Donnerstag, 25. Mai 2017

Hans-Georg Gadamer und die Philosophie des Verstehens - Teil 2


(Fortsetzung vom 18.05.2017)


Unsere Kultur und Denkweise, unsere Sprache und Begriffe, die traditionellen Lebensüblichkeiten der Gesellschaft bilden nach Gadamer einen Wirkungszusammenhang, in dem wir immer schon leben, bevor wir über Geschichte auch nur nachdenken können.

Wir können der Geschichte also gar nicht entkommen. Wir stehen immer in der Geschichte. Es gibt eine grundsätzliche Zugehörigkeit, die für uns als geschichtliche Wesen kennzeichnend ist.

Es gibt ständig einen geschichtlichen Einfluss. Für den geschichtlichen Einfluss, für den Einfluss der Vergangenheit ist kennzeichnend, dass die Vergangenheit ja schon festgelegt ist. Das heißt der Einfluss hat einen besonderen Charakter. Es gibt schon etwas Unumstößliches, das auf uns wirkt.

Wirkungsgeschichte und Tradition

Der für Gadamer so wichtige Begriff der Wirkungsgeschichte beschreibt die Zugehörigkeit des endlichen Menschen zu einer viel größeren Geschichte, in die er immer schon hineingeboren ist und die sein Denken und Urteilen durch Tradition und Überlieferung beeinflusst. Das hat Gadamer den Ruf eines eher konservativen Philosophen eingebracht. Dabei wollte er nur auf die Wirkungsmächtigkeit von Traditionen aufmerksam machen. Und auf die Erkenntnischancen, die in einer produktiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit liegen.

Aber Tradition ist etwas sozusagen, das jeder dann in seiner Generation neu anwenden muss und neu definieren muss und neu bestimmen muss – im Hinblick auf das, was an dieser Tradition nun das Wertvolle ist, das es verdient, sozusagen weitergeführt zu werden und das, was man eben nicht mehr als zeitgemäß und wertvoll für die eigene Zeit erachtet. Aber diese kritische Prüfung der Tradition ist nur möglich, wenn man sich bewusstmacht, dass man in einer Tradition steht. Wenn das gar nicht der Fall ist, wenn dieses Bewusstsein nicht besteht, kann man auch nicht kritisch auswählen, kann man auch nicht kritisch ein Verhältnis dazu gewinnen.

Der Geisteswissenschaftler steht jedenfalls immer schon in der Geschichte. Bestimmt von überlieferten Vorurteilen und Vorverständnissen. Für die Geisteswissenschaften der 60er und 70er Jahre war das dennoch eine befreiende Einsicht, weil sie die anmaßenden Methoden der Naturwissenschaften in die Schranken weisen konnte. In der Erfahrung von Kunst, Geschichte und Literatur sind sie nur bedingt anwendbar und haben keinen exklusiven Wahrheitsanspruch.

Zugehörigkeit zur Geschichte verlangt ein anderes Denken. Die Begegnung des Interpreten mit historischen Texten gleicht nach Gadamer eher einem lebendigen und offenen Dialog. Gadamer spricht deshalb häufig von einer unmittelbaren Betroffenheit. Wir werden von der Tradition angesprochen und müssen dann antworten.

Wenn man etwa Dichtung aus der Goethe-Zeit liest, dann setzt man auch seine eigenen Vorurteile auf den Prüfstand, setzt den eigenen Zeithorizont dem Zeithorizont des Textes aus und gerät in eine Art lebendiges Gespräch. Gadamer nennt diesen Prozess „Horizontverschmelzung“.

Horizontverschmelzung

Aber nicht nur Kunst und Literatur, sondern vor allem das philosophische Interesse Gadamers spielt eine wichtige Rolle im Verständnis seiner Hermeneutik. Dafür wurde seine Begegnung mit Martin Heidegger entscheidend.

Gadamer ging im Sommersemester 1923 an die Universität Freiburg, um bei ihm zu studieren. Und anschließend auch an die Universität Marburg, wo Heidegger bis 1928 tätig war. Über das Phänomen des Verstehens hat Gadamer bei Heidegger etwas Wichtiges gelernt. Verstehen hat etwas Grundlegendes mit unserem Dasein zu tun: Das Dasein ist eines, das sich in seinem „Da“ immer schon versteht, das immer schon eine Orientierung hat, sich immer schon hin entwirft auf etwas. Und immer schon auch sich auf etwas versteht, nämlich auf sein Existieren versteht.

In die Zeitlichkeit des Daseins geworfen, entwirft sich der Mensch zugleich in eine unsichere Zukunft. Sein endliches Dasein ist Sorge um sich selbst. Dieses Sichentwerfen in die Möglichkeiten des eigenen Daseins erfordert ständige Wachsamkeit, Interpretation, Auslegung und Verstehen – Gadamer begegnet in Heidegger einer existenzphilosophischen Hermeneutik.

Weil aber für Gadamer alles Verstehen sprachlich vermittelt ist, stößt er in einen Bereich vor, der Heidegger verschlossen war. – Das wirkliche Verstehen erfolgt in der zwischenmenschlichen Verständigung, im Miteinander. Sprache ist das übergreifende Medium der Hermeneutik, unsere gemeinsame Welterschließung.

„Das Problem des Verstehens hat in den letzten Jahren eine große Aktualität gewonnen gewiss nicht außer Zusammenhang mit der weltpolitischen und gesellschaftspolitischen Zuspitzung, der unsere Gegenwart durchziehenden Spannungen. Denn das begegnet uns allerorten, dass Versuche der Verständigung zwischen den Blöcken, den Zonen, den Nationen, den Generationen, daran scheitern, dass sich keine gemeinsame Sprache finden lässt, sondern die gebrauchten Leitbegriffe wie Reizworte die Gegensätze eher aufreißen und vertiefen und die Spannungen vermehren, zu deren Behebung man eigentlich zusammengekommen ist.“

Nicht zuletzt ist Gadamers Philosophie des Verstehens auch eine Sache der Lebensklugheit. Die grundsätzliche Offenheit für das Gespräch und die Fähigkeit, andere Meinungen als erkenntnisfördernd zu sehen, hat zu einem anregenden Austausch Gadamers auch mit seinen Kritikern geführt. Gadamer hat außerdem viele Schüler gefördert, die nicht auf seiner philosophischen Linie lagen. Das hat zur Ausbreitung seiner Hermeneutik nicht unwesentlich beigetragen.

Gespräch und Lebensklugheit

Gleich nach dem zweiten Weltkrieg, als Rektor der Universität Leipzig, war Gadamer ein gesuchter Gesprächspartner zuerst der amerikanischen, dann der russischen Besatzungsmacht. Das lag zum Teil daran, dass er nie ein Mitglied der NSDAP war und politisch akzeptiert wurde. Durch sein diplomatisches Geschick erreichte er, dass der Universitätsbetrieb in Leipzig bestmöglich weitergehen konnte. Immer wieder kennzeichnend für Gadamer ist auch das Bestreben, Gelehrte aus der Emigration in das deutsche Universitätsleben zurückzuholen, so zum Beispiel Theodor W. Adorno nach Frankfurt.

Ab 1949 lehrte Gadamer am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg. 1969 wurde er emeritiert. Bis Mitte der 80er Jahre gab Gadamer noch Vorlesungen, Vorträge noch länger. Auch heute ist Gadamer im Universitätsleben noch präsent. In den Geisteswissenschaftenspielt Gadamer nach wie vor eine große Rolle. Nur eine eigene „Gadamer-Schule“ gibt es weder in Heidelberg noch sonst wo, vielleicht weil Gadamer immer wollte, dass die Nachfolger etwas Eigenes machen.

„Hermeneutik gehört ins Gespräch“, sagt Gadamer. Oft hätten nach den Lehrveranstaltungen, in einem kleinen Kreis bei einem Glase Wein, die besten philosophischen Diskussionen stattgefunden.

„Bildung heißt, sich die Dinge vom Standpunkt eines Anderen ansehen können.“


Zitate aus: Günter Bachmann:: Hans-Georg Gadamer – Philosophie des Verstehens, , SRW2 Wissen, Sendung  vom 10. März 2017

Donnerstag, 18. Mai 2017

Hans-Georg Gadamer und die Philosophie des Verstehens - Teil 1

„Welt ist auch Horizont. Diese lebendige Erfahrung, die wir alle kennen, die den Blick ins Unendliche gerichtet hält. Und dieses Unendliche weicht mit jeder noch so großen Anstrengung und jeder noch so großen Geschwindigkeit immer nur weiter neuen Horizonten und neuen Horizonten, das heißt, die Welt ist in diesem Sinne für uns ein ganz großer Bereich, in dessen Mitten wir unsere bescheidene Orientierung suchen.“

Hans-Georg Gadamer

Hans-Georg Gadamer gilt als einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts – und das weit über Deutschland hinaus. Seinen weltweiten Ruhm verdankt Gadamer dem unablässigen Ringen mit dem „Phänomen des Verstehens und der rechten Auslegung des Verstandenen“.

„Sich in der Welt verstehen, hatte ich gesagt, das ist eigentlich das Thema. Und das heißt, sich miteinander zu verstehen. Und miteinander sich verstehen, das heißt den Anderen verstehen. Und das ist moralisch, nicht logisch, die schwerste menschliche Aufgabe überhaupt.

Wir müssen lernen zu sehen, dass der Andere eine primäre Grenzsetzung unserer Eigenliebe und unserer Egozentrik ist.“

Das Hören auf den Anderen ist ein Kernpunkt der Gadamerschen „Hermeneutik“. Hören heißt noch nicht zustimmen. Aber der Andere könnte Recht haben. Sich gar nichts sagen zu lassen, bedeutet einen Verzicht auf all die zusätzlichen Erkenntnismöglichkeiten, die in den Fremdperspektiven liegen:

Auf den Anderen hören ...
„Denn wer hört auf den Anderen, hört immer auf jemanden, der seinen Horizont hat. Das ist zwischen Ich und Du dieselbe Sache wie zwischen den Nationen oder zwischen den Kulturkreisen. Überall stehen wir vor diesem gleichen Problem. Wir müssen lernen, dass gerade im Hören auf den Anderen der eigentliche Weg sich öffnet, in dem wir Solidaritäten finden.“

1990 hält Gadamer im Alter von 90 Jahren an der Universität Heidelberg einen Vortrag über „Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt“. Energisch vertritt er seine Philosophie der Verständigung mit anderen, die nur im Gespräch erfolgen kann:

„Sprache gehört in die Praxis, in das menschliche Miteinander und Zueinander. Und die Hermeneutik sagt, die Sprache gehört in das Gespräch. Das heißt, die Sprache ist überhaupt nur, was sie ist, wenn sie Verständigungsversuche, wenn sie Austausch und Rede und Gegenrede erfährt, wenn sie Antwort und Frage ist.“

Der aktuelle Bezug ist kaum zu überhören, denn wenn die kulturelle Diversität bedroht ist, hört ja die Möglichkeit auf, sich von unterschiedlichen Perspektiven aus zu verständigen. Das ist sicher heute eine aktuelle Frage. Erstens, wie wir uns mit anderen verständigen können sollen, aber auch wie wir sicherstellen, dass diese Diversität, die für hermeneutische Vielfalt steht, nicht plötzlich aufhört.

Hans Georg Gadamer gilt als Begründer der modernen philosophischen Hermeneutik. Hermeneutik ist eine Art Hilfswissenschaft der Theologie, Philologie und Rechtsprechung. Und ungefähr so alt wie diese Disziplinen selbst. Der Sprachwissenschaftler, der Homer verstehen will, der Pfarrer, der in seiner Predigt die Heilige Schrift interpretiert, der Richter, der ein allgemeines Gesetz auf einen einzelnen Fall anwendet – sie alle benötigen für ihre jeweilige Berufspraxis eine Lehre des Interpretierens und Deutens. Das altgriechische Verb „hermeneuein“ bedeutet zunächst nur „auslegen, dolmetschen, aussagen, verkünden“.

Das, was Gadamer nun versucht, ist, dass er Hermeneutik als philosophische Hermeneutik verstehen möchte. Das heißt, er möchte die Hermeneutik herausbringen aus dieser Rolle, nur Hilfestellung zu sein für bestimmte Fächer und Fachaufgaben. Nämlich Hermeneutik als etwas zu verstehen, das etwas berührt, was grundlegend ist. Und das hat natürlich zu tun mit Sprache, weil das Verstehen für Gadamer als dieses grundlegende, zu unserem Leben als Menschen dazugehörende Verstehen immer schon ein sprachliches Verstehen ist. Das ist ein Verstehen, das über Sprache läuft.

Philosophische Hermeneutik
Was heißt philosophische Hermeneutik?, diese Frage musste sich Gadamer auch von seinem Verleger gefallen lassen, als er ihm 1959 ein umfangreiches Manuskript mit dem Titel „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“ vorlegte. Der Verleger bat ihn, einen verständlicheren Titel zu suchen. Gadamer beherzigte den Rat und nannte sein Werk nun „Wahrheit und Methode“ mit dem Untertitel „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“.

