Donnerstag, 27. Juni 2019

Der Kalte Krieg und der "Kongress für Kulturelle Freiheit" - Teil 2



Es ist eine bekannte Tatsache, dass im Kalten Krieg auch Kunst und Kultur im politischen Machtkampf zwischen Ost und West standen. Eine führende westliche Organisation war der Kongress für Kulturelle Freiheit.

Trotz eines nach außen hin gezeigten kämpferischen Antikommunismus konzentrierte sich Führung des CCF in der Folge eher darauf, den Europäern und der restlichen Welt ein positives Bild eines liberalen Amerika zu vermitteln quasi als Gegenentwurf zum Kommunismus. Dies geschah vor allem, als Nicolas Nabokov 1951 neuer Generalsekretär des Kongresses für kulturelle Freiheit wurde.

Nicolas Nabokov (1903 - 1978)
Nabokov stammte aus einer weißrussischen Familie, die in den 1920er Jahren vor den stalinistischen Säuberungen nach Deutschland floh und 1933 nach Amerika emigrierte. Er versuchte in Amerika zunächst vergeblich, als Komponist Fuß zu fassen und musste sich als Musiklehrer an amerikanischen Mädchen-Colleges durchschlagen.

1945 meldete er sich zur Propagandaabteilung der amerikanischen Armee. Die schickte ihn nach Berlin, wo er für die Entnazifizierung zuständig war und den kulturellen Wiederaufbau der Stadt vorantrieb. Nabokov war vielseitig interessiert, charmant, amüsant und weltoffen. Er sprach fließend vier Sprachen und war mit vielen einflussreichen Persönlichkeiten befreundet, auch mit dem späteren Berliner Bürgermeister und Bundeskanzler Willy Brandt.

Nabokovs erstes großes Projekt war die Organisation eines vierwöchigen Festivals in Paris mit dem Titel „Meisterwerke des 20. Jahrhunderts“. Dafür reist er durch halb Amerika und Europa, führt Verhandlungen mit Künstlerinnen und Künstlern und organisiert Kooperationen mit Orchestern und Ballettkompanien. Das Ziel ist, dem Pariser Publikum einen Kanon westlicher Kunst zu präsentieren, in dem Amerika als Kulturland einen zentralen Platz einnimmt.

Der CCF verstand sich nun vorwiegend als Institution, die die Werte des Westens vertritt. Und weil Amerika der Hauptprotagonist, d.h. der mächtigste Staat im Westen war, wollte Nabokov zeigen, dass die Amerikaner über eine ähnlich hohe Kultur verfügen wie die alten europäischen Kulturnationen. Es ging also darum, den liberalen Westen, seine „Kernideen“ von Liberalismus bzw. Sozialliberalismus zu verteidigen, auch gegen Konservative zum Beispiel.

In den vier Pariser Festivalwochen 1952 war alles vertreten, was in der Musik-, Literatur- und Kunstszene Amerikas und Europas Rang und Namen hatte: die Wiener Philharmoniker, das Westberliner RIAS Orchester, das Orchestre de la Suisse romande aus Genf und das New York City Ballet. Auf dem Programm standen v. a. Werke, die von den Nazis und von den Kommunisten verboten worden waren: Werke von Arnold Schönberg, Alban Berg, und Benjamin Britten; von Hindemith, Debussy oder Bartok. Und natürlich von amerikanischen Komponisten, von Aaron Copland oder Samuel Barber oder vom Exilanten Igor Strawinsky, der extra aus Hollywood anreiste. Er war der Star des Pariser Festivals.

