Donnerstag, 28. Dezember 2023

Marlon Grohn und das freie Denken

"Glückliche Zeiten. Man verstand noch zu lesen. Man konnte noch laut nach-denken. All das scheint endgültig vorbei zu sein." 

Dieser Satz stammt aus dem Buch „Humanismus und Terror“ des französischen Denkers Maurice Merleau-Ponty aus dem Jahr 1947. Die glücklichen Zeiten, von denen Merleau-Ponty sprach, beziehen sich gleichwohl auf die 1930er Jahre!

Maurice Merleau-Ponty (1908 - 1961)

Dass ein Philosoph in der Mitte des 20. Jahrhunderts davon ausging, es hätte in den 30er Jahren bessere Bedingungen fürs laute Nachdenken bestanden, mag heute verwundern. Das Buch, in dem Merleau-Ponty die Sätze schrieb, und in dem er nebenbei einige alberne linke Meinungen zum Sowjet-Sozialismus korrigierte, hieß "Humanismus und Terror" und muss heute selbst als Paradebeispiel dieses lauten Nachdenkens gelten. Diese These zumindest vertritt Marlon Grohn in seinem Artikel “`Vom Denken zum Schweigen: Wie die Cancel Culture die Philosophie tötet!´” 

Was das freie Denken angeht, so dürfte sich die Situation mittlerweile deutlich verschlechtert haben. Nicht zuletzt, weil die Kernfrage des Buches von Merleau-Ponty, “nämlich die des Verhältnisses von humanistischer Verbesserung des Staatswesens und der dafür eventuell erforderlichen Gewalt, (…) schließlich inzwischen von allen politischen Parteien und Richtungen lieber unreflektiert gelassen und auf ein Übermorgen verschoben [wird]."

Der Philosoph Jacob Taubes schlug in die gleiche Kerbe, als er 1967 in einer Rede vor deutschen Studenten erklärte, “`Mündig sein´ heiße, dass `jeder von uns den Mund aufmachen darf, ohne dass ihm gedroht wird´.” 200 Jahre nach der Aufklärung ließen sich überall Tendenzen zur Entmündigung einer mündigen Gesellschaft ablesen, auch wenn die mündig gewordene Jugend sich in “verzweifelten, manchmal grotesken Formen” dagegen wehren würde.

Und heute? Grohn behauptet, dass das “Nachdenken (…) zu einem bloß stillen geworden [ist], das höchstens noch in den Nischen geschlossener Chat-Gruppen oder Privatgesprächen vor sich hindümpelt. Man könnte sich damit zufriedengeben und die Philosophie eben als abgeschafft, das Ende der Geschichte der Vernunft als eingeläutet betrachten und Ruhe geben.” Nur: Kann das jemand wirklich wollen?

 

Interessant sei es in jedem Fall, dass sich zwei Philosophen in den Jahren 1947 und 1967 ganz ähnliche Gedanken äußern wie heutzutage Akademiker, die die Cancel Culture vehement kritisieren.

 

Für Grohn steht fest, dass in unserer Zeit das Nachdenken folgerichtig längst als Unsitte in Verruf geraten sei: “Wer laut nachdenken will, begibt sich damit auf eine Ebene mit Drogendealern, Bankräubern und Bankmanagern – und zwar über alle politischen Sphären und Parteien hinweg.

 

Denn lautes Nachdenken, eben weil es vernünftig und logisch ist, widerspricht dem Prinzip demokratisch ausgewogener Politik und zieht folgerichtig deren Zorn auf sich: `Die Logik lässt keinen Kompromiss zu. Das Wesen der Politik ist Kompromiss.´ (John Locke).”

 

Auch wenn lautes Nachdenken in den meisten gesellschaftlichen Bereichen noch nie sonderlich beliebt war, “ist doch beachtlich, dass es heute gerade in den intellektuellen Berufen und den Geisteswissenschaften, wo das Nachdenken doch Selbstverständlichkeit sein sollte, nur noch das Relikt einer vergangenen Zeit darstellt.

 

Wobei sich hier die grundsätzliche Frage stellt, ob das laute Nachdenken deshalb verschwunden ist, weil sich das Denken generell nicht mehr allzu großer Beliebtheit erfreut. Die Intellektuellen kämpfen sich heute philologisch betrachtend durch die Schriften der Denker anderer Zeiten, während sie selbst all ihre Kraft dafür aufbringen, bloß nichts Ähnliches mehr zustande zu bringen.”

