Donnerstag, 28. März 2013

Hannah Arendt und das tätige Leben: Arbeiten



Hannah Arendt
Zeit ihres Lebens war Hannah Arendt eine unorthodoxe und umstrittene Denkerin, die – tief verwurzelt in den Traditionen der Antike und der Aufklärung -, ihre radikaldemokratischen und zugleich antimarxistischen Anschauungen vehement verteidigte.

In der ersten Hälfte ihres Lebens wurde sie vor allem von der Existenzphilosophie Martin Heideggers und Karl Jaspers beeinflusst, bei denen sie studierte. Mit Heidegger verband sie eine kurze und leidenschaftliche Liebesbeziehung.

Ab 1941 lebte sie in den USA, deren Staatsbürgerschaft sie 10 Jahre später erhielt. Mit vielen zeitgenössischen, aus Deutschland stammenden Philosophen teilte sie das Schicksal der Emigration und des Exils.

Die Erfahrung der nationalsozialistischen Judenverfolgung brachte sie dazu, sich ihrer eigenen jüdischen Identität bewusst zu werden und sich Fragen der politischen Philosophie zuzuwenden. Ihre Gedanken mündeten schließlich in eines ihrer wichtigsten Werke, die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951).

Sieben Jahre später veröffentlichte Arendt ihr philosophisches Hauptwerk „Vita activa oder Vom tätigen Leben.“ Darin beschreibt sie nicht mehr und nicht weniger als eine Theorie des politischen Handelns vor dem Hintergrund der Geschichte politischer Freiheit und selbstverantwortlicher aktiver Mitwirkung der Bürger am öffentlichen Leben.

Arendt zufolge habe jedes Individuum die Aufgabe, in Verbindung mit anderen Personen die Welt zu gestalten. Dabei stehen dem Menschen drei „Grundtätigkeiten“ zur Verfügung: Arbeiten, Herstellen und Handeln (griech. πόνος, ποίησις und πρãξις).

Die Tätigkeit der Arbeit als dem ersten Bestandteil der Vita activa „entspricht dem biologischen Prozess des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt und zubereitet, um sie als die Lebensnotwendigkeiten dem lebendigen Organismus zuzuführen. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, ist das Leben selbst“ (16).

Emile Othon Friesz: Arbeiten im Herbst
Die Arbeit sichert primär „das Am-Leben-Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung“ (18). Sie gehört notwendig zum menschlichen Leben, aber auch zu dem jedes anderen Lebewesens. Arbeit ist, so sieht es Arendt, nicht mit Freiheit verbunden, sondern muss verstanden werden als ein Zwang zur Erhaltung des Lebens, dem der Mensch von der Geburt bis zum Tod ständig unterliegt.

Im klassischen Altertum galt ursprünglich die Verachtung nur den Tätigkeiten, „die unmittelbar mit der Notdurft des Lebens verbunden waren und daher keine Spuren hinterlassen, kein Denkmal, kein Werk, kein Ding von Bestand“ (100).

Arendt zufolge weitete sich innerhalb der Polis die Verachtung bald auf alle Tätigkeiten aus, „die nicht direkt dem Politischen galten“, bis sie schließlich alles einschloss, „was nur überhaupt eine größere körperliche Anstrengung verlangte“ (ebd.). Alle griechischen Autoren dieser Zeit sind sich einig in der Einschätzung, dass „körperliche Arbeit sklavisch ist, weil sie durch die Notdurft des Körpers erzwungen ist“ (101).

So unterschied man beispielsweise kaum zwischen den Sklaven einerseits, also Gefangenen, die zum Beuteeigentum des Siegers wurden und in dessen Haushalt arbeiteten mussten, und den Werkleuten und Banausen (gr. Βάναυσοι) andererseits. Dies waren Leute, die nur an dem Handwerk interessiert und daher „gleichgültig gegen öffentliche Angelegenheiten“ waren.

Ein Grund für die Geringschätzung der Arbeit in der Antike lag für Arendt zudem darin begründet, dass die Produkte der Arbeit Konsumgüter sind, die nur einen geringen Grad an Beständigkeit besitzen, weil sie schnell durch Verbrauch verzehrt werden.

Es ist eben offensichtlich und zugleich in gewisser Weise tragisch, dass die Arbeit „nichts objektiv Greifbares hinterlässt, dass das Resultat ihrer Mühe gleich wieder verzehrt wird und sie nur um ein sehr Geringes überdauert“ (104):

„Nach kurzem Aufenthalt in der Welt kehren sie in den Schoß der Natur zurück, die sie hervorgebracht hat, sei es, dass der Prozess des menschlichen Lebewesens sie verzehrt hat oder dass sie ohne dieses Zwischenstadium in das Wesen und Verwesen der Natur zurückfallen (…) Sie brauchen nicht eigentlich erzeugt, sondern nur zubereitet und präpariert zu werden, und als solche Natur in der Welt kommen und gehen sie im Einklang mit der immer wiederkehrenden, kreisenden Bewegung des Natürlichen. Kreisend wie die Natur sind auch die Vorgänge des lebenden Organismus und des menschlichen Körpers, so lange nämlich, als er dem Prozess standhalten kann, der ihn durchdringt und zugleich aufreibt und am Leben erhält“ (115). 

Arbeit – verstanden als Mühe und Plage – kann also aus dem menschlichen Leben nicht entfernt werden, ohne dass die menschliche Existenz selbst dadurch gefährdet würde. So wird alles Leben unter dem Joch der Arbeit zur Knechtschaft - „Omnis vita servitium est“, wie Seneca meinte (De tranquilitate animae, II, 3).

Der Ursprung der Arbeit als Mühsal: Die Vertreibung aus dem Paradies (Marc Chagall)
Erst in der Neuzeit findet ein plötzlicher Aufstieg der Arbeit „von der untersten und verachtetsten Stufe zum Rang der höchstgeschätzten aller Tätigkeiten“. Diese Wende im Verständnis der Arbeit begann damit, „dass Locke entdeckte, dass sie die Quelle des Eigentums sei. Der nächste entscheidende Schritt war getan, als Adam Smith in ihr die Quelle des Reichtums ermittelte; und auf den Höhepunkt kam sie in Marx´ `System der Arbeit`, wo sie die Quelle aller Produktivität und zum Ausdruck der Menschlichkeit des Menschen selbst wird“ (119f).

Trotz der Hochschätzung der Arbeit bei Marx war seine Stellung zur Arbeit Arendt zufolge immer zweideutig. Obwohl für Marx die Arbeit eigentlich die menschliche und produktivste aller Tätigkeiten ist, „hat die Revolution doch nach Marx nicht etwa die Aufgabe, die arbeitende Klasse zu emanzipieren, sondern die Menschen von der Arbeit zu befreien. Denn das `Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört´ (Das Kapital, 3. Buch)“ (123).

So besteht einer der  - vielen - eklatanten Widersprüche in der Theorie von Marx darin, dass Marx immer davon ausgeht, „den Menschen als ein Animal laborans zu definieren, um dann dies arbeitende Lebewesen in eine ideale Gesellschaftsordnung zu führen, in der gerade sein größtes und menschlichstes Vermögen brachliegen würde“ (ebd.).

Für Hannah Arendt dagegen ist die Arbeit gerade kein Symptom für ein gestörtes Verhältnis zwischen Mensch und Natur bzw. zwischen Mensch und Welt, sondern in der Arbeit zeigt sich „die Art und Weise, in welcher das Leben selbst mitsamt der Notwendigkeit, an die es gebunden ist, sich kundgibt“ (141). 

So ist die Mühsal der Arbeit, „die so gar nichts Dauerndes zustande bringt, in ihrer Vergeblichkeit von einer unüberbietbaren Dringlichkeit, und ihre Aufgaben gegen allen anderen Aufgaben vor, weil von ihrer Erfüllung das Leben selbst abhängt“ (104).


Zitate aus: Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2010 (piper)


Donnerstag, 21. März 2013

Ludwig von Mises und die Aufgaben des Staates


Ludwig von Mises (1881 - 1973)
So wie Thomas Hobbes den Staat als „Leviathan“, als Ungeheuer beschreibt, so ist auch für Ludwig von Mises, dem großen Vertreter des Liberalismus, der Staat in erster Linie ein Zwangs- und Unterdrückungsapparat. Dies gelte für jeden Staat, ganz besonders jedoch vom sozialistischen Staat.

„Alles, was der Staat ist und vermag, ist Zwang und Gewaltanwendung.“  Das Ziel, das der Staat verfolgt, ist letztlich das „Verhalten, das dem Bestande der Gesellschaftsordnung gefährlich ist, zu unterdrücken.“ Schon die Römer hatten gemäß ihrer pragmatischen Staatsauffassung diesen Tatbestand symbolisch ausgedrückt, „indem sie Beil und Rutenbündel als Sinnbild des Staates annahmen.“

Wenig hält von Mises vom „abstrusen Mystizismus“ einer Staatsvergottung und Staatsanbetung, der sich in den idealistischen Staatsauffassungen eines Schelling oder Hegel manifestiert. Für den einen ist der Staat demnach „das unmittelbare und sichtbare Bild des absoluten Lebens, eine Stufe der Offenbarung des Absoluten, der Weltseele“, für den anderen „offenbart sich in dem Staate die absolute Vernunft, realisiert sich in ihm der objektive Geist.“

Für von Mises ist der Staat vielmehr „ein abstrakter Begriff, in dessen Namen lebendige Menschen - die Organe des Staates, die Regierung - handeln. Alle Staatstätigkeit ist menschliches Handeln, Übel von Menschen, Menschen zugefügt. Der Zweck - Erhaltung der Gesellschaft - rechtfertigt das Handeln der Staatsorgane.“

Natürlich ist sich von Mises bewusst, dass die zugefügten Übel von denen die darunter leiden, nichtsdestoweniger als Übel empfunden werden. Er ist sich aber auch darüber klar, dass das Übel, das der Mensch dem Mitmenschen zufügt, beide schädigt, „nicht nur den, den es trifft, sondern auch den, der es tut. Nichts verderbt so sehr, wie Arm des Gesetzes sein, Menschen leiden machen.“

Die eine Seite des Staates: Ein Zwangsapparat

In der Tradition von Lord Acton, ist auch für von Mises die Macht böse an sich, „gleichviel wer sie ausübe. Sie verführt zum Mißbrauch. Nicht nur absolute Fürsten und Aristokratien, auch die in der Demokratie herrschenden Massen neigen nur allzu leicht zu Ausschreitungen.“ Daher sind Staatsgewalt und Strafgericht auch für den Liberalismus Einrichtungen, die die Gesellschaft unter keinen Umständen entbehren kann.

So betont von Mises die alleinige Aufgabe des Staatsapparates zum Schutz des Lebens und der Gesundheit, der Freiheit und des Privateigentums (Anm. 1) gegen gewaltsame Angriffe: „Alles, was darüber hinausgeht, ist von Übel. Eine Regierung, die, statt ihre Aufgabe zu erfüllen, darauf ausgehen wollte, selbst das Leben und die Gesundheit, die Freiheit und das Eigentum anzutasten, wäre natürlich ganz schlecht.“

Damit bei aller Schutzfunktion die Freiheit des Einzelnen bewahrt wird, muss der Staat eingerichtet sein, „dass der Einzelne auf seinem Boden und im Rahmen des durch seine Gesetze gegebenen Spielraumes sich frei bewegen kann. Der Staatsbürger darf nicht so beengt sein, dass er, wenn er anders denkt als die Träger des Staatsapparates, nur die Wahl hat, entweder unterzugehen oder den Staatsapparat zu zertrümmern.“

Diese Überzeugung erläutert von Mises an einem bekannten, mittlerweile historischen Beispiel: „In den Vereinigten Staaten von Amerika sind Handel und Erzeugung von alkoholischen Getränken verboten. Die übrigen Staaten gehen nicht so weit, doch bestehen nahezu überall Beschränkungen für den Verkauf von Opium, Kokain und ähnlichen Rauschgiften. Man erachtet es allgemein als eine Aufgabe der Gesetzgebung und Verwaltung, den einzelnen vor sich selbst zu schützen.“

In diesem Fall beobachtet von Mises, dass auch diejenigen, die sich sonst gegen jede staatliche Einmischung wehren, es für durchaus richtig halten, dass die Freiheit des Individuums in dieser Hinsicht beschränkt werde. Dieses Messen mit zweierlei Maß verdeutlicht von Mises durch weitere Beispiele:

„Die wenigsten Menschen wissen in ihrem Liebesleben Maß zu halten, und besonders schwer scheint es Alternden zu fallen, einzusehen, dass sie einmal hier Schluss machen oder zumindest mäßig werden sollten. Soll nicht auch hier der Staat eingreifen? Noch schädlicher als alle diese Genüsse aber, werden viele sagen, ist die Lektüre von schlechten Schriften. Soll man einer auf die niedrigsten Instinkte des Menschen spekulierenden Presse gestatten, die Seele zu verderben? Soll man die Schaustellung unzüchtiger Bilder, die Aufführung schmutziger Theaterstücke, kurz alle die Verlockungen zur Unsittlichkeit nicht hindern? Und ist nicht die Verbreitung falscher Lehren über das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen und Völker ebenso schädlich?“