Igor Stravinsky 1952 in Paris

Ein wichtiger Teil des Pariser Festivals von 1952 war auch eine große Ausstellung, in der Werke von Chagall, Matisse, Mondrian und vielen anderen Vertretern der klassischen Moderne gezeigt wurden. Hierfür hatte Nabokov seine Verbindungen zum New Yorker Museum of Modern Art aktiviert. Idee der Ausstellung war, Gemälde zu zeigen, die von den Nationalsozialisten als „entartet“ verunglimpft worden waren und nun von den Kommunisten erneut als „formalistische Kunst“ abgelehnt wurden. Vor allem aber wollte er dem Pariser Publikum mit dem Einbezug des Museum of Modern Art demonstrieren, dass Amerika nicht hinter Europa zurücksteht.

Als Generalsekretär des Kongresses für kulturelle Freiheit war Nikolas Nabokov insgesamt sehr umtriebig: In über 35 Ländern wurden Lokalredaktionen gegründet, die eigene Zeitschriften herausgaben. Das publizistische Netz reichte bis in den Nahen Osten, nach Indien, Australien, Lateinamerika und Afrika. Das Flaggschiff war der britische Encounter, der von allen Publikationen des CCF die höchste Auflage erreichte. Überall in der Welt organisierte der CCF Tagungen und Kongresse. Man knüpfte enge Kontakte zu den Künstler-und Schriftstellerverbänden in den jeweiligen Ländern und organisierte Ausstellungen und Dichterlesungen.

Der CCF versuchte nun zunehmend, auch in den Ländern des Ostblocks Einfluss zu gewinnen. Sein Ziel war es, oppositionelle Intellektuelle zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass deren Werke im Westen erschienen. Er rief studentische Austauschprogramme ins Leben und schrieb Stipendien für Künstlerinnen und Künstler aus Ländern hinter dem Eisernen Vorhang aus. Wenn es irgendwo auf der Welt galt, den Einfluss des Kommunismus zurückzudrängen, dann war der Kongress für Kulturelle Freiheit zur Stelle. Auch als es 1956 nach dem Aufstand in Ungarn darum ging, eine Gruppe von geflohenen ungarischen Musikern wieder in Lohn und Brot zu bringen. Mithilfe des CCF gründeten sie kurzerhand die Philharmonia Hungarica, ein Orchester, das über viele Jahrzehnte existierte und zeitweilig unter der Leitung des berühmten Geigers Yehudi Menuhin stand.

Natürlich drängte sich irgendwann die Frage auf, woher das Geld kam, das die Aktivitäten des Kongresses für Kulturelle Freiheit möglich machte – die Veröffentlichung von über 1000 Büchern, die weltweit erscheinenden Zeitschriften, die Kongresse und Tagungen und nicht zuletzt das Pariser Festival. Offiziell hieß es, dass amerikanische Gewerkschaften und Stiftungen für die Finanzierung sorgen würden.

Doch Anfang 1966 veröffentlichten das kalifornische Magazin Ramparts und wenig später die New York Times eine Serie von Artikeln über die finanziellen Machenschaften und Verstrickungen des amerikanischen Geheimdienstes CIA. Die Artikel enthielten detaillierte Informationen darüber, mit welchen kriminellen Methoden die CIA Gelder in Umlauf brachte, um Organisationen, Projekte, Kampagnen, aber auch einzelne Personen zu finanzieren und auf diese Weise politisch Einfluss zu gewinnen. Dazu zählte auch der Kongress für kulturelle Freiheit.

Karikatur von Steve Hamann (2015)

Das Vorgehen der CIA war im Grunde immer dasselbe: Entweder kooperierte der Geheimdienst mit renommierten Stiftungen wie der Rockefeller-, Carnegie- oder Ford-Foundation, indem man über deren Konten CIA-Gelder weiterleitete. Oder man gründete kurzerhand eigene Scheinstiftungen, über die die Gelder weitergeleitet wurden. Im Mai 1967 gab der CIA-Agent Thomas Braden der Saturday Evening Post ein Interview und machte erstmals öffentlich, wie die CIA dabei vorging:

„Wir sind einfach zu irgendeinem bekannten oder reichen New Yorker gegangen und haben gesagt: ‚Wir wollen eine Stiftung einrichten‘. Dann haben wir ihm erklärt, wie wir uns die Sache vorstellten, und baten ihn um Diskretion. Darauf sagte der Betreffende gewöhnlich. ‚Selbstverständlich mache ich das‘. Dann haben wir einfach einen Briefkopf mit seinem Namen gedruckt, und fertig war die Stiftung.“

Heute weiß man, dass die CIA ein riesiges Netz von über 170 Stiftungen und Scheinstiftungen aufbaute, um Geldströme zu verschleiern. Sie schuf ein von außen fast undurchschaubares Geflecht aus Strohmännern und Tarnorganisationen, das die Finanzierung der weltweiten Geheimprojekte der CIA sicher stellte. Auch die Aktivitäten des Kongresses für Kulturelle Freiheit wurden überwiegend von der CIA finanziert.

Nach den Enthüllungen übte sich das Exekutivkomitee des CCF in Schadensbegrenzung. Denn auf dem Spiel stand nichts weniger als die Glaubwürdigkeit und damit die Existenz des CCF. Also versuchte man zu retten, was noch zu retten war und gab eine offizielle Erklärung an die Presse:

„Die Generalversammlung drückt ihr tiefes Bedauern darüber aus, dass die ihr vorliegenden Informationen die Berichte über eine Finanzierung durch den CIA bestätigt haben […] und dass der Geschäftsführende Direktor es für notwendig hielt, diese Mittel ohne Wissen seiner Kollegen anzunehmen. Sie gibt der Überzeugung Ausdruck, dass die Aktivitäten des Kongresses frei von jeder Beeinflussung und jedem Druck durch finanzielle Unterstützer gewesen seien, und sie zweifelt nicht an der Unabhängigkeit und Integrität seiner Mitarbeiter. Sie verurteilt die Art, wie die CIA die Betreffenden getäuscht und ihre Anstrengungen ins Zwielicht gerückt hatte, aufs Schärfste. Ein solches Handeln schädigt den intellektuellen Diskurs. Die Versammlung lehnt die Anwendung solcher Methoden in der Welt des Geistes strikt ab.“

In Deutschland nahm man von den CIA-Verstrickungen des CCF in der Presse kaum Notiz. Die Mitstreiter des Kongresses zogen es vor, einen Mantel des Schweigens darüber zu legen und die Sache in der Öffentlichkeit nicht weiter zu thematisieren. Vielleicht auch, weil die Nähe führender Sozialdemokraten zum Kongress für kulturelle Freiheit möglicherweise eine ernste politische Krise heraufbeschworen hätte.

Schon Anfang der 1960er Jahre hatten sich erste intellektuelle Ermüdungserscheinungen im CFF gezeigt. Doch nach dem Bekanntwerden der Geheimdienst-Verstrickungen stürzte das System „CCF“ zusammen.

Encounter (Ende der 60er Jahre)
Mit dem Ausbleiben der CIA-Gelder konnten keine Kongresse finanziert, keine Festivals veranstaltet und keine Publikationen mehr unterstützt werden. Die Zeitschriften kämpften vergeblich um ihr Überleben, nur dem britischen Encounter gelang es, bis in die 1990er Jahre weiter zu existieren. Der Niedergang des CCF ließ sich nicht mehr aufhalten, auch nicht durch seine Umbenennung in International Association for cultural freedom. Bis Mitte der 1970er Jahre versuchte diese Nachfolgeorganisation noch zu überleben, dann war auch sie Geschichte.

Man hat sich natürlich die Frage gestellt, warum ausgerechnet ein hochrangiger CIA-Agent dem Kongress für kulturelle Freiheit den Todesstoß versetzte, indem er mit den Einzelheiten an die Presse ging. Wahrscheinlich ist, dass das Interview mit Thomas Braden nicht zufällig erschien, sondern dem altbewährten Muster der CIA folgte, ein unliebsames Projekt loszuwerden, indem man es auffliegen lässt, vielleicht, weil der CCF schlicht zu teuer geworden war.

