Ein „Okzidentalist“ ist nicht etwa ein Anhänger des Westens und westlicher Ideen, sondern ihr schlimmster Feind. In diesem Sinne verwenden jedenfalls Ian Buruma, ehemalige Professor für Demokratie, Menschenrechte und Journalismus am Bard College in New York und der israelische Philosoph Avishai Margalit den Begriff „Okzidentalismus“.
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Ian Buruma |
Sie verstehen unter Okzidentalismus eine Ideologie des Hasses gegen den Okzident, gegen westliche Gesellschaftsstrukturen und Werte. Okzidentalis-mus darf jedoch nach Meinung von Buruma und Margalit in naiver Vereinfachung mit Antiamerikanismus gleichgesetzt werden. Das Phänomen des Hasses auf den Westen findet sich nämlich gleichermaßen in der deutschen Romantik wie in der westlichen konservativen Kulturkritik, im Japanischen Kaiserreich wie in der Rhetorik der Nationalsozialisten, bei der antiimperialistischen Linken ebenso wie bei Islamisten.
Dem kritischen Lesen mag manche These in Ian Burumas und Avishai Margalits Essay "Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde" gelegentlich überzogen vorkommen, dennoch sind ihre Ausführungen insgesamt überaus aufschlussreich, vor allem der Versuch, den aktuellen Islamismus in eine größere, historische Perspektive des "Hasses auf den Westen" zu stellen.
Buruma, und Margalit argumentieren an zentraler Stelle, dass der Islamismus in seinem Hass auf den Westen - und damit die Feindseligkeit gegen Rationalismus, gegen den angeblichen Krämergeist, die Wurzellosigkeit der Stadt, gegen die Seelenlosigkeit des Agnostikers sich in bunter Gesellschaft befindet, mit historischen Erweckungsbewegungen ebenso wie mit der deutschen Romantik, mit japanischen Antiwestlern und slawophilen Volkstümlern, mit Maos Bauernkommunismus und auch mit gewissen Spielarten aktueller linker Globalisierungskritik
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"Der Islam wird die Welt beherrschen." - "Die Freiheit kann zur Hölle fahren." "Die Sharia ist die wahre Lösung." |
Der Angriff auf den Westen, so Buruma und Margalit ist unter anderem ein Angriff auf den Geist des Westens. „Dieser Geist des Westens wird von den Okzidentalisten häufig als eine Art höherer Idiotie dargestellt. Mit dem Geist des Westens ausgestattet zu sein heißt, ein dummer Gelehrter zu sein, der geistig zurückgeblieben ist, aber eine besondere Begabung für arithmetische Berechnungen besitzt. Dieser Geist ist seelenlos, effizient wie eine Rechenmaschine, aber ein hoffnungsloser Fall, wenn es darum geht, menschlich wichtige Dinge zu tun.“
Natürlich – und das gestehen selbst die Gegner des Westens ein – könne der Geist des Westens große ökonomische Erfolge erringen, fortgeschrittene Technologien entwickeln und verbreiten, doch die höheren Dinge des Lebens blieben ihm verschlossen, denn ihm fehlten intuitives Denken und damit letztlich Spiritualität.
Daß intuitives Denken dem abwägenden und diskursiven Denken überlegen sei, ist eine Vorstellung, die wir der Romantik zu verdanken haben. In der Zuordnung von Verstand und Seele stünde die Seele demnach für nichtdiskursives Denken, der Verstand für diskursives Denken. Lege man zu große Betonung auf den Verstand, so verringert sich die Rolle des intuitiven und nichtdiskursiven Denkens.
Der Geist des Westens sei in den Augen der Okzidentalisten – nicht nur der Romantiker – aber nun ein beschränkter Geist, mit dessen Hilfe man vielleicht den besten Weg findet, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, der jedoch völlig unbrauchbar ist, wenn man den richtigen Weg finden will – letztlich das Ziel aller religiösen und utopischen Geister – den Weg zum Heil.
Der Rationalitätsanspruch des Geistes und seiner Vernunft sei ohnehin nur die halbe Wahrheit – und zwar die wertlosere Hälfte. „Wenn mit Rationalität die instrumentelle Vernunft gemeint ist, welche die Mittel dem jeweiligen Zweck anpaßt, und zwar im Unterschied zur Wertrationalität, mit deren Hilfe man sich für den richtigen Zweck entscheidet, dann verfügt der Westen über jede Menge von ersterer und kaum etwas von letzterer. Der westliche Mensch ist demzufolge ein hyperaktiver, stets geschäftiger Körper, der immer nur die richtigen Mittel für den falschen Zweck findet.“
Waren die Denker der Aufklärung der optimistischen Ansicht, die Menschheitsgeschichte stelle ein lineares Fortschreiten in Richtung einer glücklicheren, vernünftigeren Welt dar, griff das romantische Denken auf uralte religiöse Vorstellungen wie Unschuld, Fall und Erlösung zurück. Der Romantiker hat stets das Gefühl, er sei tief gefallen und befinde sich ganz unten, von wo aus er den Blick nach oben richtet in der Hoffnung auf Erlösung. Dieser Fall ist gekennzeichnet durch „völlige Fragmentierung“ und durch eine dreifache Entfremdung: vom eigenen wahren Ich, von den Mitmenschen und von der Natur bzw. vom wahren Gott.
Für die Romantiker liegen die Hauptgründe für diese Fragmentierung in der Arbeitsteilung und im Wettbewerb der Märkte. Ihr Szenario einer metaphysischen Erlösung soll daher vor allem die Sehnsucht nach Einheit und Harmonie stillen. Der Romantiker ist allerdings freilich alles andere als ein Optimist. Es gibt keine Garantie, daß man die Entfremdung jemals wird überwinden können, und der nichtbürgerliche Romantiker ist somit für immer vom ständigen Streben nach der verlorenen Einheit getrieben.