Für von Mises zeigen diese Beispiele, dass man, sobald der Grundsatz der Nichteinmischung des Staatsapparates in allen Fragen der Lebenshaltung des einzelnen aufgeben wird, man dazu gelangt, das Leben bis ins Kleinste zu regeln und zu beschränken. „Die persönliche Freiheit des einzelnen wird aufgehoben, er wird zum Sklaven des Gemeinwesens, zum Knecht der Mehrheit. Man braucht sich gar nicht auszumalen, wie solche Befugnisse von böswilligen Machthabern mißbraucht werden könnten. Schon die vom besten Willen erfüllte Handhabung derartiger Befugnisse müsste die Welt in einen Friedhof des Geistes verwandeln.“

Die Folgen der Neigung, obrigkeitliche Verbote zu fordern ...

Für von Mises ist die Neigung, obrigkeitliche Verbote zu fordern, sobald den Menschen etwas nicht gefällt, und die Bereitwilligkeit, sich solchen Verboten zu unterwerfen, ein Zeichen für ihre Unmündigkeit, denn sie „zeigt, daß der Knechtsinn ihnen noch tief in den Knochen steckt. Es wird langer Jahre der Selbsterziehung bedürfen, bis aus dem Untertan der Bürger geworden sein wird.“

Denn: „Ein freier Mensch muss es ertragen können, dass seine Mitmenschen anders handeln und anders leben, als er es für richtig hält, und muss es sich abgewöhnen, sobald ihm etwas nicht gefällt, nach der Polizei zu rufen.“

Der Liberale, so von Mises, führt den Kampf gegen das Dumme, das Unsinnige, das Irrige, das Böse mit den Waffen des Geistes und nicht mit roher Gewalt und Unterdrückung.
 
Anm. 1: Der Dreiklang „Leben“, „Freiheit“ und „Privateigentum“ als Zusammenfassung der Aufgaben des Staates findet sich auch in der berühmten Formulierung von John Locke, nach der sich der Einzelne mit anderen  nur aus einem Grund zu einem Staat vereinigt, und zwar „zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens („life“), ihrer Freiheiten (freedom“) und ihres Besitzes und  Vermögens („estate“), was ich unter der allgemeinen Bezeichnung Eigentum zusammenfasse („I call it by the general name, Property.“ (Locke, Zweite Abhandlung, §123)


Zitate aus: Ludwig von Mises: Liberalismus. Jena 1927 (online unter: http://docs.mises.de/Mises/Mises_Liberalismus.pdf)   -  Weitere Literatur: John Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, Frankfurt am Main 2007 (Suhrkamp Studienbibliothek) - Alexander Dörrbecker: Lord Acton: Die bleibende Aktualität seines Werks.


Donnerstag, 14. März 2013

Jacob Burckhardt und die Aufgabe des Staates



In seiner kleinen, posthum erschienen Schrift „Weltgeschichtliche Betrachtungen“ (1905) wendet sich Jacob Burckhardt  vehement gegen jede spekulative Geschichtsphilosophie, insbesondere gegen den von Condorcet, vor allem aber von Hegel geprägten Fortschrittsoptimismus.

Jacob Burckhardt
Ganz im Stile der späteren Schriften Karl Poppers gegen den Historizismus formuliert auch Burckhardt eine grundsätzliche Kritik an jeder Form der Geschichtsprophetie: „Wir sind aber nicht eingeweiht in die Zwecke der ewigen Weisheit und kennen sie nicht. Dieses kecke Antizipieren eines Weltplanes führt zu Irrtümern, weil es von irrigen Prämissen ausgeht.“

Der Grundirrtum einer Geschichtsprophetie ist freilich nicht nur bei Philosophen zu beobachten: So mögen „Weltpotenzen die Geschichte nach ihrer Art ausdeuten und ausbeuten, z. B. die Sozialisten mit ihren Geschichten des Volkes.“

In diesem Zusammenhang macht Burckhardt nun einige – verblüffend aktuelle – Anmerkungen über den Ursprung und die Natur des Staates.