 

Die bittere Wahrheit Grohn zufolge ist, dass das “Denken nicht nur in politisch interessierten Kreisen, sondern selbst von Leuten, denen eigentlich an einer Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und im Zuge dessen an Aufklärung qua lautem Nachdenken gelegen sein müsste, begafft [wird] wie ein Verkehrsunfall, dessen protokollierte Daten dann in den Hochschulen forensisch untersucht werden.”

 

Auf diese Weise aber würde “das Denken, der Diskurs, die Öffentlichkeit zunehmend notwendig auf ein Minimum von Floskeln und Nettigkeiten reduziert werden, damit sich bloß nichts ändert.”

 

Gegen die Kunst des sich entfaltenden Gedanken, gegen das laute Nachdenken manifestiert sich eine mediale Öffentlichkeit als globales Spektakel, “der das Verweilen bei Schein-Ereignissen wichtiger ist als begriffliche Einsicht in die Verhältnisse (…) In solchen Gesellschaften wird tatsächliche denkerische wie politische Aktivität durch Aktivismus ersetzt, indem mittels (…) fragmen-tarischem Gebrauch das Denken aus der großen Öffentlichkeit verschwindet.”

 

Leben im Empörium: Wenn das Verweilen bei Schein-Ereignissen wichtiger ist als begriffliche Einsicht in die Verhältnisse

Wenn man nur noch redet, "um sich gegenseitig Ohnmacht, Schmiegsamkeit und Harmlosigkeit zu bescheinigen ("Ich mein ja bloß, bin gleich wieder still"), wird das Schreiben schnell zum Akt bewusster Abwendung von der mit diesen Gräueln zugerichteten Öffentlichkeit.”

 

Grohn fragt, woher die nicht nur die Scheu vor dem lauten Nachdenken kommt, sondern auch die Angst der Verantwortungsträger, den Diskurs zu öffnen? “Es ist doch klar, dass jemand, der denken kann und denken will, dies gerne laut tun würde (…) Wer bloß `innerlich´ denkt, kreist nur im eigenen Hirn, denkt nicht in der Wirklichkeit.”

 

Nur “im Austausch mit anderen Denkenden, kann aus einem ungenauen Gedanken oder einer bloßen Ahnung ein fundierter Standpunkt werden (…) kann eine unüberlegte Äußerung korrigiert und zum vernünftigen Gedanken werden. Gerade aber das wird verhindert, wenn das laute Nachdenken eingestellt wird.”

 

Grohn zitiert den Schriftsteller und Journalisten Dietmar Dath, der sagt: "Schuld ist niemand an irgendetwas; jeder ist sich selbst das Nichts. Lebt und schreibt man in einer Gesellschaft, die sich so sieht, gibt es eigentlich kaum etwas zu sagen. Würde man aber in einer Gesellschaft leben, die nicht naturwüchsig, blind für sich selbst bleiben will, sondern geplant sein soll, ausgefochten, in der alles alle angeht, dann käme es sehr wohl darauf an, was die Leute denken, reden und schreiben."

 

Der erste Schritt hin zu einer solchen Gesellschaft wäre nach Grohn daher das “Erlernen des lauten Nachdenkens als einer selbstverständlichen Gewohnheit.”

 

Sapere aude!, oder: Das laute Nachdenken lernen!


Zitate aus: Marlon Grohn: "Vom Denken zum Schweigen: Wie die Cancel Culture die Philosophie tötet", in: Telepolis vom 26. Dezember 2023, im Netz unter: https://www.telepolis.de/features/Vom-Denken-zum-Schweigen-Wie-die-Cancel-Culture-die-Philosophie-toetet-9582799.html?view=print – zuletzt aufgerufen am 28.12.2023.

 

 

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Hedwig Richter und die Demokratie

 

 

Dass alle Menschen – wirklich alle! – gleich sein sollen, galt die längste Zeit in der Menschheitsgeschichte als vollkommen absurd. In ihrem Buch „Demokratie – Eine deutsche Affäre“ erzählt die Historikerin Hedwig Richter, wie diese revolutionäre Idee aufkam, allmählich Wurzeln schlug, auch in Deutschland, und gerade hier so radikal verworfen und so selbstverständlich wieder zur Norm wurde wie nirgends sonst. In der Einleitung zu ihrem Buch beschreibt sie den Begriff und das Phänomen „Demokratie“ mit Hilfe von vier Thesen.

