich Menzel und der Einfluss der Globalisierung auf den Strukturwandel des Parteiensystems

In seinem Buch „Wendepunkte: Am Übergang zum autoritären Jahrhundert“ identifiziert der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel verschiedene Wendepunkte einer Welt in Aufruhr. Die Globalisierung ist entzaubert, die USA und China ringen um die Hegemonie. Wir erleben eine Rückkehr alter Grenzen, der Anarchie der Staatenwelt, des Autoritären (weltweit und in den liberalen Gesellschaften), ja sogar des Krieges in Europa.

 

Ein wichtiger Aspekt dieses Szenariums ist der durch die Globalisierung ausgelöste Strukturwandel des Parteiensystems, insbesondere der Niedergang der Volksparteien.

 

Die Ergebnisse der Bundestagswahl 2021 machen diesen Niedergang eindrucksvoll deutlich: „Während dieser sich für die SPD bereits mit der Bundestagswahl 2009 manifestierte, als sie weniger als 10 Millionen Stimmen erzielte und damit wieder bei der Größenordnung von 1957 angelangt war, bestätigte er sich jetzt auch für die Union, die mit gut 11 Millionen Stimmen schlechter als 1953 abschnitt.“

 

Die neuen Bruchlinien der Globalisierung ...

Eine häufig herangezogene Erklärung bzw. Theorie lautet, daß Volksparteien in sie tragenden sozialen Milieus verankert sein müssen. “Für die SPD war es das gewerkschaftliche Milieu, das nicht nur aus den Gewerkschaften, sondern auch dem dritten Bein der Arbeiterbewegung, den Genossenschaften, bestand, ferner ihrer Presse, den Verlagen, Bildungs- und Sozialeinrichtungen wie Arbeiterwohlfahrt und Arbeiter-Samariter-Bund sowie den vielen Vereinen vom Fußball (Eintracht oder Rot-Weiß) über die Bergmannskapelle bis zu den Taubenzüchtern.” 

 

Für die konservativen Volksparteien wie BVP oder Zentrum bzw. nach 1945 für die CDU/CSU “war es das kirchliche Milieu, das nicht nur aus den Kirchen, dem Kirchenjahr und der Begleitung der Familienfeste von der Taufe bis zur Beerdigung, sondern auch aus den vielen kirchlichen Institutionen bestand vom Kindergarten über die Schule bis zur Alten- und Krankenpflege, den Jugendorganisationen, Kirchenchören und Bibelkreisen. Auch die katholischen Gewerkschaften gehörten dazu.” So habe nach Menzel die Arbeiterschaft im katholischen Ruhrgebiet bis 1933 auch Zentrum und keineswegs nur SPD oder KPD gewählt!

 

Demgegenüber waren die Liberalen nicht in vergleichbar breite Milieus eingebettet, “sondern blieben dem Typus der Honoratiorenparteien mit ihren persönlichen Netzwerken verhaftet, was für die FDP bis heute gilt.”

 

Nur: “In dem Maße, wie der Strukturwandel von der Agrar- über die Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft bis hin zur virtuellen Ökonomie des Internets Platz greift, werden die alten gesellschaftlichen Bruchlinien geschliffen. Der Aufstieg Ost- und Südostasiens zur `Werkbank der Welt´ wurde erkauft mit dem Niedergang der alten Industrieregionen des Westens. Hier kommt ganz augenscheinlich der Faktor Globalisierung ins Spiel.”

... Automatisierung und Digitalisierung ...

Die neue internationale Arbeitsteilung, aber auch die Automatisierung und Digitalisierung, führe laut Menzel dazu, daß es hierzulande immer weniger Arbeiter, immer weniger Gewerkschafts- und Genossenschaftsmitglieder gibt. “Man denke nur an das Schicksal von Konsum, Neue Heimat, Bank für Gemeinwirtschaft und Volksfürsorge. Weitere Kennzeichen der Globalisierung sind Prozesse der Säkularisierung und des kulturellen Wandels, die gerade die Kirchen betreffen mit der Folge von Mitgliederschwund, rückläufiger Kirchensteuer und der Notwendigkeit, kirchliche Leistungen zu reduzieren und Institutionen ganz abzubauen. Auf dem Land betreut ein Pfarrer nicht mehr eine, sondern bis zu fünf oder sechs Gemeinden. Leerstehende Kirchen werden zum Verkauf angeboten.”

 

Umgekehrt haben sich neue Bruchlinien gebildet, u.a. “die zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung nicht nur im Weltmaßstab, sondern auch innerhalb der ehemaligen Industriegesellschaften. Die Gewinner sitzen in den Metropolen und arbeiten in den expandierenden Branchen des FIRE-Sektors (finance, insurance, real estate). Seit der Finanzkrise und der Null-Zins-Politik zu ihrer Bekämpfung boomt die Immobilienbranche besonders.

