Kassandra, Tochter des trojanischen Königs,
besaß die prophetische Gabe, zukünftiges Unheil vorauszusehen – allerdings
verbunden mit dem Fluch, niemals Gehör zu finden. Diese mythische Figur wurde
im Verlauf der Jahrhunderte nicht zufällig wieder und wieder aktualisiert und
interpretiert. Sie steht für den Umgang mit der Wahrheit, die man zugleich
sucht und umgehen will. So werden auch Symptome drohender Krisen bereits im
Vorfeld abgewehrt. Für Jürgen Wertheimer, Professor für Internationale
Literatur an der Universität Tübingen, Grund genug, um über diesen fatalen
Mechanismus nachzu-denken.
Das Schlimmste, was einem voraus-schauenden
Menschen geschehen kann, ist dass seine begründeten Warnungen als
„Kassandrarufe" eingestuft und damit meist abgetan oder zumindest
belächelt werden. Das dunkle Erbe der Seherin, deren Begabung in die Zukunft
blicken zu können zum Fluch wird, spukt noch immer durch das kollektive
Halbbewusstsein und wird als bewährte Abwehrstrategie gegen unerwünschte
Warner und Warnungen eingesetzt.
Ohnmächtig muss die Geschlagene zusehen, wie
sich das von ihr vorhergesehene und vorausgesagte Schicksal erfüllt. In seiner
Ballade „Kassandra“ lässt Friedrich Schiller die Unglückliche verzweifeln und
gegen ihre fatale Berufung aufbegehren:
"Warum gabst du mir zu sehen,
Was ich doch nicht wenden kann?/.../
Nur der Irrtum ist das Leben,
Und das Wissen ist der Tod.“
Apollos Fluch als Ursache dieses seherischen
Debakels ist natürlich nur die mythologische Einkleidung für eine Eigenart des
menschlichen Verhaltens, die offenbar bereits in der griechischen Antike
augenscheinlich war: die enorme Fähigkeit des Menschen zur Unbelehrbarkeit bei
allen entscheidenden Fragen.
Das Phänomen der Unbelehrbarkeit ist umso
gravierender und paradoxer, als der Abwehr unerwünschter Vorhersagen seit der
Antike ein boomender Markt von Orakeln, Propheten und Horoskopen
gegenübersteht. Das Delphische Orakel erreichte geradezu staatserhaltende
Dignität. Druiden und professionelle Seher wurden zu Kultfiguren. Ganz
offensichtlich ist der Mensch zukunftssüchtig und -scheu zugleich. Es ist
sicher kein Zufall, dass mit Kassandra und Pythia gleich zwei Profis des
vorausschauenden Gewerbes bereits am Anfang der kulturellen Entwicklung Europas
stehen. Denn die Menschen suchen nicht nur Rat, sie sind förmlich süchtig
danach und sogar bereit, dafür zu zahlen.
Max Klinger: Kassandra (Hamburger
Kunsthalle, Juli 2013)
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Wie die Menschen mit den erworbenen oder
aufoktroyierten Ratschlägen dann umgehen, ist eine andere, weit schwierigere
Frage. Dass sich ein klug reflektierter Lernprozess, ein durchdachter
Verhaltensplan an den Beratungs-vorgang anschlösse, ist eher die Ausnahme. Um die
menschliche Fähigkeit, Eindrücke und Informationen unbeeinflusst zu sammeln,
Wahrnehmungen klug zu verarbeiten, um dann daraus die optimalen Schlüsse für ein
angemessenes Verhalten zu ziehen, steht es jedenfalls nicht besonders gut.
In Max Frischs Stück „Biedermann und Brandstifter“
kann man die Stadien dieser Selbstblockade minutiös verfolgen und die Faktoren
heraus destillieren, die den Menschen daran hindern, präventiv zu agieren.
Hochmut, Trägheit und Eitelkeit spielen dabei auf frappierende Art zusammen:
„Wenn man jedermann für einen Brandstifter
hält, wo führt das hin? Man muss auch ein bisschen Vertrauen haben. Ein
bisschen Vertrauen.“
Umgekehrt versteht es die andere Seite sehr
gut, mit einer der eigentümlichsten Verhaltensweisen, der Lust, Fakten zu
ignorieren, ihr Spiel zu treiben, denn, so die Formulierung eines der späteren
Brandstifter:
„Scherz ist die drittbeste Tarnung. Die
zweitbeste ist Sentimentalität. Aber die beste und sicherste Tarnung ist immer
noch die blanke und nackte Wahrheit. Komischerweise. Die glaubt niemand.“
Immer dann, wenn die Tatsachen schließlich auf
dem Tisch liegen, wenn eine wie Kassandra explizit warnt, vor der List der
Griechen, vor Helena, vor dem hölzernen Pferd, dann wird umgeblättert oder weggehört.