Quelle und Zitate: Ellen Freyberg, Kulturkampf im Kalten Krieg. Der Kongress für Kulturelle Freiheit, swr2 Wissen, Sendung vom 18. Mai 2018




Donnerstag, 20. Juni 2019

Der Kalte Krieg und der "Kongress für Kulturelle Freiheit" - Teil 1


Es ist eine bekannte Tatsache, dass im Kalten Krieg auch Kunst und Kultur im politischen Machtkampf zwischen Ost und West standen. Eine führende westliche Organisation war der Kongress für Kulturelle Freiheit.

"Der Kongress für Kulturelle Freiheit"
Am 26. Juni 1950, fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kamen in Berlin Wissenschaftler, Politiker und Schriftsteller aus über 100 Ländern zusammen, um ein Zeichen zu setzen gegen die wachsende kommu-nistische Bedrohung durch das Stalin-Regime. Vor über 2500 Gästen aus der ganzen Welt begann im Titania-Palast ein 3-tägiger Kongress.

Der RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) übertrug live den gesamten Kongress: „Die gesamte Kulturwelt blickt auf die Kongressstadt Berlin, auf die Stadt, die in den letzten Jahren ihrer Geschichte immer wieder feststellen musste, wie schwer es ist, zwischen Freiheit und Unfreiheit Kompromisse zu schließen […]

Hier im Titania-Palast, der bis auf den letzten Platz gefüllt ist, genau zwei Jahre nach dem kommunistischen Versuch, Berlin durch eine grausame Blockade zu unterjochen, und einen Monat nach dem gescheiterten Versuch, Berlin durch das Deutschlandtreffen der FDJ zu erobern, sehen wir die besten Köpfe des Abendlandes, Philosophen, Künstler und Schriftsteller, die sich zur bürgerlichen und geistigen Freiheit bekennen. Sie wollen hier etwa 200 km hinter dem Eisernen Vorhang beweisen, dass die großen Traditionen des freiheitlichen Geistes noch lebendig sind, wollen hier noch einmal bekennen, was in ihren Werken lange schon formuliert und ausgesprochen ist.“ (O-Ton RIAS)

In den drei Tages des Kongresses, konnten die Menschen in West- und Ostdeutschland an den Radiogeräten miterleben, wie sich Intellektuelle zu einer Organisation formierten, die bald zu einer gewichtigen Stimme im Kampf des Westens gegen den Kommunismus werden sollte.

Der Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter übernahm die Begrüßung: „Berlin, meine lieben Gäste, grüßt sie alle, die Sie heute zu uns gekommen sind. […] Wir haben erfahren, dass das kleine bescheidene Wort Freiheit, das seinen Glanz verloren zu haben schien, eine Leuchtkraft ohnegleichen für den besitzt, der ihren Wert erkannt hat, weil er sie einmal verlor. Wir hatten einmal die Freiheit verloren, mit Mühsalen ohnegleichen haben wir sie darum nicht nur verteidigt, sondern wiedergewonnen, und wir sind fest entschlossen, sie niemals wieder aufzugeben.“

Der Kongress für kulturelle Freiheit (englisch Congress for Cultural Freedom, kurz: CCF) war eine Organisation bevorzugt linksliberaler und sozialdemokratischer Intellektueller, Künstler und Politiker, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, antikommunistische Propaganda auf einem relativ hohen intellektuellen Niveau zu betreiben.

In erster Linie war der CCF eine Reaktion der Amerikaner auch auf die sowjetische Propagandaaktivität im Vorfeld, im Umfeld und im Nachgang des Zweiten Weltkrieges bzw. des beginnenden Kalten Krieges. Die Kommunisten hatten über die Kommunistische Internationale und das Agitprop-Büro der Kommunistischen Internationalen in Paris Intellektuelle und Künstler organisiert und auch für ihre Zwecke instrumentalisiert. Nicht wenige der Gründungsmitglieder des Kongresses für kulturelle Freiheit waren ehemalige Kommunisten, einige haben sogar in der Agit-Prop-Zentrale in Paris gearbeitet, etwa Arthur Koestler.