 

Die Verlierer der Globalisierung sitzen in den alten Industrieregionen, dort, wo sich die Industriebrache ausbreitet, im Rust Belt der USA, in den englischen Midlands, wo die industrielle Revolution ihren Ausgang nahm, im Nordosten von Frankreich oder im Ruhrgebiet.” In Deutschland gäbe es sogar die doppelten Verlierer, erst der Wiedervereinigung und dann der Globalisierung, ist der deutsche Osten doch erst seit 1990 mit der Globalisierung konfrontiert worden.

 

“Die zweite neue Bruchlinie ist die zwischen Ökonomie und Ökologie – in anderer Hinsicht ein Resultat der Globalisierung. Die vielen Beispiele aufzuzählen, etwa den Energieverbrauch und die Emissionen auf den “Lieferketten” des weltweiten Gütertransports zu Wasser und zu Lande, erübrigt sich.”

 

Ökonomie vs. Ökologie

Die Auswirkungen sind mehr als deutlich: “Auf der einen Seite zerbröselt das gewerkschaftliche Milieu genauso wie das kirchliche mit den genannten Konsequenzen für Mitglied- und Wählerschaft von SPD und Linken bzw. CDU und CSU.”
 

Gleichzeitig haben sich zwei neue Milieus etabliert, die Menzel als das “kosmopolitische” und das “populistische” Milieu bezeichnet:


Im kosmopolitischen Milieu versammeln sich die Gewinner der Globalisierung, die mit den überdurchschnittlichen Einkommen, die Gebildeten, die Weitgereisten, die Fremdsprachenkundigen, die Globalisierung auch in kultureller Hinsicht als Bereicherung empfinden. Hierzu gehört paradoxerweise auch ein Teil der Globalisierungskritiker, der durch den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie mobilisiert wird. Dieses Milieu wurzelt in der 68er-Bewegung, der Friedensbewegung, den Dritte-Welt-Gruppen, den Anti-AKW- und Umweltgruppen, den Menschenrechts-, Feminismus-, Gender- und neuerdings Flüchtlingsinitiativen. 

 

"Die kosmopolitischen Milieus haben die größte Klappe!" (Cornelia Koppetsch)

Auch wenn dessen Mitglieder überwiegend einen bürgerlichen Hintergrund haben, so verstehen sie sich zwar nicht mehr sozioökonomisch, aber doch kulturell als links. Alles das erklärt den Aufstieg der Grünen, zwar (noch) nicht zur Volkspartei, aber zu einer neuen bürgerlichen Partei mit wachsender, wenn auch nicht widerspruchsfreier Schnittmenge zur FDP und abnehmender Schnittmenge zur SPD.”
 
Auch die Etablierung des populistischen Milieus sei nach Menzel eine Reaktion auf die Globalisierung, “in sozioökonomischer Hinsicht durch den Verdrängungswettbewerb, in kultureller Hinsicht durch die Migration insbesondere dann, wenn der Faktor Islam hinzukommt.


Hier wird Globalisierung nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung empfunden, nicht zuletzt deshalb, weil die eigentliche Integrationsarbeit nicht in den gutbürgerlichen Vierteln der Kosmopoliten, sondern in den sozialen Brennpunkten, dort, wo die Wahlbeteiligung besonders niedrig ist, geleistet werden muß.


Aus dem populistischen Milieu rekrutieren sich in den USA die Trump-Wähler, in England die Brexit-Befürworter, in Frankreich die des Rassemblement National, in Italien die der Fratelli d'Italia und in Deutschland die der AFD.


Untereinander sich überlappende und nicht widerspruchsfreie Komponenten des sehr heterogenen Milieus sind die Reichsbürger, Identitären, Verschwörungstheoretiker, Querdenker, Pegida, Putin-Versteher, alte und neue Nazis, Esoteriker, Impfgegner, Sekten, aber auch alte Waffennarren und neue Kampfsportgruppen, Rocker, Hooligans und radikale Fangruppen des Fußballs.”


Die Tatsache, dass es zwar kaum in den alten, sehr wohl aber in den neuen Bundesländern eine direkte Wählerwanderung von der Linken zur AFD gibt, hat demnach auch strukturelle Gründe, insofern es im `Osten´ besonders viele Globalisierungsverlierer im doppelten Sinne gibt: “Im Chemiedreieck des mitteldeutschen Braunkohlereviers gibt es in dem Maße, in dem die Bruchlinie zwischen Ökologie und Ökonomie zugunsten der Ökologie geschliffen wird, weil Braunkohle durch Flüssiggas aus aller Welt ersetzt wird, sogar noch eine Steigerung auf der Verliererskala. 

 

Aus dieser Perspektive sind selbst die Querfrontinitiativen von Sahra Wagenknecht zur Sammlung linker und rechter Verlierer der Globalisierung aus dem populistischen Milieu eine Reaktion auf Globalisierung und nachvollziehbar, daß sie den klassischen Internationalismus der Linken durch einen »nationalen Sozialismus« ersetzen will. Der Begriff ruft in Deutschland keine guten Erinnerungen hervor.”


Menzel ist der festen Überzeugung, dass, “solange die alten Bruchlinien sich weiter abschleifen, die neuen Bruchlinien sich weiter schärfen und die neuen Milieus weiteren Zulauf bekommen, werden der Niedergang der alten Volksparteien und der Strukturwandel des Parteiensystems sich fortsetzen” und zwar unabhängig von der Frage, welche personellen bzw. inhaltlichen Angebote die Parteien machen, weil die politischen Vorhaben (z.B. Digitalisierung, ökologischer Umbau der Wirtschaft) unweigerlich Konsequenzen haben für die alten wie die neuen Bruchlinien und sie damit auch die alten und neuen Milieus, in denen die Parteien verankert sind oder waren, stärken oder weiter schwächen.

 

 

Zitate aus: Ulrich Menzel: Wendepunkte: Am Übergang zum autoritären Jahrhundert, Berlin 2023

Weitere Literatur:„Die kosmopolitischen Milieus haben die größte Klappe“, Interview mit Cornela Koppetsch am 30. August 2019 in: Cicero. Das Magazin für politische Kultur

 

 

Samstag, 4. Mai 2024

ERICH, oder: Wie man ein Unternehmen in den Abgrund führt!

Es ist hinlänglich bekannt, dass ein Unternehmen aufgrund einer Vielzahl externer Gründe scheitern, die sich einer unmittelbaren Kontrolle des Unter-nehmens entziehen. Dazu gehören Schwankungen in der allgemeinen Wirtschaftslage, Neuordnungen in den politischen und rechtlichen Rahmen-bedingungen oder auch Veränderungen in den Markt- und Wettbewerbs-bedingungen, z.B. durch Preisdruck und neue Kundenpräferenzen, die dazu führen, dass Unternehmen ihre bisherige Stellung am Markt verlieren.

Auch wenn einige der externen Faktoren unvorhersehbar sind, so sind sie doch keine Naturgewalten, denen das Unternehmen hilflos ausgeliefert ist. Die meisten Unternehmen sind in der Lage, flexibel und proaktiv auf diese Herausforderungen zu reagieren. Das Scheitern eines Unternehmens ist daher immer auch von den Fähigkeiten bzw. den Defiziten der eigenen Führungskräfte abhängt.

Auch gesunde Unternehmen können von den falschen Leuten in den Abgrund gerissen werden!

Solche „Leitungskräfte“ werden in jüngerer Zeit auch mit dem Begriff „ERICH“ beschrieben. Mit „ERICH“ ist gleichwohl weniger der männliche Vorname gemeint, sondern „ERICH“ ist ein Kompositum aus den Wörtern „ER“ und „ICH“. Das „ER“ steht im Sinne des Illeismus dafür, dass eine Person die eigene Autorität, Macht oder Erhabenheit in übertriebener Weise demonstrieren will. Das „ICH“ steht für „EGO“, den Begriff schlechthin also für eine Persönlichkeits-störung, bei der eine Person ein übermäßiges Interesse an sich selbst hat, sich selbst bewundert und eine übertriebene Wertschätzung für die eigene Person zeigt.

Im Folgenden geht es um eine Reihe von Defiziten bei Führungs- und Leitungs-kräften – den ERICHs –, die  dazu führen, dass ein Unternehmen scheitert, selbst wenn externe Risikofaktoren nicht oder nur geringfügig auf das Unternehmen einwirken. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass auch grundsätzlich gesunde und gut laufende Unternehmen durch mangelnde Fähigkeiten ihrer Leitungs- und Führungspersonen in den Abgrund gerissen werden, weil diese den Herausforderungen einer zeitgemäßen Unternehmens-kultur nicht gerecht werden können (oder wollen!).

Fachliche Unkenntnis

Fachliche Unkenntnis bzw. mangelndes handwerkliches Geschick der Leitungs-kräfte kann sich auf unterschiedliche Weise negativ auf ein Unternehmen auswirken. Führungskräfte, die nicht über ausreichende fachliche Kenntnisse verfügen, sind meist nicht in der Lage, sachlich abgewogene Entscheidungen zu treffen.

Mangelnde Kenntnis für spezifische Vorschriften oder rechtliche Anforderungen wiederum verhindert eine gelingende Compliance. Compliance besteht gleichwohl nicht allein in der formalen Einhaltung von Gesetzen und Richtlinien, sondern muss sich vor allem im tatsächlichen Handeln und Auftreten der Leitungsakteure widerspiegeln. Werte können nur glaubhaft vermittelt werden, wenn diese auch erkennbar von den Vermittelnden selbst gelebt werden.

Fachliche Unkenntnis ist zuweilen die Konsequenz aus der Wirkung des sog. Peter-Prinzips. Diese Theorie besagt, dass in hierarchischen Organisationen jeder Mitarbeiter so lange befördert wird, bis er eine Position erreicht, in der er nicht mehr effektiv oder überfordert ist. Anders ausgedrückt, in einer Organisation werden Mitarbeiter befördert, wenn sie gute Arbeit leisten, basierend auf ihren aktuellen Aufgaben – solange, bis der Mitarbeiter in eine Position gelangt, in der er nicht mehr erfolgreich ist, weil die Anforderungen der neuen Position seine Kompetenzen übersteigen.

Unwissenheit ... schützt vor Strafe nicht!

Strategische Ahnungslosigkeit

Leitungskräfte  oder Mitarbeiter, die nicht über ausreichende fachliche Kennt-nisse verfügen, können möglicherweise keine fundierten Entscheidungen treffen, auch und gerade in der Strategieentwicklung.

Strategische Ahnungslosigkeit bezieht sich zunächst auf eine bewusste oder unbewusste Ignoranz oder Unwissenheit seitens der Führungskräfte bezüglich wichtiger strategischer Fragen, Herausforderungen oder Entwicklungen in ihrem Unternehmen. Es ist eine Art der Inkompetenz oder Unfähigkeit, die richtigen strategischen Entscheidungen aufgrund eines Mangels an Wissen zu treffen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, an wertvollen Traditionen festzuhalten und dennoch flexibel auf Veränderungen zu reagieren.

Gerade der Mangel an klaren Visionen bzw. langfristigen Strategien für die Zukunft führt unweigerlich dazu, dass man das das Unternehmen in unsichere Gewässer navigiert.

Charakterliche Defizite

Neben mangelnder Expertise sind es häufig charakterliche Defizite der Leitungs-kräfte, die für den Erfolg eines Unternehmens fatale Folgen haben. Dabei verbinden sich zuweilen scheinbar widersprechende Charakterzüge: Insbesondere führungsschwache Leitungskräfte mit mangelnder Expertise neigen zu übermäßiger Kontrolle ihrer Mitarbeiter, was unweigerlich deren Kreativität und Eigenverantwortung einengt.

Solche Führungskräfte übernehmen häufig keine Verantwortung für Fehler oder Probleme im Team und schieben die Schuld gerne auf andere. Wenn Führungskräfte dagegen in der Lage sind, ein positives Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem Kritik und Selbstkritik gewertschätzt werden, können Mitarbeitermotivation entstehen und exzellente Leistungen erbracht werden.

Besonders dramatische Folgen haben narzisstische Züge bei Führungskräften, also ihr übermäßiges Bedürfnis nach Bewunderung, Macht und Selbst-bestätigung. Solche Menschen neigen dazu, andere zu dominieren und ihre eigenen Interessen über die des Unternehmens zu stellen.  

Narziss - der Jüngling, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte ... (Gemälde von Caravaggio)

In dem Mangel an Empathie bzw. in dem übersteigerten Selbstbewusstsein offenbaren sich nicht zuletzt fehlende persönliche ethische Standards. Robert I. Sutton bezeichnet solche Wichtigtuer, Tyrannen und Egomanen daher gleichermaßen deftig wie passend schlicht als „Arschlöcher“!

Schlechtes Talentmanagement

Besonders bitter für ein Unternehmen ist es, wenn Führungskräfte nicht in der Lage sind, talentierte und konstruktiv-kritische Mitarbeiter zu identifizieren, zu entwickeln und zu halten und sich stattdessen mit Ja-Sagern und Opportunisten umgeben.

Dahinter steht meist die Unfähigkeit, Mitarbeitern die nötige Anerkennung und Belohnung für ihre Leistungen zukommen zu lassen. Solche Führungskräfte nehmen den größten Anteil am Lob und an der Anerkennung für erfolgreiche Projekte oder Initiativen für sich in Anspruch. Zugleich wälzen sie die Verantwortung für Fehler oder Probleme gerne auf andere ab und sprechen sich selbst von jeglicher Schuld frei.

Die Folge ist eine hohe Fluktuationsrate und geringe Mitarbeiterbindung. Aber auch wenn kompetente Mitarbeiter das Unternehmen nicht gleich verlassen, so bleibt doch ihre Expertise in der Folge sträflich ungenutzt.

Gefährliche Bündnispartner

Der negative Einfluss, den gefährliche Bündnispartner auch und vor allem inner-halb des Unternehmens selbst auf dessen Erfolg haben, wird im Allgemeinen unterschätzt. Insbesondere führungsschwache und strategisch ahnungslose Menschen lassen sich von solchen internen „Partnern“ manipulieren, sofern es nicht etablierte interne Kontrollen bzw. regelmäßige Leistungsüberprüfungen gibt, die Schlimmeres verhindern.

