(Fortsetzung vom 18.05.2017)
Unsere Kultur und Denkweise, unsere Sprache und Begriffe, die traditionellen Lebensüblichkeiten der Gesellschaft bilden nach Gadamer einen Wirkungszusammenhang, in dem wir immer schon leben, bevor wir über Geschichte auch nur nachdenken können.
Wir können der Geschichte also gar nicht entkommen. Wir stehen immer in der Geschichte. Es gibt eine grundsätzliche Zugehörigkeit, die für uns als geschichtliche Wesen kennzeichnend ist.
Es gibt ständig einen geschichtlichen Einfluss. Für den geschichtlichen Einfluss, für den Einfluss der Vergangenheit ist kennzeichnend, dass die Vergangenheit ja schon festgelegt ist. Das heißt der Einfluss hat einen besonderen Charakter. Es gibt schon etwas Unumstößliches, das auf uns wirkt.
Wirkungsgeschichte und Tradition |
Der für Gadamer so wichtige Begriff der Wirkungsgeschichte beschreibt
die Zugehörigkeit des endlichen Menschen zu einer viel größeren Geschichte, in
die er immer schon hineingeboren ist und die sein Denken und Urteilen durch
Tradition und Überlieferung beeinflusst. Das hat Gadamer den Ruf eines eher
konservativen Philosophen eingebracht. Dabei wollte er nur auf die
Wirkungsmächtigkeit von Traditionen aufmerksam machen. Und auf die
Erkenntnischancen, die in einer produktiven Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit liegen.
Aber Tradition ist etwas sozusagen, das jeder dann in seiner
Generation neu anwenden muss und neu definieren muss und neu bestimmen muss –
im Hinblick auf das, was an dieser Tradition nun das Wertvolle ist, das es
verdient, sozusagen weitergeführt zu werden und das, was man eben nicht mehr
als zeitgemäß und wertvoll für die eigene Zeit erachtet. Aber diese kritische
Prüfung der Tradition ist nur möglich, wenn man sich bewusstmacht, dass man in
einer Tradition steht. Wenn das gar nicht der Fall ist, wenn dieses Bewusstsein
nicht besteht, kann man auch nicht kritisch auswählen, kann man auch nicht
kritisch ein Verhältnis dazu gewinnen.
Der Geisteswissenschaftler steht jedenfalls immer schon in
der Geschichte. Bestimmt von überlieferten Vorurteilen und Vorverständnissen.
Für die Geisteswissenschaften der 60er und 70er Jahre war das dennoch eine
befreiende Einsicht, weil sie die anmaßenden Methoden der Naturwissenschaften
in die Schranken weisen konnte. In der Erfahrung von Kunst, Geschichte und
Literatur sind sie nur bedingt anwendbar und haben keinen exklusiven
Wahrheitsanspruch.
Zugehörigkeit zur Geschichte verlangt ein anderes Denken.
Die Begegnung des Interpreten mit historischen Texten gleicht nach Gadamer eher
einem lebendigen und offenen Dialog. Gadamer spricht deshalb häufig von einer
unmittelbaren Betroffenheit. Wir werden von der Tradition angesprochen und
müssen dann antworten.
Wenn man etwa Dichtung aus der Goethe-Zeit liest, dann setzt
man auch seine eigenen Vorurteile auf den Prüfstand, setzt den eigenen
Zeithorizont dem Zeithorizont des Textes aus und gerät in eine Art lebendiges
Gespräch. Gadamer nennt diesen Prozess „Horizontverschmelzung“.
Horizontverschmelzung |
Aber nicht nur Kunst und Literatur, sondern vor allem das
philosophische Interesse Gadamers spielt eine wichtige Rolle im Verständnis
seiner Hermeneutik. Dafür wurde seine Begegnung mit Martin Heidegger
entscheidend.
Gadamer ging im Sommersemester 1923 an die Universität
Freiburg, um bei ihm zu studieren. Und anschließend auch an die Universität
Marburg, wo Heidegger bis 1928 tätig war. Über das Phänomen des Verstehens hat
Gadamer bei Heidegger etwas Wichtiges gelernt. Verstehen hat etwas Grundlegendes
mit unserem Dasein zu tun: Das Dasein ist eines, das sich in seinem „Da“ immer
schon versteht, das immer schon eine Orientierung hat, sich immer schon hin
entwirft auf etwas. Und immer schon auch sich auf etwas versteht, nämlich auf
sein Existieren versteht.
