Sonntag, 29. Oktober 2023

Michael Sandel und die moralischen Grenzen des Marktes

Für Michael Sandel steht fest: „Wir leben heute in einer Zeit, in der fast alles ge- und verkauft werden kann. Im Lauf der letzten drei Jahrzehnte haben es die Märkte – und die damit verbundenen Wertvorstellungen – geschafft, unser Leben wie nie zuvor zu beherrschen. Nicht, dass wir uns bewusst dafür entschieden hätten. Es scheint einfach über uns gekommen zu sein.

Das Problem für Sandel liegt vor allem darin, dass sich die allumfassende Kommerzialisierung des Lebens mit einer zunehmenden Ungleichheit verbindet, so dass z.B. Arme und Reiche zunehmend getrennte Leben führen. „Wir arbeiten und kaufen und spielen an verschiedenen Orten. Unsere Kinder besuchen verschiedene Schulen, unsere Lebenswelten schotten sich voneinander ab. Das dient weder der Demokratie noch unserer Lebensqualität.“

Natürlich erfordere Demokratie keine vollkommene Gleichheit, aber sie erfordere, dass Bürger an einer gemeinsamen Lebenswelt teilhaben. „Es kommt darauf an, dass Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und Sozialstatus miteinander in Kontakt kommen und im Alltag auch einmal zusammenstoßen. Denn nur so lernen wir, wie wir unsere Unterschiede aushandeln und wie wir gemeinsam dem Gemeinwohl dienen können.“

Besonders krass haben sich Kommerzialisierung und soziale Ungleichheit im Bereich des Massensports entwickelt, u.a. durch die Verwandlung des Sportes in ein Handelsgut, das immer stärker in die Abhängigkeit von Sponsoring und Werbung gerät. 

Die Allianzarena in München

Es geht schon längst nicht mehr allein um den Verkauf von Sportartikeln oder Autogrammen, auch die Namen von Stadien sind käuflich zu erwerben. Obwohl manche Stadien noch ihre historischen Namen tragen, verkaufen die meisten Vereine der ersten Liga die Namensrechte der Stadien an den Meistbietenden. Banken, Energieunternehmen, Fluglinien, Technologieunternehmen und andere Firmen zahlen bereitwillig eine Menge Geld für die Aufmerksamkeit, die sie bekommen, wenn ihr Name die Stadien und Arenen großer Teams schmückt.

Dabei sind vor allem Massensportarten wie Fussball und Basketball wie nur wenige andere Institutionen eine Quelle sozialen Zusammenhalts und kollektiven Stolzes bzw. kollektiver Identität. Sportarenen sind „die Kathedralen unserer säkularen Religion dar – öffentliche Räume, in denen Menschen unterschiedlichster Herkunft in Ritualen von Niederlage und Hoffnung, Profanem und Gebet zusammenkommen.“
 
Bedauerlicherweise hat das im Sport umlaufende Geld den Gemeinschaftsgeist in den letzten Jahrzehnten stark verdrängt. Denn die Bedeutung eines öffentlichen Ortes wird für seine Bewohner verändert, wenn er den Namen wechselt.
 
Natürlich sind Stadien in erster Linie Orte, an denen sich Menschen versammeln, um sich Sportveranstaltungen anzusehen. Wenn Fans ins Stadion gehen, machen sie das nicht hauptsächlich wegen eines Gemeinschafts-erlebnisses. Sie wollen bestimmte Fussballspieler Tore schießen sehen oder erleben, wie ein Basketball-Star in den letzten Sekunden eines Spiels den entscheidenden Korb wirft.  

Das Volksparkstadion in Hamburg ist das erste Bundesligastadion, das  - 14 Jahre nach der ersten Umbenennung - 2015 seinen ursprünglichen Namen zurückerhalten hat.

Der öffentliche Rahmen, in dem das alles stattfindet, vermittelt eine gemeinschaftliche Erfahrung: „Zumindest für ein paar Stunden sind wir zusammen am selben Ort und teilen dasselbe Erlebnis. Wenn Stadien allmählich diesen Charakter verlieren und eher zu Reklametafeln werden, verschwindet damit auch ein öffentlicher Raum – und mit ihm die sozialen Bindungen und gemeinschaftlichen Gefühle, die sich dort artikulieren.
 
Noch stärker zersetzt werden die vom Sport vermittelten Gemeinschafts-erfahrungen durch die Ausbreitung der Luxuslogen. Noch in den 60er Jahren betrug der Preisunterschied zwischen den teuersten und den billigsten Plätzen in den Fußballstadien umgerechnet etwa 5 Euro. Tatsächlich waren Stadien fast während des gesamten 20. Jahrhunderts Orte, wo Führungskräfte Seite an Seite mit einfachen Arbeitern saßen, wo alle in den gleichen Schlangen anstanden, um Bratwurst oder Bier zu kaufen, und wo Reiche wie Arme gleichermaßen nass wurden, wenn es regnete.
 
Doch in den letzten paar Jahrzehnten hat sich das geändert. Das Aufkommen von VIP-Logen hoch über dem Spielfeld hat eine Trennlinie zwischen den Begüterten und Privilegierten und dem gemeinen Volk auf den Rängen darunter eingezogen.
 
Zwar tauchten die ersten Luxuslogen in den USA schon 1965 im futuristischen Houston Astrodome auf, doch spätestens in den 80er Jahren bezahlten immer mehr Firmen Hunderttausende Dollar, um Führungskräfte und Kunden im piekfeinen Rahmen über den Köpfen der Massen zu unterhalten.
 
Für die Teams waren die Einnahmen aus den Luxussuiten natürlich ein finanzieller Segen, allerdings machten die Logen einen Aspekt des Sports, die Aufhebung von Klassenunterschieden, völlig zunichte: „VIP-Logen mit ihrer kuscheligen Frivolität stehen für eine zentrale Fehlentwicklung im gesellschaftlichen Leben (…): den fast schon verzweifelten Eifer, mit dem die Elite bestrebt ist, sich von der übrigen Masse abzusetzen … der Profisport, einst ein Gegengift gegen Statusängste, ist schwer von dieser Krankheit befallen.“

Das neue Stadion des spanischen Fussball-Clubs Real Madrid - benannt nach dem Spieler, Trainer und langjährigem Präsidenten "Santiago Bernabeu"
Durch die Kommerzialisierung wird die Magie der populären Sportarten zerstört, die gerade aus ihrer wesentlich demokratischen Grundstrukturbesteht: „Die für eine große öffentliche Zusammenkunft gebaute Arena, eine Art Dorfanger des 20. Jahrhunderts, war ein Ort, an dem alle zusammenkamen.“ Die neuen Luxuslogen haben jedoch „die feine Gesellschaft so sehr vom gemeinen Volk isoliert, dass man wohl mit Recht sagen darf, dass die Sitzordnung der (…) Sportarena die soziale Schichtung reproduziert.“ Früher dagegen seien die Stadien Orte gewesen, „an dem Fließbandarbeiter und Millionäre gemeinsam für ihr Team jubeln können.“
 
Natürlich geht es für Sandel nicht nur um Werbung im Sport und anderen Bereichen unseres Lebens. Am Ende geht es um die die Frage, wie wir zusammen leben wollen. „Wünschen wir uns eine Gesellschaft, in der alles käuflich ist? Oder gibt es gewisse moralische und staatsbürgerliche Werte, die von den Märkten nicht gewürdigt werden – und die man für Geld nicht kaufen kann?“


Zitate aus: Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes, Berlin 2012 (Ullstein)