Bündnispartner, die ethisch bedenklich agieren oder ihre Kompetenzen über-schreiten, beeinträchtigen das Ansehen und die Glaubwürdigkeit des gesamten Unternehmens. Bündnispartner, die gar gegen Gesetze oder juristische Standards verstoßen, können das Unternehmen in rechtliche Probleme verwickeln oder rechtliche Haftung verursachen. Letztlich wirken sich solche „gefährlichen Freundschaften“ gleichermaßen negativ auf Prozess- und Ergebnisqualität und damit auf den Erfolg des gesamten Unternehmens aus.

Mangelnde Selbstreflexion

Führungskräfte mit mangelnder Fähigkeit zur Selbstreflexion, also Menschen, die sich selbst überschätzen und nicht bereit sind, aus Fehlern zu lernen oder sich weiterzuentwickeln, können das gesamte Unternehmen in den Abgrund reißen.

Das sog. Dunning-Kruger-Prinzip besagt, dass Menschen mit geringer Kompetenz oder Fähigkeiten oft dazu neigen, ihr eigenes Wissen oder ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen. Gleichzeitig neigen sie dazu, die Fähigkeiten anderer zu unterschätzen oder deren Kompetenz nicht angemessen einzuschätzen. Menschen mit geringer Kompetenz oder begrenzten Fähigkeiten sind sich meist nicht bewusst, wie wenig sie eigentlich wirklich wissen oder können, und halten sich trotzdem für kompetenter als sie tatsächlich sind.

Die fatalen Folgen des Dunning-Kruger-Prinzips!

Für ein Unternehmen ist es überlebenswichtig, die Wirkung des Dunning-Kruger-Prinzips zu durchschauen. Daher ist es nötig, die Folgen von Selbstüber-schätzung von Führungskräften nicht herunterzuspielen, sondern darauf zu drängen, dass gerade Leitungskräfte offen sein müssen für konstruktive Kritik bzw. bereit zu sein, von anderen zu lernen, und sich ständig weiterzu-entwickeln.

Es ist mithin kein Zufall, dass das kleine Büchlein "Die Kunst des Krieges", das im 5. Jahrhundert v. Chr. von dem chinesischen General Sunzi verfasst wurde, in vielerlei Hinsicht auf moderne Unternehmenskultur übertragbar ist.

Sunzi legt großen Wert auf die Bedeutung einer klaren Führung: „Die Führung verkörpert Weisheit, Glaubwürdigkeit, Menschlichkeit, Tapferkeit und Strenge“ (Kap. I). Hier zeigt sich der rationale Grundton Sunzis, der die Weisheit und Glaubwürdigkeit deutlich über eher martialische Tugenden stellt. 

Nach Sunzi muss Führung und Leitung daher in erster Linie als eine intellektuelle Herausforderung verstanden werden - eine Herausforderung, der so manche von den selbsternannten Leitungskräften nicht gerecht werden.

 

Literatur: Robert I. Sutton: Der Arschlochfaktor. Vom geschickten Umgang mit Aufschneidern, Intriganten und Despoten im Unternehmen, München 2007 (Carl Hauser) - Sunzi: Die Kunst des Krieges, Frankfurt a.M. 2009 (Insel)

 

 

Donnerstag, 18. April 2024

Hannah Arendt und die Revolution

Im Februar 1965 beginnt die amerikanische Luftwaffe mit der Bombardierung von Nordvietnam. In den USA formiert sich langsam und öffentlich ein breiter Widerstand gegen den Krieg in Asien. An vielen Universitäten wird der Protest zum Widerstand. In Berkeley, wo die ersten Unruhen ausbrechen, hindern Studenten einen Zug mit Soldaten an der Weiterfahrt.

Doch die Kritik an der amerikanischen Politik in Vietnam ist nicht der einzige Grund für die Studentenunruhen. Es geht auch um Mitbestimmung an den Universitäten und um einen Protest gegen die Benachteiligung schwarzer Studenten.

Hannah Arendt (1906 - 1975)

Hannah Arendt, die seit 1955 mit Lehraufträgen in Berkeley betraut, verfolgt die Vorgänge in der Universätit mit großem Interesse. „In Berkeley“, so schreibt sie an ihren Freund und Mentor Karl Jaspers, „haben sie alles durchgesetzt, was sie wollten  – und können und wollen nun nicht abblasen; nicht aus Bosheit oder Verhetztheit, sondern einfach, weil sie Blut geleckt haben, was es heißt, wirklich zu handeln, und nun, da die Ziele erreicht sind, nicht wieder nach Hause wollen. Das ist sehr gefährlich, gerade weil es sich um etwas ganz Echtes handelt.“

Was dieses „ganz Echte“ ist und warum es auch „gefährlich“ sein kann, das hat Hannah Arendt in ihrem Buch „Über die Revolution“ beschrieben, das bereits 1963 erschien, also noch vor den Unruhen in Berkeley und anderen amerikanischen Universitäten.

Das Buch knüpft an ihr Werk „Vita activa oder: Vom tätigen Leben“ an. In diesem Werk ging es darum, was eigentlich Handeln bedeutet – im Gegensatz zum Arbeiten und Herstellen. Handeln ist für Arendt zuerst die Initiative zu ergreifen, zusammen mit anderen etwas Neues beginnen.