 

Demokratiegeschichte ist häufig ein Projekt von Eliten (These 1)

 

Demokratie lässt sich nicht notwendig beschreiben als ein Anliegen des „Volkes“, als eine „von unten“ erkämpfte Herrschaftsform. „Demokratie-geschichte ist nicht immer, aber häufig ein Projekt von Eliten. (…) In ihrem Alltag um 1800 hatten die Menschen der unteren Schichten meistens wenig Muße und kaum Ressourcen, um über Gleichheit und Mitbestimmung nachzudenken. Das änderte sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts.“ Richter warnt deshalb davor, Demokratiegeschichte einseitig als Revolutionsgeschichte zu interpretieren und den Reformbewegungen zu wenig Beachtung zu schenken, nicht zuletzt, weil gewaltförmige Wandlungsprozesse eher zu Diktaturen führen und friedfertige Reformen mehr Potential zur Demokratisierung aufweisen. Demokratie-geschichte ist daher wesentlich „eine Geschichte der Reformen, die oft von diesen Eliten angestoßen werden.“

 

Demokratiegeschichte ist immer auch die Geschichte ihrer Einschränkung (These 2)

 

Auch wenn es vorrangig die Eliten waren, die sich für Demokratisierung eingesetzt haben, so waren es nicht nur ethische Beweggründe oder gar ein aufklärerischer Impuls, der sie angetrieben hat, sondern durchaus auch ein egoistisches Interesse. „Demokratie kann beispielsweise der Disziplinierung der Bürger dienen. Von Anfang an achteten Eliten zudem darauf, dass es nicht zu einer `Tyrannei der Mehrheit´ kam.“ In der liberalen Demokratietradition steht daher der Gedanke im Mittelpunkt, dass möglichst eine stabile „Balance der Mächte erreicht wird, ein System von checks and balances, in dem die Freiheit des Individuums geschützt und sein Streben nach Glück möglich ist.“


Im Sommer 1787 handeln Vertreter der Einzelstaaten in Philadelphia - unter dem Vorsitz des späteren Präsidenten George Washington - eine revolutionäre Verfassung aus. Sie beginnt mit den Worten "Wir, das Volk ...!"
 

Demokratiegeschichte ist wesentlich eine Geschichte des Körpers, seiner Misshandlung, seiner Pflege, seines Darbens – und seiner Würde (These 3)

 

Gleichheit und Freiheit lassen sich nur so lange verkündigen, solange Menschen – und damit eben auch und vor allem deren Körper – nicht misshandelt werden. Demokratisierung wird damit zu einer „politische Geschichte des Körpers, die analysiert, wie Erfahrungen mit dem Körper und Vorstellungen vom Leib Macht und Herrschaft durchdringen und verändern, wie sich Demokratisierung durch Körper und an Körpern zum Ausdruck bringt (…) Menschen, die nicht über ihren eigenen Körper herrschten, etwa Sklaven oder Frauen, wurden von Gleichheitsvorstellungen in der Regel ganz selbstverständlich ausgeschlossen.“

 

Richter weist unmissverständlich darauf hin: „Für die „Internalisierung einer Vorstellung wie Gleichheit reicht eine abstrakte Idee nicht aus; damit die universale Gleichheit `self-evident´ wurde, wie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung festgehalten, musste sie inkorporiert und gefühlt werden.“ Demokratiegeschichte wird damit unweigerlich auch zu einer Geschichte der Gefühle und der Vorstellungswelten

 

Natürlich behauptet Richter damit nicht, dass die Geschichte der Demokratie selbstverständlich auch Ideengeschichte und Politik- und Parteiengeschichte sei, doch öffne der „Fokus auf die Gefühlswelten und auf den Körper“ einen neuen Blick für die Komplexität der Demokratiegeschichte: „Diese Perspektive schließt ökonomische und demographische Entwicklungen mit ein, die große Masse der Menschen wird sichtbarer, die hungernden Bauern etwa oder die schuftenden Frauen.“

 

Denn entscheidend für die Entwicklung von Demokratie war immer auch deren „Fähigkeit zur Skandalisierung: dass Armut nicht mehr als gottgegeben und unvermeidbar galt, dass Foltern und Quälen Gefühle der Abscheu hervorriefen, dass Ungleichheit als Unrecht empfunden wurde.“

 

Demokratiegeschichte ist eine internationale Geschichte (These 4)

 

Für Richter ist offensichtlich, dass die „nationalen Erzählungen“ nicht aus-reichen, um die Entwicklung der Demokratie zu beschreiben. Vielmehr entstand die moderne Demokratie im internationalen, genauer, im nordatlantischen Raum.