Am drastischsten wird die tragische Situation
der Seherin, der keiner Glauben schenkt, in der Orestie des Aischylos
dargestellt. Kassandra „sieht“, „riecht“ das Mordkomplott, das sich im Haus des
zurückgekehrten Agamemnon in wenigen Stunden abspielen wird – um sie herum das
Volk, der Chor, ratlos und ungläubig und verstört.
Verstört nicht zuletzt durch die Wucht, das
poetische Pathos ihrer „seherischen Rede“, die hoch erregt, in nahezu
unkontrollierten Stößen aus ihr herausbricht und sie gleichzeitig befeuert und
quält. Um es klar zu sagen: in allen ihren Vorahnungen, in ihrem Vorwissen
liegt Kassandra hier wie zuvor in Troja zu hundert Prozent richtig. Und dennoch
zögert die Öffentlichkeit, die Botschaft wahrhaben zu wollen.
Die Argumente scheinen auch Heutigen nicht ganz
unvertraut. Eines davon hat schlicht mit Angst zu tun, Angst mit Unangenehmen
konfrontiert zu werden, panischer Angst:
„Weh! Welchen Dämon rufst du auf, in diesem
Haus
... Fröhlich
macht dein Wort mich nicht!
Nein, in das Herz zurück stürzt mir in
dumpfer Angst
Das Blut totenbleich, wie der Verwundeten
Brechendes Auge der Tod tief in Nacht hüllt“
Ein weiteres Abwehrargument verweist auf
schlechte Erfahrungen und ein allgemeines Unbehagen, verbunden mit der
vermutlich vorgeschobenen Behauptung der eigenen Inkompetenz im Umgang mit der
Deutung von unbekannten Vorzeichen:
„Nicht großer Kunde rühm ich mich im Deuten
von
Orakelsprüchen; ...
Wo ist ein freundlich Wort von den Orakeln je
Den Sterblichen gesandt?“
Und schließlich fehlt in der Reihe der Gründe
für die abweisende Haltung der – bereits zum Greifen nahen – Prophezeiungen
auch nicht der Hinweis auf eventuelle Defekte der Seherin:
„Dich hat ein Gott verwirrt,
Dir das Gemüt verstört, ...
Sag, welcher schwererzürnte Gott
Erfasst überstark dich, ...
Dass Wehklage du, Jammer des Todes du singst?“
Abwehr und Abkehr, obwohl bereits die Schreie
und der Blutgeruch aus dem Palast dringen. Aischylos hat wahrhaft gut
beobachtet, wie weit die Fähigkeit zur Ausblendung unerwünschter Wirklichkeit
reicht.
Ajax mit Kassandra die am Abbild
der Athene um Hilfe bittet, Aeneas mit Anchises verlassen die Stadt ... (Neapel,
Museo Archeologico Nazionale)
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Welche Faktoren müssen zusammenkommen, dass ein derartiger Verlust an Wirklichkeitsbindung eintreten kann und man die Warnerin und Aufklärerin in die Nähe von Paranoia und Krankheit rückt?
Und zudem einen verhängnisvollen Zirkel in
Gang setzt: denn je mehr die Seherin sich abgewiesen sieht, umso stärker wird
ihr Bedürfnis, sich mitzuteilen, umso verzweifelter und exaltierter erscheinen
ihre Versuche, durchdringen zu wollen – was wiederum zur Folge hat, dass sie
unwillentlich den Grad der Isolation um sich her nur noch weiter vergrößert.
Auf der Bühne wird dies geradezu körperlich
greifbar, wenn das Kollektiv von ihr auch räumlich abrückt und sie im Abseits
stehen lässt. Vielleicht auch, weil man sie bereits allzu automatisch mit der
Rolle der notorisch unerwünschten Ratgeberin identifizierte.
Kassandra hat nur dann eine Chance, wenn wir bereit
sind, uns dem Potential ihrer Warnungen willentlich zu öffnen. Nur dann würde
sich etwas für sie ändern und sie müsste sich nicht mehr wie noch bei
Schiller diese verfluchte, frustrierende Gabe vom Halse wünschen.
„Meine Blindheit gib mir wieder
Und den fröhlich dunkeln Sinn,
Nimmer sang ich freudge Lieder,
Seit ich deine Stimme bin.
Zukunft hast du mir gegeben,
Doch du nahmst den Augenblick,
Nahmst der Stunde fröhlich Leben,
Nimm dein falsch Geschenk zurück!“
Zitate aus: Jürgen Wertheimer: Kassandra
und die Ignoranten. Der Umgang mit Krisen in
postfaktischen Zeiten, SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 6. August 2017, Redaktion:
Ralf Caspary, Produktion: SWR 2017