In ihrem Buch über Revolution führt sie den Gedanken weiter: Revolution ist gewissermaßen Handeln im großen Maßstab, das Ereignis, mit dem in der Geschichte eine alte Ordnung über Bord geworfen und ein neuer Anfang gewagt wird. Der Mut und die Begeisterung, etwas Neues anzufangen, wobei man eigentlich keine rechte Vorstellung davon hat, was dabei herauskommt, das ist für Hannah Arendt etwas Mitreißendes, dieses „ganz Echte“, eine elementare Erfahrung von Freiheit.

Arendt interessiert sich vor allem für die Frage, was aus diesem ersten spontanen Impuls wird. D.h., es geht darum, wie man verhindern kann, dass der revolutionäre Anfang in Chaos und Gewalt endet. Anders formuliert: Wie kann man Einrichtungen und Absicherungen schaffen, um diesen Impuls zu erhalten und ihn zu stabilisieren?

„Hannah Arendt beantwortet diese Fragen anhand der zwei wohl bekanntesten Revolutionen in der Geschichte: der Französischen Revolution und der Amerikanischen Revolution. Diese zwei historischen Ereignisse sind für sie Musterbeispiele dafür, wann eine Revolution glücken kann und wann sie missglücken muss.“

Für Arendt ist offensichtlich, dass die Französische Revolution einen Verlauf zeige, der ab einem bestimmten Punkt von der ursprünglichen Richtung abweicht. „Dieser Punkt war erreicht, als es den gemäßigten Girondisten nicht gelang, eine neue Verfassung durchzusetzen, und die radikalen Jakobiner die Befreiung der Massen von Not und Leid zum obersten Ziel machten. „Die Republik? Die Monarchie? Ich kenne nur die soziale Frage“, rief Robespierre aus.

„Eben mit dieser neuen Fragestellung, so Hannah Arendt, habe sich die Revolution zum Scheitern verurteilt. Jetzt wurde das Mitleid mit dem Volk, mit den Unglücklichen und Notleidenden zur politischen Tugend.“ Mitleid aber ist für Hannah Arendt jedoch nur gegenüber einem einzelnen Menschen möglich. Gegenüber einer Masse wird es abstrakt und wirkt sich politisch verheerend aus. „Das Elend eines ganzen Volkes sprengt sozusagen das Fassungsvermögen des Mitleids und es neigt dann dazu, dieses maßlose Unglück auch mit maßlosen Mitteln abschaffen zu wollen, sprich mit Gewalt.“ So kommt es zu dem merkwürdigen Paradox, dass jemand aus Menschenliebe und Mitleid bereit ist, über Leichen zu gehen.

Französische Revolution: Der Terror als Herrschaftsmittel

„`Immer wieder´, schreibt Hannah Arendt, `war es die Maßlosigkeit ihrer Emotionen, welche die Revolutionäre so seltsam unempfindlich für das faktisch Reale und vor allem für die Wirklichkeit von Menschen machte, die sie immer bereit waren, für die Sache oder den Gang der Geschichte zu opfern.´“ Diese „emotionsgeladene Unempfindlichkeitentsteht dann, wenn das Handeln von Wut geleitet wird und wenn das Ziel nicht mehr Freiheit ist, sondern „die schiere Wohlfahrt und das Glück“ .

Die Amerikanische Revolution dagegen ist in den Augen von Arendt ganz verlaufen. In ihr spielte die soziale Frage so gut wie keine Rolle, weil das Land reich war und eine Massenarmut und wirkliches Elend wie in Frankreich nicht kannte. „Der `Fluch der Armut´, so Hannah Arendt, lag für die amerikanischen Revolutionäre nicht nur in der materiellen Not, sondern auch in der `Dunkelheit´, nämlich darin, dass man `von dem Licht der Öffentlichkeit ausgeschlossen ist´“.

Dementsprechend lag den Gründervätern der USA alles daran, Einrichtungen zu schaffen, die es so vielen wie möglich erlauben sollten, an der Meinungsbildung mitzuwirken. „Statt dem ominösen `Willen des Volkes´, auf den sich die französischen Revolutionäre beriefen und der im Grunde nur ein Freibrief für Willkür war, gab es in Amerika Versammlungsstätten wie die `townhall meetings´, wo die einfachen Leute wirklich ihre Meinung äußern konnten. Statt Gewalt bildete sich auf diese Weise Macht, die auf einem gemeinsamen Willen beruhte.“

Das Aushandeln der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (John Trumbull) 