 

Dabei ist die Beziehung zwischen Demokratie, Nation und Internationalität durchaus spannungsreich: „Der Nationalgedanke war für die Popularisierung der Gleichheitsidee ausschlaggebend, und seit Demokratie zum globalen Heilsversprechen geworden ist, bildet sie den Kern nationaler Identitäten.“

 

So sei es nicht verwunderlich, dass die meisten westlichen Staaten ihre Geschichte als nationale Demokratiewerdung erzählen, in enger Verbindung mit nationalen Schlüsselereignissen und Mythen.

 

Dies werde in besonderer Weise am Beispiel Deutschlands mehr als deutlich: „Die Transnationalität von Demokratie und die selbstverständliche Einbettung Deutschlands in diese Geschichte wird an dem Diktum deutlich, das der amerikanische Präsident Abraham Lincoln 1863 aufgegriffen hat und das bis heute als prägnante Formel von Demokratie gilt: `government of the people, by the people, and for the people´. Bereits ein halbes Jahrhundert vorher hatte Ernst Moritz Arndt, der wie viele Intellektuelle am Beginn des 19. Jahrhunderts die Zukunft in der `Demokratie´ sah, 1814 erklärt: `Die besten Kaiser und Könige und alle edlen Menschen haben ja auch immer nur bekannt, daß sie für das Volk da sind und für das Volk und mit dem Volke regieren.´

 

Die Formel selbst hat weitere Vorläufer, darunter die 1791 von Claude Fauchet formulierte Sentenz: „Tout pour le peuple, tout par le peuple, tout au peuple“ (dt. „Alles für das Volk, alles vom Volk, alles für das Volk“), oder auch den Satz „Rex per populum et propter populum existat, nec absque Populo consistere possit“ (dt. Der König existiert durch das Volk und für das Wohl des Volkes und kann nicht ohne das Volk existieren“) aus dem Traktat „Strafgericht wider die Tyrannen“ (lat. Vindicae contra tyrannos), erschienen 1575 unter dem Pseudonym Stephanus Iunius Brutus Celta.

 

Ausgabe des Vindicae von 1579
 

Dennoch: Intellektuelle und Wissenschaftler haben immer wieder auf den utopischen und fiktiven Charakter von Demokratie hingewiesen. Gerade weil Demokratie auch Wirklichkeiten erzeugt und (nationale) Identitäten stiftet, deshalb sei jede vermeintlich historische Darstellung letztlich nur Erzählungen, „für die wir einen Plot wählen und in denen wir Bösewichte und Heldinnen auftreten lassen; wir setzen einen Anfang und schreiben auf ein Ende hin – ein geglücktes oder ein böses, in diesem Fall ein offenes.“

 

So sei die Geschichte der Demokratie „eine Modernisierungserzählung, deren Stoff Fiktionen, Wahrheiten und auch Zufälle sind. Sie ist eine leidenschaftliche, optimistische Chronologie von Fehlern und Lernprozessen, in deren Herz der Zivilisationsbruch des Holocaust steckt. Es ist keine geradlinige Geschichte, deren Ende feststeht. Ganz im Gegenteil. Die Affäre geht weiter. Die nächste Staffel folgt.“

 

Zitate aus: Hedwig Richter: Demokratie: Eine deutsche Affäre, München 2023 (C.H. Beck)

Sonntag, 29. Oktober 2023

Michael Sandel und die moralischen Grenzen des Marktes

Für Michael Sandel steht fest: „Wir leben heute in einer Zeit, in der fast alles ge- und verkauft werden kann. Im Lauf der letzten drei Jahrzehnte haben es die Märkte – und die damit verbundenen Wertvorstellungen – geschafft, unser Leben wie nie zuvor zu beherrschen. Nicht, dass wir uns bewusst dafür entschieden hätten. Es scheint einfach über uns gekommen zu sein.

