Donnerstag, 24. Februar 2022

Frank Furedi und die verborgene Geschichte der Identitätspolitik (Teil 1)


Auf den ersten Blick erscheint Identitätspolitik (engl. identity politics) sympathisch. Laut gängiger Definition hilft sie marginalisierten Gruppen, negative Fremdzu-schreibungen der Mehrheitsgesellschaft zurückzuweisen und ihnen eine positive Selbstbestimmung entgegenzusetzen. Die Anliegen von Gruppen, z.B. Farbige, Homosexuelle oder Frauen, die sich diskriminiert fühlen, sollen für den Rest der Gesellschaft hörbar und sichtbar gemacht werden. Es geht darum, Anerkennung und Respekt für ihr spezifisches Anderssein einzufordern. 

Die in dem von Johannes Richardt herausgegebenen Sammelband „Die sortierte Gesellschaft“ versammelten Autoren sind jedoch skeptisch gegenüber dieser Auffassung. Der Sammelband ruckt die Schwächen des Konzepts in den Fokus, übt Kritik und bezieht klar Position gegen Identitätspolitik. 

"Die sortierte Gesellschaft" (2018)

Denn unabhängig von der persönlichen politischen Orientierung gibt es gute Gründe, ein Denken abzulehnen, „das kulturelle Fragen politisiert und gleichzeitig politische Fragen kulturalisiert. Ein Denken, das Menschen anhand gruppen-spezifischer Merkmale in Schubladen einsortiert und so nicht nur zwischen-menschliche Solidarität, sondern auch substanzielle politische Debatten erschwert.“

Frank Furedi gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die „verborgene Geschichte der Identitätspolitik“, deren Verlauf er in vier Phasen einteilt. 

Im späten 18. Jahrhundert beginnt die erste Phase der Identitätspolitik. „In dieser Zeit bezog die Politisierung der Identität ihre Kraft aus der konservativen Reaktion gegen den Universalismus der Aufklärung. Diese Gegenaufklärung verdammte die Idee menschlicher Universalität und behauptete, nur die Identität bestimmter Völker oder Gruppen sei von Bedeutung.“

In Deutschland, allen voran der Philosoph Johann Gottfried Herder (1744–1803), sprach die konservative Bewegung der Romantik den kulturellen Unterschieden eine wesentlich größere Authentizität zu als den abstrakten Bindungen des Universalismus. Herder fing den partikularistischen Geist der neuen romantischen Verehrung kultureller Identität ein, denn ihm zufolge würde jedes Volk durch seine Kultur definiert. So habe auch jedes Volk folglich seine individuelle Identität und einen „eigenen Geist“.

In Frankreich bezeichnete Joseph de Maistre, ein reaktionärer Politikphilosoph, die Ideale der Menschenrechte als „abstrakten Unsinn“, denn „den Menschen an sich“, so behauptete er, gebe es schlicht nicht: „Ich habe Franzosen, Italiener und Russen kennengelernt, aber was den Menschen betrifft, dem bin ich nie begegnet.“

Während die Romantik auf besonders erhabene Verschiedenheiten von Identität rekurriert und die identitären Merkmale feierte, die mit dem vermeintlich einzigartigen Geist der unterschiedlichen Völker verbunden wurden, inspirierte die diese Auffassung im 19. Jahrhundert den Nationalismus. In seiner berühmten Rede „Was ist eine Nation?“ beschrieb Ernest Renan „Nation“ als „eine Seele, ein spirituelles Prinzip“.

"Man schließt sich in einer bestimmten, für national gehaltenen Kultur ein, man begrenzt sich. Man verlässt die freie Luft, die man in der Weite der Menschheit atmet, um sich in die Konventikel seiner Mitbürger zurückzuziehen. Nichts ist schlimmer für den Geist, nichts ist schlimmer für die Zivilisation." (E. Renan)

Die Menschen, die sich der Tradition der Aufklärung und dem kritischen Denken verpflichtet fühlten, widersprachen den Ideen, nach denen, „durch Biologie und die natürliche Ordnung von Geburt an bestimmt ist, wer man ist.“ Vielmehr würden sich die Menschen selbst zu dem machen, was sie sind. Auf diese Weise aber entwickelte die Aufklärung ein universelles Bewusstsein, das das Erleben einzelner Individuen, aber auch einzelner Gruppe überstieg. 

Im Nationalsozialismus nahm die Vergötterung der Identitätspolitik in der Verbindung aus Nationalismus und Rassismus eine der extremsten Formen an. Nach dem 2. Weltkrieg war die Indentitätspolitik daher zunächst diskreditiert und es dauerte einige Jahrzehnte, bis sie allmählich wiederbelebt wurde.

Nach Meinung Furedis beginnt die zweite Phase der Geschichte der Identitäts-politik, als in den 60er Jahren in den USA Teile der Bürgerrechtsbewegung zu dem Schluss kamen, „dass der richtige Weg in der Politisierung einer schwarzen Identität läge. Andere Gruppen und Minderheiten wählten ähnliche Vorgehensweisen, um neue Rechte zu gewinnen. Um die Rechte und Freiheiten zu erlangen, die ihnen bislang verwehrt blieben, konzentrierten sich Bewegungen (…) deshalb auf spezifische Alleinstellungsmerkmale“ der eigenen Gruppe.

Nicht zuletzt die kulturellen Konflikte über Lebensstile und Werte, die in den 1960er Jahren losbrachen und in den 1970er Jahren an Fahrt gewannen, förderten die „Logik einer Gegenkultur, wonach alles Persönliche politisch sei. (…) Obwohl sich radikaler Befreiungsrhetorik bedient wurde, war die Hinwendung zur Identitätspolitik im Kern konservativer Natur. Eine Empfindsamkeit, die das Besondere zelebrierte und dem Streben nach universellen Werten mit Misstrauen begegnete. Die Politik der Identität konzentrierte sich auf das Bewusstsein des Selbst und seine Wahrnehmung. 

"Die Ideale von Differenz und Vielfalt ersetzten das der menschlichen Solidarität.“

Identitätspolitik war und ist die Politik des `Alles dreht sich um mich´.“ Diese neue Sensibilität fand unübersehbaren Ausdruck in dem Begriff des „Cultural Turn“. „Das augenfälligste Merkmal des Cultural Turn war die Sakralisierung der Identität. Die Ideale von Differenz und Vielfalt ersetzten das der menschlichen Solidarität.“

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Johannes Richardt (Hg.): Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt 2018

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen