In seinem kleinen Buch „Wieviel
Globalisierung verträgt der Mensch?“ versucht Rüdiger Safranski, Freiräume für ein
Gleichgewicht und für Handlungsfähigkeit zu beschreiben, die es dem Individuum
möglich machen, in einer globalisierten Welt gut zu leben. Er geht dabei von
der Prämisse aus, daß sich Globalisierung nur gestalten lässt, wenn darüber
nicht die andere große Aufgabe versäumt wird: das Individuum, sich selbst zu
gestalten.
Der Individualismus ist mit Sicherheit einer
der wichtigsten Errungenschaften der politischen und philosophischen Kultur
Europas. Er basiert auf dem Gedanken, daß die Verschiedenheit der Menschen „nicht
nur ein Faktum darstellt, sondern ein bewahrenswertes Gut, einen Reichtum.“ Aus
dieser normativen Entscheidung, demzufolge plurales Sein zum Sollen und zum
schützenswerten Gut erhoben wird, wurden die anderen normativen Ideen
entwickelt, welche die aufgeklärte europäische Moderne ausmachen: Meinungs- und
Gewissensfreiheit, Toleranz, Gerechtigkeit und körperliche Unversehrtheit.
So verbindet sich der Individualismus mit der
Idee, daß der Staat und das gesellschaftliche Leben so organisiert werden
müssen, daß Menschen ihre Individualität voll entfalten können, ohne sich wechselseitig
dabei zu behindern, denn: „Der Sinn des Ganzen ist die Ermöglichung von reicher
Individualität. Reich ist das Individuum aber nur, wenn es den eigenen Reichtum
entdeckt und entfaltet. Der Einzelne - jeder Einzelne - ist das Sinnzentrum des
Ganzen.
Das Faktum der Verschiedenheit des Menschen ist ein bewahrenswertes Gut |
Ein solcher Individualismus hat die Freiheit
als Voraussetzung. „Freiheit ist schöpferisch, und der Individualismus will die
Bedingungen dafür bewahren. Er legt die schöpferische Selbstgestaltungsfreiheit
nicht normativ auf bestimmte Ergebnisse und Leistungen fest, sondern verteidigt
auch - normativ - die Voraussetzungen dieser Freiheit.“ Und genau hier kommt
Safranski zufolge eine elementare Voraussetzung für Individualität in den
Blick: „Notwendig ist die Kraft zu einer Selbstbegrenzung, die gewissermaßen
als Immunschutz gegen überwältigende Reize und entgrenzende Horizonte wirkt.“
Goethe schrieb in „Wilhelm Meisters
Wanderjahren“: `Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren; einfache,
nahe, bestimmte Ziele vermag er einzusehen und er gewöhnt sich, die Mittel zu
benutzen, die ihm gleich zur Hand sind; sobald er aber ins Weite kommt, weiß er
weder, was er will, noch was er soll, und es ist ganz einerlei, ob er durch die
Menge der Gegenstände zerstreut oder ob er durch die Höhe und Würde derselben
außer sich gesetzt werde. Es ist immer sein Unglück, wenn er veranlaßt wird,
nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit
nicht verbinden kann.“
Demnach gebe es eine Reichweite unserer Sinne
und eine Reichweite des vom Einzelnen verantwortbaren Handelns, „einen
Sinnenkreis und einen Handlungskreis.“
Das Problem ist, daß unsere Sinne vielleicht etwas
zu offen sind und unser diesbezügliches Immunsystem nicht ausreicht. Daher
gehöre es zur Arbeit an unserer zweiten Natur, ein kulturelles Filter- und
Immunsystem zu entwickeln, das die Begegnung mit der Welt in der Lage ist, auf
ein vernünftiges Maß zu reduzieren. Aber: Mit der globalen
Informationsgemeinschaft der Medien aber habe das Individuum diese Aufgabe auf
sträfliche Weise vernachlässigt.
Denn die globale Informationsgemeinschaft
bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Menge der Reize und Informationen den
möglichen Handlungskreis dramatisch überschreitet. „Der durch Medienprothesen
künstlich erweiterte Sinnenkreis hat sich vollkommen vom Handlungskreis
losgelöst. Man kann handelnd nicht mehr angemessen darauf reagieren, also die
Erregung in Handlung umsetzen und abführen.“
Das Dilemma lässt sich Safranski zufolge so
beschreiben, daß einerseits die individuellen Handlungsmöglichkeiten schwinden,
andererseits die unerbittliche Logik des Medienmarktes mit seinen Informations-
und Bilderströmen aber die Zufuhr von Erregungen steigert: „Das muß so sein,
weil ja die Anbieter von Erregung um die knappe Ressource `Aufmerksamkeit´ beim Publikum konkurrieren.
Dieses aber, inzwischen an Sensationen gewöhnt und danach süchtig, verlangt
nach einer höheren, jedenfalls neuen Dosis von Erregung. Statt Handlungsabfuhr:
Erregungszufuhr.“
Informatuions- und Bliderströme ... permanente Erregungszufuhr! |
Die Folge ist entweder, daß man sich gegen
die permanenten Erregungszustände „durch Abbrühen unschädlich gemacht hat.“ Oder
man wird, wie Goethe feststellte, `zerstreut.´ Oder aber die Reizüberflutung
begünstigt latente Hysterie und Panikzustände.
Der Kern des Problems hängt mit dem homogenen
Raum des Globalen zusammen. „Das Ferne belästigt uns mit trügerischer Nähe und
das Zeitgleiche, vor dem wir durch Distanz geschützt waren, dringt in unsere
Eigenzeit ein. Wenn früher etwas an entferntem Ort geschah, war es schon längst
vorbei, wenn man anderswo davon Kunde erhielt. (…) Dadurch verloren die fernen Ereignisse
niemals ihren Charakter der Ferne.
Nur: Richtig erfahren kann das Individuum nur
etwas auf dem Wege der Annäherung. „Wer zu schnell irgendwo ist, ist nirgendwo.“
So setzen sich die Ureinwohner Australiens nach längerem Fußmarsch stets für
einige Stunden vor ihrem Zielort nieder, damit die Seele Zeit hat nachzukommen.“
Lass uns eben mal die Welt retten! |
Ein weiteres Problem ist, daß jeder schnell in
Situationen gerät, „die uns beunruhigend erfahren lassen, daß die Reichweite
der Bekanntschaft mit dem Globalen und die Reichweite möglichen Handelns
dramatisch auseinanderdriften.“ Die Zeiten, in denen das menschliche Handeln
durch das Nichtwissen-Können geschützt war, sind vorbei. „Da bekanntlich alles
mit allem zusammenhängt und man undeutlich davon weiß, findet der Einzelne sich
unversehens in einem Netzwerk von neuen Imperativen und Appellen gefangen. Was
tust du gegen das Ozonloch, gegen den weltweiten Terrorismus, gegen die Kinderarbeit
in Ost-Timor, gegen die Unterdrückung der Oguschen?“
So etwas hält auf die Dauer kein Mensch aus ...
(Fortsetzung
folgt)
Zitate aus: Rüdiger Safranski: Wieviel
Globalisierung verträgt der Mensch? Frankfurt a.M. 2004 (Fischer tb)