Das Problem für Sandel liegt vor allem darin, dass sich die allumfassende Kommerzialisierung des Lebens mit einer zunehmenden Ungleichheit verbindet, so dass z.B. Arme und Reiche zunehmend getrennte Leben führen. „Wir arbeiten und kaufen und spielen an verschiedenen Orten. Unsere Kinder besuchen verschiedene Schulen, unsere Lebenswelten schotten sich voneinander ab. Das dient weder der Demokratie noch unserer Lebensqualität.“

Natürlich erfordere Demokratie keine vollkommene Gleichheit, aber sie erfordere, dass Bürger an einer gemeinsamen Lebenswelt teilhaben. „Es kommt darauf an, dass Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und Sozialstatus miteinander in Kontakt kommen und im Alltag auch einmal zusammenstoßen. Denn nur so lernen wir, wie wir unsere Unterschiede aushandeln und wie wir gemeinsam dem Gemeinwohl dienen können.“

Besonders krass haben sich Kommerzialisierung und soziale Ungleichheit im Bereich des Massensports entwickelt, u.a. durch die Verwandlung des Sportes in ein Handelsgut, das immer stärker in die Abhängigkeit von Sponsoring und Werbung gerät. 

Die Allianzarena in München

Es geht schon längst nicht mehr allein um den Verkauf von Sportartikeln oder Autogrammen, auch die Namen von Stadien sind käuflich zu erwerben. Obwohl manche Stadien noch ihre historischen Namen tragen, verkaufen die meisten Vereine der ersten Liga die Namensrechte der Stadien an den Meistbietenden. Banken, Energieunternehmen, Fluglinien, Technologieunternehmen und andere Firmen zahlen bereitwillig eine Menge Geld für die Aufmerksamkeit, die sie bekommen, wenn ihr Name die Stadien und Arenen großer Teams schmückt.

Dabei sind vor allem Massensportarten wie Fussball und Basketball wie nur wenige andere Institutionen eine Quelle sozialen Zusammenhalts und kollektiven Stolzes bzw. kollektiver Identität. Sportarenen sind „die Kathedralen unserer säkularen Religion dar – öffentliche Räume, in denen Menschen unterschiedlichster Herkunft in Ritualen von Niederlage und Hoffnung, Profanem und Gebet zusammenkommen.“
 
Bedauerlicherweise hat das im Sport umlaufende Geld den Gemeinschaftsgeist in den letzten Jahrzehnten stark verdrängt. Denn die Bedeutung eines öffentlichen Ortes wird für seine Bewohner verändert, wenn er den Namen wechselt.
 
Natürlich sind Stadien in erster Linie Orte, an denen sich Menschen versammeln, um sich Sportveranstaltungen anzusehen. Wenn Fans ins Stadion gehen, machen sie das nicht hauptsächlich wegen eines Gemeinschafts-erlebnisses. Sie wollen bestimmte Fussballspieler Tore schießen sehen oder erleben, wie ein Basketball-Star in den letzten Sekunden eines Spiels den entscheidenden Korb wirft.  

Das Volksparkstadion in Hamburg ist das erste Bundesligastadion, das  - 14 Jahre nach der ersten Umbenennung - 2015 seinen ursprünglichen Namen zurückerhalten hat.

Der öffentliche Rahmen, in dem das alles stattfindet, vermittelt eine gemeinschaftliche Erfahrung: „Zumindest für ein paar Stunden sind wir zusammen am selben Ort und teilen dasselbe Erlebnis. Wenn Stadien allmählich diesen Charakter verlieren und eher zu Reklametafeln werden, verschwindet damit auch ein öffentlicher Raum – und mit ihm die sozialen Bindungen und gemeinschaftlichen Gefühle, die sich dort artikulieren.
 
Noch stärker zersetzt werden die vom Sport vermittelten Gemeinschafts-erfahrungen durch die Ausbreitung der Luxuslogen. Noch in den 60er Jahren betrug der Preisunterschied zwischen den teuersten und den billigsten Plätzen in den Fußballstadien umgerechnet etwa 5 Euro. Tatsächlich waren Stadien fast während des gesamten 20. Jahrhunderts Orte, wo Führungskräfte Seite an Seite mit einfachen Arbeitern saßen, wo alle in den gleichen Schlangen anstanden, um Bratwurst oder Bier zu kaufen, und wo Reiche wie Arme gleichermaßen nass wurden, wenn es regnete.
 