Burckhardt ist äußerst skeptisch gegenüber den verschiedenen Erklärungen zur Entstehung des Staates: „Eitel sind alle unsere Konstruktionen von Anfang und Ursprung des Staates, und deshalb werden wir uns hier über diese Primordien nicht wie die Geschichtsphilosophen den Kopf zerbrechen. Nur so viel Licht, daß man sehe, was für ein Abgrund vor uns liegt, sollen die Fragen geben: Wie wird ein Volk zum Volk? und wie zum Staat?“

Die Theorie vom Gesellschaftsvertrag, wie sie etwa John Locke und Thomas Hobbes vertraten, hält Burckhardt sogar für „absurd“: „Noch kein Staat ist durch einen wahren, d. h. von allen Seiten freiwilligen Kontrakt (inter volentes) entstanden; denn Abtretungen und Ausgleichungen wie die zwischen zitternden Romanen und siegreichen Germanen sind keine echten Kontrakte. Darum wird auch künftig keiner so entstehen. Und wenn einer so entstände, so wäre es eine schwache Schöpfung, weil man beständig um die Grundlagen rechten könnte.“

Für Burckhardt steht somit fest, dass der Staat nicht entstanden ist „durch Abdikation der individuellen Egoismen, sondern er ist diese Abdikation, er ist ihre Ausgleichung, so daß möglichst viele Interessen und Egoismen dauernd ihre Rechnung dabei finden und zuletzt ihr Dasein mit dem seinigen völlig verflechten.“

Der Staat habe daher zu verhindern, „daß sich die verschiedenen Auffassungen des `bürgerlichen Lebens´ an den Haaren nehmen. Er soll über den Parteien stehen; freilich sucht jede Partei sich seiner zu bemächtigen, sich für das Allgemeine auszugeben.“

Gerade, weil die Hauptaufgabe des Staates der Interessenausgleich ist, sei es „eine Ausartung und philosophisch-bürokratische Überhebung, wenn der Staat direkt das Sittliche verwirklichen will, was nur die Gesellschaft kann und darf.“

Natürlich ist auch für Burckhardt der Staat die „Standarte des Rechts und des Guten, welche irgendwo aufgerichtet sein muß, aber nicht mehr.“ Denn die „`Verwirklichung des Sittlichen auf Erden´ durch den Staat müßte tausendmal scheitern an der innern Unzulänglichkeit der Menschennatur überhaupt und auch der der Besten insbesondere.“

Nach Burckhardt habe das Sittliche ein wesentlich anderes Forum als der Staat. Es sei schon eine enorm schwierige Aufgabe, dass der Staat das konventionelle Recht aufrecht halte. So würde der Staat am ehesten gesund bleiben, wenn er sich seiner Natur als Notinstitut bewußt bliebe:

„Die Wohltat des Staates besteht darin, daß er der Hort des Rechtes ist. Die einzelnen Individuen haben über sich Gesetze und mit Zwangsrecht ausgerüstete Richter, welche sowohl die zwischen Individuen eingegangenen Privatverpflichtungen als auch die allgemeinen Notwendigkeiten schützen – weit weniger durch die wirklich ausgeübte Gewalt als durch die heilsame Furcht vor ihr.“ 



Die Weltgeschichtlichen Betrachtungen in englischer Übersetzung (New York 1943)

Das Ziel des Staates sieht Burckhardt in klarer liberaler Tradition im Schutz des Lebens und des Eigentums der Bürger: „Die Sekurität, deren das Leben bedarf, besteht in der Zuversicht, … daß man nie mehr nötig haben werde, innerhalb des Staates, so lange derselbe überhaupt besteht, gegeneinander zu den Waffen zu greifen. Jeder weiß, daß er mit Gewalt weder Habe noch Macht vermehren, sondern nur seinen Untergang beschleunigen wird.“

Schließlich verteidigt auch Burckhardt den Schutz der individuellen Freiheiten durch den Staat. Dies geschieht vornehmlich über den Begriff der Toleranz: „Endlich: in späten, gemischten Staatsbildungen, welche Schichten von verschiedenen, ja entgegengesetzten Religionen und religiösen Auffassungen beherbergen (und in letzterem Sinn sind jetzt alle Kulturstaaten paritätisch) sorgt der Staat wenigstens dafür, daß nicht nur die Egoismen, sondern auch die verschiedenen Metaphysiken einander nicht aufs Blut befehden dürfen (was noch heute ohne den Staat unvermeidlich geschehen würde, denn die Hitzigsten würden anfangen und die andern nachfolgen).“

Mit klarem antiutopischen Impetus macht Burckhardt schließlich deutlich, dass der einzig mögliche Ausgangspunkt für die Geschichtsphilosophie allein der duldende, strebende und handelnde Mensch sein kann, der Mensch „wie er ist und immer war und sein wird.“

Zitate aus: Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Wiesbaden 2009 (Marixverlag)