Der Monat - Sprachrohr des CCF
So entstand der CCF als antitotalitaristisches Bündnis, das bis in die 70er Jahre hinein weltweit großen Einfluss auf die Politik und das Geistesleben in Europa, Lateinamerika, Afrika und Asien hatte. Eine Organisation, die aber – wie später bekannt wurde – vom amerikanischen Geheimdienst initiiert, gelenkt und finanziert wurde: Ein Werkzeug der CIA im Kalten Krieg.

Eine der Schlüsselfiguren des Berliner Gründungskongresses des CCF war der us-amerikanische Journalist Malvin Lasky, Herausgeber der 1948 gegründeten Zeitschrift Der MonatDer Monat gehörte zu den führenden Zeitschriften Deutschlands und bestimmte den kulturellen, politischen und ästhetischen Diskurs maßgeblich mit. Bereits in seiner Studienzeit begann Lasky, Kontakt zu zahlreichen Intellektuellen aufzubauen, was ihm als Herausgeber des Monats und nun auch in seiner Funktion als erster Generalsekretär des Kongresses für kulturelle Freiheit zugutekam.

Der Monat hatte eine erlesene Autorenschar, zu der Schriftsteller wie Albert Camus und George Orwell, die Philosophen Hannah Arendt, Bertrand Russell und Karl Jaspers sowie die Soziologen Theodor W. Adorno und Raymond Aron gehörten. Viele von ihnen fühlten sich der Idee des Kongresses für Kulturelle Freiheit eng verbunden – und waren auch bei seiner Gründung in Berlin anwesend.

Für einiges Aufsehen beim Berliner Gründungskongress des CCF sorgte die Rede Arthur Koestlers. Koestler war ein ungarisch-britischer Schriftsteller und Kommunist, der durch seinen Roman „Sonnenfinsternis“ bekannt geworden war. Darin hatte er über die stalinistischen Säuberungsaktionen geschrieben, die ihn dazu bewogen, ins Lager der Antikommunisten zu wechseln. In seiner Rede griff er all jene Intellektuellen an, die sich noch immer nicht vom Kommunismus losgesagt hatten:

„Wir kamen nicht nach dieser Stadt, um nach einer abstrakten Wahrheit zu suchen, wir kamen, um ein Kampfbündnis zu schließen. Es geht hier nicht um relative Unterschiede, es geht hier um Leben und Tod. […] Aber ich spreche hier über Eure Köpfe hinweg zu jenen intellektuellen Kollegen im Westen, die immer noch glauben, einer Entscheidung ausweichen zu können. Ich spreche über Eure Köpfe hinweg zu jenen Halbjungfrauen der Demokratie, die immer noch nicht gelernt haben, dass es Zeiten gibt, um in Bedingungssätzen und in Nebensätzen zu sprechen, und Zeiten, um ja zu sagen oder nein.“

Arthur Koestler: "Freunde, die Freiheit hat die Offensive ergriffen!“

Auf der Abschlusskundgebung des Gründungskongresses verlas Koestler vor 15.000 Besuchern ein Manifest der intellektuellen Freiheit und beendete seine kämpferische Rede mit dem denkwürdigen Satz: „Freunde, die Freiheit hat die Offensive ergriffen!“

(Fortsetzung folgt) 

Quelle und Zitate: Ellen Freyberg, Kulturkampf im Kalten Krieg. Der Kongress für Kulturelle Freiheit, swr2 Wissen, Sendung vom 18. Mai 2018



Donnerstag, 13. Juni 2019

Oliver Kessler und die Solidarität - Teil 2


Der Begriff «Solidarität» ist zu einem mächtigen und besonders effektiven Euphemismus im Wettbewerb der Ideen herangereift. Dabei wird seine Bedeutung bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Dieser Ansicht ist zumindest Oliver Kessler in seinem Beitrag „Solidarität als Wert der freien Zivilgesellschaft“ für das Liberale Institut.