Doch in den letzten paar Jahrzehnten hat sich das geändert. Das Aufkommen von VIP-Logen hoch über dem Spielfeld hat eine Trennlinie zwischen den Begüterten und Privilegierten und dem gemeinen Volk auf den Rängen darunter eingezogen.
 
Zwar tauchten die ersten Luxuslogen in den USA schon 1965 im futuristischen Houston Astrodome auf, doch spätestens in den 80er Jahren bezahlten immer mehr Firmen Hunderttausende Dollar, um Führungskräfte und Kunden im piekfeinen Rahmen über den Köpfen der Massen zu unterhalten.
 
Für die Teams waren die Einnahmen aus den Luxussuiten natürlich ein finanzieller Segen, allerdings machten die Logen einen Aspekt des Sports, die Aufhebung von Klassenunterschieden, völlig zunichte: „VIP-Logen mit ihrer kuscheligen Frivolität stehen für eine zentrale Fehlentwicklung im gesellschaftlichen Leben (…): den fast schon verzweifelten Eifer, mit dem die Elite bestrebt ist, sich von der übrigen Masse abzusetzen … der Profisport, einst ein Gegengift gegen Statusängste, ist schwer von dieser Krankheit befallen.“

Das neue Stadion des spanischen Fussball-Clubs Real Madrid - benannt nach dem Spieler, Trainer und langjährigem Präsidenten "Santiago Bernabeu"
Durch die Kommerzialisierung wird die Magie der populären Sportarten zerstört, die gerade aus ihrer wesentlich demokratischen Grundstrukturbesteht: „Die für eine große öffentliche Zusammenkunft gebaute Arena, eine Art Dorfanger des 20. Jahrhunderts, war ein Ort, an dem alle zusammenkamen.“ Die neuen Luxuslogen haben jedoch „die feine Gesellschaft so sehr vom gemeinen Volk isoliert, dass man wohl mit Recht sagen darf, dass die Sitzordnung der (…) Sportarena die soziale Schichtung reproduziert.“ Früher dagegen seien die Stadien Orte gewesen, „an dem Fließbandarbeiter und Millionäre gemeinsam für ihr Team jubeln können.“
 
Natürlich geht es für Sandel nicht nur um Werbung im Sport und anderen Bereichen unseres Lebens. Am Ende geht es um die die Frage, wie wir zusammen leben wollen. „Wünschen wir uns eine Gesellschaft, in der alles käuflich ist? Oder gibt es gewisse moralische und staatsbürgerliche Werte, die von den Märkten nicht gewürdigt werden – und die man für Geld nicht kaufen kann?“


Zitate aus: Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes, Berlin 2012 (Ullstein)

Donnerstag, 12. Januar 2023

Michael Esfeld, die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde - Teil 2

 

(Fortsetzung vom 05.01.2023)

Nach Ansicht von Michael Esfeld, Professor für Philosophie an der Universität Lausanne, stehen wir wie schon nach dem zweiten Weltkrieg auch heute wieder vor einer Weichenstellung zwischen Freiheit und Totalitarismus – zwischen einer offenen Gesellschaft, die jeden Menschen bedingungslos als Person anerkennt, und einer geschlossenen Gesellschaft, die die Gewährung von Grundrechten an bestimmte Bedingungen knüpft.

„Die neuen Feinde der offenen Gesellschaft kommen wieder aus dem Inneren der Gesellschaft mit Wissensansprüchen, die zugleich kognitiver und moralischer Art sind und die wiederum eine technokratische Gestaltung der Gesellschaft zur Folge haben, die sich über Menschenwürde und Grundrechte hinwegsetzt. Allerdings operieren die neuen Feinde der offenen Gesellschaft nicht mit dem Trugbild eines absolut Guten, sondern mit gezielt geschürter Angst vor Bedrohungen, die angeblich unsere Existenz gefährden.“

Diese Bedrohungen, sei die Ausbreitung des Coronavirus oder der Klimawandel, werden nun zum Anlass genommen, bestimmte Werte absolut zu setzen, wie Gesundheitsschutz oder Klimaschutz. Eine Allianz aus Experten, Politikern und manchen Wirtschaftsführern nimmt für sich in Anspruch, das richtige Wissen zu haben, wie man das gesellschaftliche bis hin zum familiären und individuellen Leben steuern muss, um diese Werte zu sichern. 

