Karl Raimund Popper |
Poppers Menschenbild gründet auf der evolutionstheoretischen
These, dass „alles Leben Problemlösen“ bedeutet. Insofern kann er auch
behaupten: „Zwischen der Amöbe und Einstein ist in dieser Hinsicht kein prinzipieller
Unterschied: Alle Organismen sind Problemlöser!“
Weil aber die Geschichte der Evolution nun nicht als
ein abgeschlossener Prozess zu betrachten ist, müssen wir davon ausgehen, dass
auch die Fähigkeit des Menschen, die vorhandenen Probleme zu lösen, ebenfalls
noch nicht perfekter Form ausgebildet ist. Vielmehr kommt Popper zur Einsicht,
dass das menschliche Erkenntnisvermögen prinzipiell fehlbar und irrtumsanfällig
ist.
So ist jede Erkenntnis für Popper letztlich „ein
hypothetisches Vermutungswissen, das es stets von neuem zu prüfen und zu
verbessern gilt. (…) Es gibt kein absolut
sicheres Fundament und keine letzte Begründungs- oder
Rechtfertigungsinstanz, von der aus man Erkenntnisse absolut rechtfertigen und
ein für allem als wahr erweisen könnte.“ Jede Dogmatisierung von Wissen ist
somit nicht möglich.
In besonderem Maße wird diese Dogmatisierung des Wissens bei
einem Blick in die Geschichte offenbar. Politische Weltanschauungen und Ideologien, die auf der Idee einer absolut gesicherten Welterkenntnis aufbauen, münden meist in autoritären und
diktatorischen Systemen, die elitäre und undemokratische Erkenntnisansprüche
vertreten.
So viel wir auch denken, wir machen Fehler!
|
Solche Gesellschaften bezeichnet Popper als „geschlossene
Gesellschaften“, in denen der „Kollektivgeist des Stammes“ dominiert, in denen
es keine individuelle Freiheit gibt, in denen Sitten und Gebräuche als von
Natur aus gegeben gelten, in denen es also keine Trennung zwischen natürlichen und normativen Gesetzen gibt.
Gegen die geschlossene Gesellschaft setzt Popper die Idee
einer „offenen Gesellschaft“. Damit sind bei Popper eine Reihe von
moralisch-politischen Werthaltungen verbunden, von denen die wichtigste die liberale Idee ist, die größtmögliche
Freiheit des einzelnen Individuums zu fördern und durch Institutionen
abzusichern. Daraus abgeleitet ist selbstverständlich die Einschränkung, dass
die Freiheit der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft nicht die individuelle
Freiheit anderer beeinträchtigen darf. Dies zu garantieren ist die Aufgabe des
Staates.
Auch wenn Popper das Konzept einer negativen Freiheit – als Freiheit von Unterdrückung und Zwang –
vertritt, darf man Popper keinen schrankenlosen Laissez-faire-Liberalismus oder
ungehemmten Neoliberalismus unterstellen. Auch hier liegt die Aufgabe des
Staates darin, die Freiheit des Einzelnen und zugleich das Gemeinwohl durch eine
begrenzte und immer wieder kritisch zu hinterfragende Intervention zu sichern.
Das wichtigste Merkmal einer offenen Gesellschaft aber ist
eine institutionalisierte öffentliche
Kritik. In einer Gesellschaft muss es notwendigerweise eine
politisch-weltanschauliche Pluralität geben. Gesellschaftliche Konflikte,
politische Diskussionen und Entscheidungsfragen sollten daher möglichst in der
Öffentlichkeit durch transparente, kritisch-rationale Diskussionen ausgetragen
werden.
Transparente und kritisch-rationale Diskussion |
Auch hier gilt, dass es keine „Totalansichten“ in
gesellschaftliche Entwicklungen gibt. Auch hier zeigt sich die Begrenztheit und
Fehlbarkeit menschlicher Erkenntnis. Gegen einen auf utopischen Idealen gegründeten revolutionären Umsturz der setzt Popper die Idee einer schrittweisen Lösung von konkreten Einzelproblemen und damit vorsichtigen Umbau der
Gesellschaft.
Popper will mit der Zielvorstellung einer offenen
Gesellschaft keinesfalls ein Heilsversprechen verbinden. „Auch in einer offenen
Gesellschaft vermag sich der Mensch von der Last der Zivilisation, dem damit
verbundenen bedrückenden Bewusstsein seiner Mängel und Grenzen … nie endgültig
zu befreien.“
Erst wenn die Menschen bereit sind – ganz im Sinne des
sokratischen „ich weiß, dass ich nichts weiß“ -, der menschlichen
Unvollkommenheit und Beschränktheit bewusst ins Auge zu sehen, können sie mit
der Planung von humanitären Institutionen beginnen und so zumindest graduelle
Fortschritte bei der Abschaffung vermeidbaren Leids und Elends erzielen.
Diese „gradualistische Idee der Weltverbesserung, die durch Aufklärungsoptimismus und das Vertrauen in
die kritische Vernunftfähigkeit des Menschen fundiert ist, bildet den Kernpunkt
der offenen Gesellschaft und von Poppers Menschenbild. Dieses Menschenbild
gründet auf kritische Rationalität und eine Reihe von moralischen Prinzipien.“
Zu diesen moralischen Prinzipien gehört die Tugend der
intellektuellen Bescheidenheit, die nicht die „Allmacht der Vernunft“ propagiert
und damit zu einem fanatischen Vernunftglauben, einem „Terror des
Rationalismus“ führt. „Die Leitwerte seiner humanitären Ethik sind das Toleranzprinzip und das Prinzip des negativen Utilitarismus,
welche anstelle der Forderung nach Glücksmaximierung die Forderung nach
Leidminimierung in den Mittelpunkt des praktischen Denkens und Handelns stellt.
Eng damit verknüpft ist ein Verantwortungsprinzip,
das die individuell zurechenbare Verantwortung im Gegensatz zu anonymisierten
Verantwortlichkeit eines Kollektivsubjekts betont.“
Popper ist schlicht der Auffassung, dass es einen Prozess
der „Selbstbefreiung durch das Wissen“ gibt, ohne deswegen gleich zu behaupten,
Wissen allein führe schon zu richten Wertentscheidungen.
Für Popper ist schon ausreichend, „wenn das behauptete als
hypothetisches, oder `konjekturales Wissen´ (Vermutungswissen) aller bisherigen
Kritik standgehalten hat. Dieses Wissen gilt es im praktischen Lebensprozess
zur Lösung von Problemen einzusetzen, jedoch stets im Bewusstsein, dass es
jederzeit revidiert und verbessert werden kann.“
So ist nicht das Begehen von Fehlern ein schwerwiegender
Defekt, sondern die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft, aus einmal
gemachten Fehlern zu lernen, um sie nicht wieder zu begehen.
Zitate aus: Kurt
Salamun: Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom `wahren´ Menschen
von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012 (Mohr Siebeck)