Zwischenmenschliche Solidarität sei selbstverständlich auch in einer freien Gesellschaft unbestritten ein wichtiger Wert, damit Menschen in Notlagen Unterstützung erfahren und nicht durch alle Maschen fallen, so Kessler. Die Bedeutung der Solidarität wird also keineswegs infrage gestellt.

Voraussetzung für Solidarität: Wohlstand
Solidarisch können Menschen allerdings nur dann sein, wenn sie selbst überschüssige Ressourcen über das Existenzminimum hinaus zur Verfügung haben. Wohlstand ist daher eine zwingende Voraussetzung für eine Gesellschaft, in der Solidarität eine gewichtige Rolle spielen soll.

Das Problem aber liege vor allem darin, dass staatliche Zwangsumverteilung den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand gleich doppelt mindert, weil sie die leistungswilligen und produktiven Gesellschaftsmitglieder bestraft und die Anreize zur produktiven Arbeit bei den Empfängern zerstört. Der Wohlfahrtsstaat bedient sich hauptsächlich bei jenen, die etwas leisten und gibt jenen, die wenig oder nichts zum Gemeinwohl beitragen.

In letzter Konsequenz bedeutet dies: Es lohnt sich zunehmend, unproduktiv zu sein – was in der Folge übers Ganze gesehen zu einer relativen Verarmung der Gesellschaft führt.

Zur Würde einer Person aber gehöre es nun einmal, dass sie für sich sorgen und ihr Leben und das Leben ihrer Angehörigen selbst in die Hand nehmen kann. Im Wohlfahrtsstaat, der weit über die Hilfe zur Selbsthilfe hinaus tätig ist, wird den Menschen durch die anonymisierte Form der Zahlungen das persönliche Verantwortungsgefühl abtrainiert und durch das Ausfüllen von bürokratischen Formularen ersetzt. Das Verständnis der Staatsabhängigen für die Zusammenhänge von produktiver Arbeit und Lohn schwindet in der Folge.

Vielfach setze sich auch die Überzeugung durch, dass sich produktive Leistung in Anbetracht der mühelos erhaltenen staatlichen Almosen nicht lohne und ein Leben auf Kosten anderer von einem weniger Anstrengung abverlange. Dadurch sinkt aber auch die Motivation, die persönliche Weiterentwicklung voranzutreiben, etwa der eigenen Fähigkeiten, des Wissens und der Erfahrung, die ein wesentlicher Faktor nicht nur für die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, sondern auch für das persönliche Glücksempfinden darstellt. Das Gefühl schwindet, „etwas Wert zu sein“ und einen sinnvollen Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft beitragen zu können.

Wilhelm Röpke (1899 - 1966)
Der Ökonom Wilhelm Röpke nannte diese Art der umfassenden wohlfahrtsstaatlichen Betreuung etwas polemisch „komfortable Stallfütterung“. Der Begriff bringt die Herabwürdigung der Menschen zum Ausdruck, die dem in der Aufklärung vermittelten Menschenbild des sich des eigenen Verstands bedienenden mündigen Wesens widerspricht. Für Immanuel Kant hängt die menschliche Würde gar davon ab, inwieweit der Betroffene frei sei, sich seine eigenen Ziele zu setzen und eigenverantwortlich zu handeln. Wenn er hingegen, wie im Wohlfahrtsstaat, nur noch Mittel für fremde Zwecke sei, so würde er zum „Hausvieh“ erniedrigt.

Eine Ethik der Eigenverantwortung vertritt die Ansicht, dass es nicht nur unethisch ist, ohne Not auf Kosten Dritter zu leben, sondern auch dass es ebenso unethisch ist, Menschen zu unterstützen, die ihr Leben eigenständig bestreiten könnten. Denn dadurch dämpft man ihre Motivation, ein selbstbestimmtes, eigenständiges Leben bestreiten zu wollen, woraus sich wiederum Wertgefühl, Ehre, Glück und Stolz ergeben.