Die neuen Feinde der offenen Gesellschaft: "Wiederum geht es um ein höheres gesellschaftliches Gut – Gesundheitsschutz, Lebensbedingungen zukünftiger Generationen –, hinter dem individuelle Menschenwürde und Grundrechte zurückzustehen haben."


Der eingesetzte Mechanismus besteht darin, diese Herausforderungen so ins Rampenlicht zu stellen, dass sie als existenzielle Krisen erscheinen – ein Killervirus, das umgeht, eine Klimakrise, welche die Existenzgrundlagen unserer Kinder bedroht. Die Angst, die man auf diese Weise schürt, ermöglicht es dann, Akzeptanz dafür zu erhalten, die Grundwerte unseres Zusammenlebens beiseitezuschaffen – genau wie in den von Popper kritisierten Totalitarismen, in welchen das angeblich Gute sehr viele Menschen zu de facto verbrecherischen Handlungen motivierte.“

Das Problem ist, dass es ja nicht in erster Linie „böse“ Menschen sind, die das Böse tun, sondern häufig solche, die sich selbst als „gute“ Menschen bezeichnen und die aus Sorge um einen ihrer Überzeugung nach bedrohten und existenziell wichtigen Wert Dinge tun, die letztlich verheerende Folgen haben. 

„Dieser Mechanismus trifft die offene Gesellschaft ins Mark, weil man ein bekanntes Problem ausspielt, nämlich das der negativen Externalitäten. Damit ist Folgendes gemeint: Die Freiheit des einen endet dort, wo sie die Freiheit anderer bedroht. Handlungen des einen – einschließlich der Verträge, die er eingeht – haben Auswirkungen auf Dritte, die außerhalb dieser Beziehungen stehen, deren Freiheit zur Gestaltung ihres Lebens aber durch diese Handlungen beeinträchtigt werden kann. Die Grenze, jenseits welcher die freie Lebensgestaltung des einen der freien Lebensgestaltung anderer einen Schaden zufügt, ist nicht von vornherein festgelegt. Man kann sie eher weit oder eher eng fassen. 

Der genannte Mechanismus besteht nun darin, mittels Erzeugens von Angst und unter dem Deckmantel von Solidarität diese Grenze so eng zu fassen, dass de facto kein Spielraum mehr für die freie Lebensgestaltung bleibt: Jede freie Lebensgestaltung des einen kann so ausgelegt werden, dass mit ihr negative Externalitäten einhergehen, die potenziell eine Bedrohung für die freie Lebensgestaltung anderer darstellen.“

So schüren die neuen Feinde der offenen Gesellschaft die Angst vor der Ausbreitung einer angeblichen Jahrhundertseuche – aber natürlich kann jede Form physischen Kontaktes zur Ausbreitung des Coronavirus (ebenso wie anderer Viren und Bakterien) beitragen. Sie schüren die Angst vor einer drohenden Klimakatastrophe – aber natürlich kann jede Handlung Auswirkungen auf die nicht-menschliche Umwelt haben und dadurch zur Veränderung des Klimas beitragen. Folglich soll und muss jeder nachweisen, dass er mit seinem Handeln nicht unabsichtlich zur Ausbreitung eines Virus oder zur Schädigung des Klimas beiträgt usw. – die Liste könnte man beliebig erweitern. 

„So stellt man alle Menschen unter Generalverdacht, letztlich mit allem, was sie tun, andere zu schädigen. Man kehrt die Beweislast um: Es muss nicht der konkrete Nach- weis geführt werden, dass jemand mit bestimmten seiner Handlungen andere schädigt. Vielmehr muss jeder nachweisen, dass er andere nicht schädigt, einschließlich der Mitglieder zukünftiger Generationen. Dementsprechend können sich die Menschen von diesem Generalverdacht nur dadurch befreien, dass sie ein Zertifikat erwerben, durch das sie sich reinwaschen – wie einen Impfpass, einen Nachhaltigkeitspass oder generell einen sozialen Pass. 

Das ist eine Art moderner Ablasshandel. Damit ist Freiheit abgeschafft und ein neuer Totalitarismus installiert; denn die Ausübung von Freiheit und die Gewährleistung von Grundrechten hängt dann von einer Genehmigung ab, die eine Elite von Experten erteilt – oder eben verweigert.