Nach Arendt war dabei eben der Grundgedanke, den revolutionären Aufbruch sozusagen immer wieder zu wiederholen. „Und das hing in erster Linie davon ab, ob und in welcher Weise es gelang, den Einfluss der Bürger auf die Politik zu erhalten. Die Repräsentation durch Abgeordnete sollte nicht nur ein bloßer Ersatz für die direkte Teilnahme des Volkes sein. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung schreibt Hannah Arendt: `Für eine vernünftige Meinungsbildung bedarf es des Meinungsaustauschs; um sich eine Meinung zu bilden, muss man dabei sein; und wer nicht dabei ist, hat entweder – im günstigsten Fall – gar keine Meinung oder er macht sich in den Massengesellschaften des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts aus allen möglichen, konkret nicht mehr gebundenen Ideologien einen Meinungsersatz zurecht.´“

Im Rahmen der Studentenproteste an den amerikanischen Universitäten kommt es zu Sit-ins und Teach-ins und auch Vorlesungen werden bestreikt. Hannah Arendt sympathisiert mit den Studenten, bleibt aber auch skeptisch. Für sie ist wichtig, dass der Protest nicht ausufert und nicht der `Mob´ die Führung übernimmt. Nach einer Veranstaltung gegen den Vietnam-Krieg, an der sie teilgenommen hat, schreibt sie an Karl Jaspers: “Alles außerordentlich vernünftig und unfanatisch. So überfüllt, dass man kaum durchkam. Niemand schrie, niemand hielt Reden, und das in einer Art Massenveranstaltung. Wirkliche Diskussion und auch Information. Sehr angenehm.” – eben ganz in der Tradition der amerikanischen Revolution bzw. ganz im Stile der Townhalls!

 

Zitate aus: Alois Prinz: Hannah Arendt oder die Liebe zur Welt, Weinheim 2013 (Insel)

Donnerstag, 11. April 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 7

Fortsetzung vom 04.04.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. 

"Die Identitätspolitik ist dabei das Schwert der Moral, die Ikone des Moralismus wider die Vernunft. Sie bietet ihren Anhängern Orientierung und Sinn, natürlich auch Jobs, etwa mit Hilfe von Quotenregelungen (…), und vor allem einfache Antworten auf schwierige Fragen.

In Verbindung mit transatlantischer Werteorientierung (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte) entsteht hier ein wirkmächtiges gesellschaftliches Amalgam, der Anti-Machiavelli schlechthin. Nicht die Staatsräson zählt, nicht das nationale Interesse, auch keine `diskursive Ethik´– es gilt allein die eigene, zutiefst verinnerlichte, absolutistisch gesetzte Moral.

Diese Dynamik lässt sich Lüders zufolge vor allem bei den Grünen beobachten. „Die Grünen mögen sich als `postmaterialistisch´ verstehen, tatsächlich aber gehören sie zu den Bessergestellten und Privilegierten. Ihren Wohlstand missverstehen sie offenbar als quasi gottgegeben, als Lohn des eigenen, im Grundsatz richtig geführten Lebens, auf den man fast schon einen Rechtsanspruch zu haben glaubt. Doch über Geld zu verfügen, beantwortet nicht die Sinnfrage, die sich dem Einzelnen wie auch jeder Gruppe stellt. (…)

Die Grünen - Von friedensbewegten Idealisten zu Panzer-Fans (Der Spiegel)

Das Bekenntnis zur »Ökologie« reicht dafür nicht aus. Auf gesellschaftlicher Ebene gehen der digitale Wandel, die Globalisierung, die fortschreitende Individualisierung der Arbeitswelt (Homeoffice) einher mit dem Bedeutungs-verlust traditioneller identitätsstiftender Bezugsrahmen, darunter etwa Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Vereine. Begriffe wie `Nation´ oder `Religion´ erzielen in höhergestellten sozialen Milieus kaum noch Bindungswirkung. Auch die klassische Familie aus Vater, Mutter, Kind ist nur noch bedingt Refugium; sie konkurriert mit gender- und queerorientierten Lebensformen.

Gehen aber Gewissheiten verloren, ist das Tattoo am Ende identitätsprägender als jede überlieferte Bindung, offenbart sich darin ebenso ein Höchstmaß an Freiheit wie auch ein Krisensymptom. Eine Gesellschaft ohne kollektives Ich, ohne verlässliche Erzählungen, ohne Mythen, läuft Gefahr sich zu verlieren. Konsumismus und Hedonismus sind lediglich Ersatzhandlungen, Lückenfüller.

Hier nun kommt die Moral ins Spiel, wenn auch keine ethisch fundierte, sondern eine subjektiv begründete. Die berühmte Liedzeile `Erst kommt das Fressen, dann die Moral´ aus Brechts Dreigroschenoper könnte richtiger kaum sein. Das Wissen darum ist lediglich in den Hintergrund gerückt im (noch) reichen Deutschland. Wer im Schatten des Wohlstands lebt, erst recht in ärmeren Teilen der Welt, wird dagegen lauthals mitsingen.