Das ließe sich jedoch ertragen, denn für den Romantiker stehen die Suche und das Streben an erster Stelle, ganz gleich ob das Ziel jemals erreicht wird - selbst wenn man sich selbst und andere in die Lust sprengt ...
Da gemäß dem romantischen Denkmuster die Unschuld vor dem Fall kommt, neigt romantische Politik dazu, von nostalgischen Empfindungen durchdrungen zu sein. Ob das mittelalterliche Europa, das frühe Christentum, die Hochzeiten des russischen Mönchtums, das alte Japan oder das islamische Kalifat in Al-Andalus – das alles dient als Modell für das Bemühen, die verlorene Harmonie der Vergangenheit, die "Einheit" wiederherzustellen.
Interessanterweise entspricht das Vokabular der Romantik in vielen Fällen dem des Okzidentalismus: Im Hinblick auf den den Geist ist »organisch« beispielsweise ein positiv und »mechanisch« ein negativ konnotiertes Wort. Der organische Geist versetzt das Individuum in die Lage, eins zu sein mit sich, mit anderen und mit der Natur bzw. mit Gott.
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Kirejewski (1806 - 1856) |
Auch Iwan Wassiljewitsch Kirejewski, einer der wichtigsten slawophilen Theoretiker und wesentlich durch die Romantik beeinflusst, machte sowohl den Rationalismus als auch die Vernünftigkeit als verwerfliche Elemente des westlichen Geistes aus.
Aristoteles, so Kirejewskij, sei dafür verantwortlich, daß sich der Geist des Westens nach dem unabänderlichen Muster der Vernünftigkeit geformt habe. Glücklicherweise jedoch sei es ihm nicht gelungen, diese Vorstellung seinem berühmtesten Schüler zu vermitteln, nämlich Alexander dem Großen, der gerade deswegen Größe bewiesen habe, weil er nach Ruhm gestrebt habe und nicht nach dem eher belanglosen Ideal, vernünftig zu sein.
Vernünftigkeit, so Kirejewskij, sei nichts anderes als das „Streben nach dem Besseren innerhalb des engen Zirkels des Gewöhnlichen“. Vernünftigkeit sei ängstliche Klugheit, ein Aufruf zu ausgeprägter Mittelmäßigkeit, sie gründe auf banaler, konventioneller Weisheit, dem Gegenteil wahrer Weisheit. Man habe Angst, originell und ursprünglich zu sein, um nicht als Extremist zu gelten, das Schlimmste, was einem im feigen Westen passieren könne.
Vernünftigkeit ist somit gleichsam die Kurzformel für den nicht-heroischen Geist, sondern auch von antiliberalen Denkern die schon immer den Händler verachteten, aber den Helden verehrten.
Vernünftig zu sein bedeutet für die meisten - vernünftigen - Menschen Klugheit, Beständigkeit und ein gewisses Maß an Voraussicht. Dazu gehört überdies die Bereitschaft, auf die Vernunft zu hören und aus eindeutigen, nachvollziehbaren Gründen zu handeln. In diesem Sinne ist vernünftig gleichbedeutend mit rational.
Kirejewskij – wie auch andere Okzidentalisten nach ihm – betrachtete Klugheit dagegen als Ängstlichkeit, Beständigkeit als Langeweile und Voraussicht als Streben nach einem uninspirierenden, wohlbehüteten Leben. All das fand Kirejewskij bei Aristoteles – denn Aristoteles nahm allgemein verbreitete Überzeugungen und den gesunden Menschenverstand in der Tat ernst.
Der Hauptvorwurf jedoch, den Iwan Kirejewskij und andere gegen den Geist des Westens erhoben, ist demnach sein übertriebener Rationalismus. Für Kirejewskij sind das Gefühl, die Erinnerung, die Wahrnehmung, die Sprache und so weiter jedoch mindestens genauso wichtig.
Nun ist Rationalismus landläufig die Überzeugung, einzig und allein die Vernunft könne die Welt verständlich machen. Das hängt mit der Vorstellung zusammen, die Wissenschaft sei die einzige Quelle, um Naturphänomene wirklich zu verstehen. Andere Erkenntnisformen, und hier vor allem die Religion, werden von Rationalisten als potentieller Aberglauben abgetan – zumindest dann, wenn es um die beweisbare Erklärung von Naturphänomenen geht.
Neben dem naturwissenschaftlichen Rationalismus gibt es noch den politischen Rationalismus, der behauptet, die Gesellschaft lasse sich – im besten Fall - demokratisch organisieren und die aktuellen menschlichen Probleme durch Herstellung eines gemeinsamen Konsens lösen, mit Hilfe eines eben rationalen Entwurfs, der bestimmt ist von allgemeinen und universellen moralischen und logischen Prinzipien.
In den Augen der Okzidentalisten hat sich der arrogante Westen aber gerade hier der Sünde des Rationalismus schuldig gemacht, also der Anmaßung zu glauben, mittels der Vernunft könne der Mensch alles wissen und erkennen, was es auf dieser Welt zu wissen und zu erkennen gibt.
So lässt sich der Okzidentalismus verstehen als Ausdruck eines verbitterten Unmuts gegenüber der offenen Demonstration westlicher Überlegenheit, die auf der vermeintlichen Überlegenheit der Vernunft beruht. Heute lässt sich der Hass auf die „Ausbreitung des szientistischen Glaubens“, also des Vertrauens in die Wissenschaft als einzigem Weg der Erkenntnis, hervorragend am Beispiel revolutionärer Islamisten erkennen.
(Fortsetzung folgt)
Zitate aus: Ian Buruma /Avishai Margalit: Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, München 2015