Das Buch verkaufte sich erstaunlich gut, letztlich wohl deshalb, weil es ein Buch von einem Philosophen war, das eine Grundlage geben wollte für die Geisteswissenschaften, für jene Wissenschaften, die etwas mit einem Verstehen zu tun haben, von Texten, von Gesellschaft, von Kunst – also für das, was dann seit dem 19. Jahrhundert im Deutschen eben die Geisteswissenschaften waren.

In Interviews und Schriften hat Gadamer zwar bereitwillig über seinen intellektuellen Werdegang, seine akademische Lehrtätigkeit und auch über seine geschichtlichen Erfahrungen gesprochen. Nur übertriebene Ichbezogenheit, den modernen Subjektivismus mit seinem Genie- und Personenkult mochte er nicht. Entsprechend zurückhaltend äußerte er sich kaum über sein Privatleben. Vielleicht aus der Einsicht, die er in einer berühmten Passage aus „Wahrheit und Methode“ formuliert hat:

„In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens.“

Unsere Kultur und Denkweise, unsere Sprache und Begriffe, die traditionellen Lebensüblichkeiten der Gesellschaft bilden nach Gadamer einen Wirkungszusammenhang, in dem wir immer schon leben, bevor wir über Geschichte auch nur nachdenken können.

Wir können der Geschichte also gar nicht entkommen. Wir stehen immer in der Geschichte. Es gibt eine grundsätzliche Zugehörigkeit, die für uns als geschichtliche Wesen kennzeichnend ist.

Es gibt ständig einen geschichtlichen Einfluss. Für den geschichtlichen Einfluss, für den Einfluss der Vergangenheit ist kennzeichnend, dass die Vergangenheit ja schon festgelegt ist. Das heißt der Einfluss hat einen besonderen Charakter. Es gibt schon etwas Unumstößliches, das auf uns wirkt.

(Fortsetzung folgt)



Zitate aus: Günter Bachmann:: Hans-Georg Gadamer – Philosophie des Verstehens, , SRW2 Wissen, Sendung  vom 10. März 2017

Donnerstag, 11. Mai 2017

Martin Luther und die Gewissensfreiheit - Teil 2



Luther war durchaus ein Wegweiser der Aufklärung und der Bildung, insofern als er an der Mündigkeit des Menschen weit vor der Aufklärung interessiert war. Selbstverständlich war das souveräne „Subjekt“, das sich entschließt, sich seine Welt selbst zu erfinden, in der frühen Neuzeit überhaupt noch nicht denkbar. Das galt übrigens auch für alle anderen Humanisten und auch für die Renaissance-Philosophen.

So entstand Luthers Freiheitsforderung nicht aus unserer heutigen Vorstellung des „autonomen Individuums“ heraus, sondern aus der Idee, dass jeder Einzelne unmittelbar und unvertretbar vor Gott und seinem Gewissen stehe.

Martin Luther
Das ist rückblickend für die Geschichte der Aufklärung und der Erfindung des Bürgertums nicht unerheblich, dass Luther nicht in Ständen dachte, sondern den Gedanken vertrat, dass Gott alle an ihren spezifischen Ort beruft, auch in die Berufen. Die entscheidende Frage ist dann „Wo stellt Gott mich hin?“ und eben nicht „In welchem Stand bin ich geboren?“ Und das ist wiederum eine Idee, die später dann von den großen Aufklärern im 18.Jahrhundert aufgenommen werden, die dann sowas wie eine frühbürgerliche Ordnung vorprägen.

Das würde bedeuten: Auf dem Weg zum gebildeten, mündigen Bürger haben der katholische Mönch Martin Luther und der evangelische Philosoph Immanuel Kant dasselbe Ziel. Sie kommen nur von unterschiedlichen Ausgangspunkten: Auf der einen Seite steht Martin Luthers unvertretbare Gewissensverantwortung – „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – auf der anderen Seite Immanuel Kants kategorischer Imperativ – „Handle nur nach der Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Die Behauptung, Luther habe eine herausgehobene Position in der Bildungs- und in der Aufklärungsgeschichte, ist also durchaus zutreffend.