In die Zeitlichkeit des Daseins geworfen, entwirft sich der
Mensch zugleich in eine unsichere Zukunft. Sein endliches Dasein ist Sorge um
sich selbst. Dieses Sichentwerfen in die Möglichkeiten des eigenen Daseins
erfordert ständige Wachsamkeit, Interpretation, Auslegung und Verstehen –
Gadamer begegnet in Heidegger einer existenzphilosophischen Hermeneutik.
Weil aber für Gadamer alles Verstehen sprachlich vermittelt
ist, stößt er in einen Bereich vor, der Heidegger verschlossen war. – Das
wirkliche Verstehen erfolgt in der zwischenmenschlichen Verständigung, im
Miteinander. Sprache ist das übergreifende Medium der Hermeneutik, unsere
gemeinsame Welterschließung.
„Das Problem des Verstehens hat in den letzten Jahren eine
große Aktualität gewonnen gewiss nicht außer Zusammenhang mit der
weltpolitischen und gesellschaftspolitischen Zuspitzung, der unsere Gegenwart
durchziehenden Spannungen. Denn das begegnet uns allerorten, dass Versuche der
Verständigung zwischen den Blöcken, den Zonen, den Nationen, den Generationen,
daran scheitern, dass sich keine gemeinsame Sprache finden lässt, sondern die
gebrauchten Leitbegriffe wie Reizworte die Gegensätze eher aufreißen und
vertiefen und die Spannungen vermehren, zu deren Behebung man eigentlich
zusammengekommen ist.“
Nicht zuletzt ist Gadamers Philosophie des Verstehens auch
eine Sache der Lebensklugheit. Die grundsätzliche Offenheit für das Gespräch
und die Fähigkeit, andere Meinungen als erkenntnisfördernd zu sehen, hat zu
einem anregenden Austausch Gadamers auch mit seinen Kritikern geführt. Gadamer
hat außerdem viele Schüler gefördert, die nicht auf seiner philosophischen
Linie lagen. Das hat zur Ausbreitung seiner Hermeneutik nicht unwesentlich
beigetragen.
Gespräch und Lebensklugheit |
Gleich nach dem zweiten Weltkrieg, als Rektor der
Universität Leipzig, war Gadamer ein gesuchter Gesprächspartner zuerst der
amerikanischen, dann der russischen Besatzungsmacht. Das lag zum Teil daran,
dass er nie ein Mitglied der NSDAP war und politisch akzeptiert wurde. Durch
sein diplomatisches Geschick erreichte er, dass der Universitätsbetrieb in
Leipzig bestmöglich weitergehen konnte. Immer wieder kennzeichnend für Gadamer
ist auch das Bestreben, Gelehrte aus der Emigration in das deutsche
Universitätsleben zurückzuholen, so zum Beispiel Theodor W. Adorno nach
Frankfurt.
Ab 1949 lehrte Gadamer am Philosophischen Seminar der
Universität Heidelberg. 1969 wurde er emeritiert. Bis Mitte der 80er Jahre gab
Gadamer noch Vorlesungen, Vorträge noch länger. Auch heute ist Gadamer im Universitätsleben noch präsent. In
den Geisteswissenschaftenspielt Gadamer nach wie vor eine große Rolle. Nur eine
eigene „Gadamer-Schule“ gibt es weder in Heidelberg noch sonst wo, vielleicht
weil Gadamer immer wollte, dass die Nachfolger etwas Eigenes machen.
„Hermeneutik gehört ins Gespräch“, sagt Gadamer. Oft hätten
nach den Lehrveranstaltungen, in einem kleinen Kreis bei einem Glase Wein, die
besten philosophischen Diskussionen stattgefunden.
„Bildung heißt, sich die Dinge vom Standpunkt eines Anderen
ansehen können.“
Zitate aus: Günter Bachmann:: Hans-Georg Gadamer – Philosophie des Verstehens, , SRW2 Wissen, Sendung vom 10. März 2017