Den Grünen ist das bemerkenswerte Kunststück gelungen, den emotional ansprechenden Begriff `Moral´ politisch umfassend zu besetzen und damit ein Angebot zur Identifikation in einer postmodernen Gesellschaft anzubieten, die sich ihrer selbst längst nicht mehr sicher ist. Praktischerweise gibt es hier kein Copyright – jeder kann unter `Moral´ verstehen, was er mag, wie es gerade gefällt oder nützlich erscheint.

Moral ist massentauglich. Wird sie dann noch in einen größeren Zusammenhang überführt, jenen der `Werte´, wird aus dem von Race & Gender inspirierten Gutmenschen leichtfüßig ein Ideologe, der sich eingebettet weiß in einen größeren, ebenfalls heiligen Gral aus Freiheit und Demokratie. (…)

Wir sind die Guten! Das ist das Angebot der Grünen an die Gesellschaft wie auch an sich selbst, darin überflügeln sie jede Konkurrenz. (…)

Die emotionale Selbstvergewisserung, die mit der Absage an das Böse einhergeht, ist nicht zu unterschätzen. Auch ich bin ein Guter! Mit diesem Kick stelle ich mich nach außen dar, gelingt mir der Brückenschlag zu Gleich-gesinnten, erfahre ich Anerkennung und Wohlwollen. Im Beruf, im Alltag, in den sozialen Medien.

Leider kann das süchtig machen: die Jagd nach solchen Glücksmomenten, nach Bestätigung. Die meisten Moralisten, einmal auf den Geschmack gekommen, suchen unbewusst den fortwährenden Applaus und landen früher oder später in einer narzisstisch umrandeten `Selbstbestätigungsfalle´.” (…)

Leider interessieren sich grüne Moralisten nur wenig für diejenigen, die den Preis für ihre Weltenrettung zu bezahlen haben. Grün zu sein, sich grün zu verorten bedeutet (noch), zu den Privilegierten zu gehören. In dem Maß, wie die gesellschaftlichen Verwerfungen in Deutschland zunehmen, dürften Kulturfragen mehr und mehr zum Gradmesser von `links´ oder `rechts´, von `oben´ oder `unten´ werden – wie in den USA seit langem schon zu beobachten. Plakativ gesagt: Der urbane Mittelstand wird auch weiterhin Lastenfahrrad fahren, sich gesund ernähren und auf seine Work-Life-Balance achten. Und gleichzeitig herabsehen auf die Malocher, die zu viel duschen, mehr Fleisch statt Gemüse essen, zu dick sind, sich zu wenig bewegen, die falschen Autos fahren und einfach nicht verstehen wollen, dass in der Ukraine auch unsere Freiheit verteidigt wird.”

“In letzter Konsequenz läuft das hinaus auf einen Klassenkampf der Besitzenden gegen die Habenichtse, die wirtschaftlich immer größere Mühe haben, sich über Wasser zu halten. Hier das privilegierte, autoritär-ökologisch gestimmte Oben, dort ein (Sub-)Proletariat, dem die `Stoppt das Russenzeugs´-Regierungslinie als Erstes um die Ohren fliegt. Je mehr Menschen arbeitslos werden und sich um ihre Zukunft betrogen sehen, nicht mehr wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, umso größer die Wut, umso stärker die Gegenbewegung. Menschen, die ihre Lebensweise brutal abgewertet sehen oder sich zu Recht als Verlierer einer Entwicklung begreifen, auf die sie keinen Einfluss haben, orientieren sich erfahrungsgemäß in Richtung Rechtspopulismus.

In den USA und einer Vielzahl europäischer Länder ist das längst geschehen, treten rechtspopulistische Volksparteien auf den Plan oder sind bereits an der Macht. In Deutschland vor allem wohl deswegen (noch) nicht, weil es diesem Land bislang, alles in allem, gut ergangen ist. Doch diese Zeiten sind vorbei, unwiderruflich wohl.

Nutznießer dieser Entwicklung muss nicht zwangsläufig die AfD sein. Gut vorstellbar, dass neue, ganz andere Bewegungen entstehen, auch ultra-nationalistische oder gewaltbereite im Stil der `Proud Boys´, die bei der Erstürmung des Kapitols in Washington im Januar 2021 eine führende Rolle spielten. Noch fehlt den `Patrioten´ hierzulande eine charismatische Führungspersönlichkeit à la Jörg Haider. Sobald ein solcher Anti-Habeck die Bühne betritt, wird die Zweiteilung der Gesellschaft zügig voranschreiten. Daran zu zweifeln besteht wenig Anlass. Entzünden dürfte sich die Auseinandersetzung auch und vor allem entlang kultureller Symbole, an den `unten´ zutiefst verhassten identitätspolitischen Glaubensgewissheiten, allen voran die Gendersprache.

Die herrschende Moralpolitik ist eine gefährliche Ideologie, weil die “Zweifel weder kennt noch zulässt – stehen die eigenen Gewissheiten doch für `42´, bekanntlich die Antwort auf alle großen Fragen der Menschheit in Douglas Adams’ Kultbuch Per Anhalter durch die Galaxis.

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023