Ausgesprochen glücklich war der Umstand, dass Luther mit Melanchthon einen kongenialen Partner hatte, mit dem er sich hervorragend verstand. Es war Melanchthon, der dafür sorgte, dass humanistische Bildungsauffassungen mit in die Reformation Eingang gefunden haben.

Phillip Melanchthon
Aber was das Eigen-ständige Luthers war: Dass das alles auch das Volk erreichen sollte, das Evangelium fürs Volk, und dass das Volk gebildet sein soll! Was er mit hineingebracht hat in diese ganze Bildungsbewegung war etwas Nicht-Elitäres, etwas Emanzipatives. Man könnte sagen: Was die politische Freiheit für die Französische Revolution war, das ist die religiöse Freiheit für die Reformation.

Nicht unterschätzten darf man gleichwohl das Interesse der deutschen Fürsten, die sich nicht nur einfach „von Rom“ lossagen wollten – nicht zuletzt, um das Eigentum der Kirchen und Klöster an sich zu ziehen. Daher genoss Luther deren Schutz. Die Kritik an Luther wendet ein, dass er im Gegenzug die Religion an die Fürsten verpfändet. Aus dem mittelalterlichen Gegensatz von Staat und Kirche wird bei Luther nun die Staatskirche der Neuzeit. Luther ruft im Interesse der Fürsten zum Kreuzzug gegen die Bauern auf. Mit Demokratie hat Luther offensichtlich nichts am Hut.

Man muss allerdings unterscheiden zwischen der frühen Phase Luthers, wo er offen war gegenüber Widerstand und Widerspruch und dem späten Luther, der sehr desillusioniert und frustriert war. Am Anfang war die Reformation ja eine kirchliche Erneuerungsbewegung zurück zum „ursprünglichen Christentum“. Daraus entwickelte sich dann sowas wie eine Fürstenreformation, d.h. plötzlich ist die Obrigkeit im Spiel. Nun geht es um Ordnungsgefüge, um Macht und um innere Sicherheit.

Vielleicht darf man einfach nicht vergessen, dass Luther natürlich von seinem Weltbild her noch im Mittelalter verhaftet war.

Heute gibt es das Grundrecht auf Gewissensfreiheit. Sucht man bei Martin Luther und der Reformation nach Samenkörnern für die später heranreifende Aufklärung, dann kommt unweigerlich der Vorwurf, dass die politische Verwirklichung der Gewissensfreiheit und die daraus abgeleiteten Menschenrechte jahrhundertelang oft genug gegen die Kirchen durchgeboxt werden mussten! Gegen die katholische bis tief ins 20.Jahrhundert hinein; aber 1789 auch gegen die evangelisch-calvinistische und 1848 gegen die evangelisch-lutherische.

Die Idee der Menschenrechte
verdankt sich auch Impulsen der Reformation
Und dennoch verdankt sich die Idee der Menschenrechte Impulsen der Reformation. Oft kamen die Impulse von Minderheitenkirchen, von Vertriebenenkirchen, die dann in den Vereinigten Staaten oder sonst wo neu anfangen mussten, z.B. die Mennoniten und Waldenser. Die haben schon sehr früh verstanden, dass das eine Überlebensfrage wird, dass sie als Minderheiten anerkannt sind.

Hier liegt die Verbindung zu Luther und seiner besonderen Sicht des Menschen: Es gibt keinen Menschen, der vom Menschsein ausgeschlossen ist! Es gibt keine Eigenschaft, die den Menschen in besonderer Weise zu seinem Menschsein in voller Würde befähigt, sondern diese Würde trifft auf alle Menschen zu, in allen Formen, zu Beginn des Lebens, am Ende des Lebens.

Luther hatte ein sehr realistisches Verhältnis zum Menschen, weder will er etwas schönreden, noch etwas schlechtreden. Luther versteht den Menschen ganz realistisch als jemanden, der hin und her gerissen ist zwischen Gefühlen und seinem klugen Verstand, überwältigt von negativen Energien und der Bereitschaft, „ein netter Nachbar zu sein.“ Als Menschen haben wir ganz ambivalente Möglichkeiten: Zerstörerische und großartig schöpferische Möglichkeiten.

Luther als Wegbereiter der Gewissensfreiheit und bürgerlicher Freiheiten? Die ganze Reformation, „geht uns voraus“, meint Joachim Gauck.

Zitate aus: Andreas Malessa: Luther - Wegbereiter der Gewissensfreiheit?, SRW2 Wissen, Sendung  vom 16. März 2017