Alle Ansätze über die Hilfe zur Selbsthilfe hinaus sind ethisch daher nicht vertretbar. Umverteilung widerspricht auch dem alten und verbreiteten Grundsatz der aus der Praxis entstandenen Goldenen Regel. Diese Voraussetzung des friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens lautet: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Oder positiv formuliert: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest.“ Es leuchtet unmittelbar ein, dass niemand jemanden dauerhaft finanzieren möchte, der auch für sich selbst sorgen könnte.

Die vertretbare Alternative, die mit der Goldenen Regel vereinbar ist, ist die Ethik der Eigenverantwortung. Genau die wird jedoch mit dem Ruf nach angeblicher Solidarität je länger je mehr durch immer aufgeblähtere Umverteilungsstaaten ausgehebelt. In einer echten Solidargemeinschaft ist daher die erste solidarische Pflicht, niemandem unnötig zur Last zu fallen, und keineswegs möglichst viele Menschen in die staatliche Abhängigkeit zu führen, was die aktuelle Sozialpolitik leider tut.

Adam Smith (1723 - 1790)
In seinem philosophischen Hauptwerk Theorie der ethischen Gefühle zeigt Adam Smith, weshalb auch jenseits eines Wohlfahrtsstaates eine Solidargemeinschaft besteht.

Zentral in seiner Beobachtung ist einerseits die „Sympathie“. Eine Handlungsweise eines anderen werde dann gebilligt, wenn sie auf rechtmäßigen und anständigen Motiven beruhe, nicht aber deshalb, weil es für diese einfach nur von Nutzen sei. Alle würden aufgrund der Tatsache, dass sich die Menschen gegenseitig beobachten, dazu angereizt, sich anständig zu verhalten oder dies wenigstens nach außen hin vorzutäuschen. Die Ausrichtung ausschließlich auf den Eigennutz müsse überwunden werden, damit das Verhalten von der Gesellschaft gebilligt würde.

Ein weiterer zentraler Aspekt ist die fiktive Rolle des unparteiischen Zuschauers („impartial spectator“), in die sich die Menschen jeweils dann versetzten, wenn sie moralische Entscheidungen zu treffen hätten. In dieser Rolle würden die Individuen jeweils erkennen, dass auch sie an der Stelle stehen könnten, an der diejenige Person gerade steht, der sie ihre Sympathie zukommen lassen. Daraus entstehe der Anreiz, sich der Goldenen Regel entsprechend zu verhalten, weil man so handle, wie man an der Stelle des anderen behandelt werden möchte.

Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835)
Gemäß Wilhelm von Humboldt ist die Abschwächung moralischen Handelns und die Passivität der Bürger eine direkte Konsequenz des Wohlfahrtsstaats: Wer sich daran gewohnt habe, sich auf fremde Hilfe zu verlassen oder sich „Glückseligkeit“ vom Staat erhoffe, der bleibe passiv und untüchtig. Sein sozialer Sinn werde abgestumpft. Erst unter solchen wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen würden die Menschen zu „Egoisten“ heranreifen, die sich lediglich noch um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten.

So kommt Kessler schließlich zur überraschenden Konklusion, dass Egoismus ironischerweise von jenen Kräften heraufbeschworen wird, die ihn politisch bekämpfen und echte Solidarität von jenen erstickt, die diese politisch erzwingen wollen. Es bleibe daher zu hoffen, dass sich die Erkenntnis durchsetzt, dass sich eine Solidargemeinschaft – und in erster Linie „Wohlstand für alle“ – nur auf Basis einer liberalen Ordnung entfalten kann.

Zitate aus: Oliver Kessler, Solidarität als Wert der freien Zivilgesellschaft, Liberales Institut, LI-Paper, Zürich 2018