Die Weichenstellung, vor der wir stehen, ist somit diese: eine offene Gesellschaft, die jeden bedingungslos als Person mit einer unveräußerlichen Würde und Grundrechten anerkennt; oder eine geschlossene Gesellschaft, „zu deren sozialem Leben man Zutritt erhält durch ein Zertifikat, dessen Bedingungen bestimmte Experten definieren, wie einst die Philosophen-Könige Platons. Genau wie letztere, deren Wissensansprüche von Popper entlarvt wurden, haben auch ihre heutigen Nachfahren kein Wissen, das sie in die Position versetzen würde, solche Bedingungen ohne Willkür festzusetzen.“

Für viele Wissenschaftler und Intellektuelle ist es offenbar schwer einzugestehen, kein normatives Wissen zu haben, das die Steuerung der Gesellschaft ermöglicht. Sie erliegen dann der totalitären Versuchung, die bereits Popper kritisierte.

„Für viele Wissenschaftler und Intellektuelle ist es offenbar schwer einzugestehen, kein normatives Wissen zu haben, das die Steuerung der Gesellschaft ermöglicht. Sie erliegen der Versuchung, die bereits Popper bei den von ihm kritisierten Intellektuellen und Wissenschaftlern ausmachte. Für Politiker ist es wenig attraktiv, am besten nichts zu tun und das Leben der Menschen seinen Gang gehen zu lassen. Da kommt die Gelegenheit recht, altbekannte, aber in neuer Form auftretende Herausforderungen zu existenziellen Krisen hochzureden und Angst zu schüren mit pseudo-wissenschaftlichen Modellrechnungen, die in Katastrophen-Prognosen münden. Dann können Wissenschaftler sich mit politischen Forderungen ins Rampenlicht stellen, denen durch den angeblichen Notstand keine rechtsstaatlichen Grenzen gesetzt sind. Politiker können durch wissenschaftliche Legitimation eine Macht erhalten, in das Leben der Menschen einzugreifen, die sie auf demokratischem, rechtsstaatlichem Wege nie erlangen könnten. Bereitwillig hinzu gesellen sich diejenigen wirtschaftlichen Akteure, die von dieser Politik profitieren und die Risiken ihrer Unternehmen auf den Steuerzahler abwälzen können. (…) 

Aber gerade die Wissenschaftstheorie Poppers lehrt uns, dass kein Individuum oder Gruppe von Individuen die Entwicklung der Gesellschaft mittels eines vorbereiteten Planes (…) bestimmen kann“: „Sogar mit der besten Absicht, den Himmel auf der Erde einzurichten, vermag er diese Welt nur in eine Hölle zu verwandeln – eine jener Höllen, die Menschen für ihre Mitmenschen bereiten“ (Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde).


Zitate aus: Michael Esfeld: Die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde, LI-Paper, Liberales Institut Zürich, April 2021


Donnerstag, 5. Januar 2023

Michael Esfeld, die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde - Teil 1


"Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" ist der Titel von Karl Poppers Hauptwerk in politischer Philosophie, geschrieben im Exil in Neuseeland während des zweiten Weltkriegs und 1945 veröffentlicht.

Dieses Buch schuf eine der intellektuellen Grundlagen für die Bildung einer west-lichen Staatengemeinschaft, die auf Rechtsstaat und Menschenrechten basierend sich dem Sowjetimperium entgegenstellt. „Dadurch wurde der eiserne Vor- hang nicht nur zu einer physischen, sondern vor allem auch zu einer weltanschaulichen Grenze – die Behauptung von Freiheit gegen den Machtanspruch des Totalitarismus.“

Karl Raimund Popper (1902 - 1994)

Diese Weichenstellung setzte den Rahmen für nahezu alle wesentlichen gesell-schaftlichen Gruppen und politischen Parteien im Westen: „Was auch immer für verschiedene Interessen und unterschiedliche parteipolitische Programme bestanden, der auf Grundrechten basierende freiheitliche Rechtsstaat im Gegensatz zum Totalitarismus des Sowjetimperiums stand nicht zur Disposition.“ 

Diese Weichenstellung prägte Politik und Gesellschaft über vier Jahrzehnte. 1989, nach dem Fall der Berliner Mauer, schien keine neue Weichenstellung erforderlich: Freiheit und Rechtsstaat hatten sich durchgesetzt. Francis Fukuyama sprach sogar vom Ende der Geschichte. 

Das war ein Irrtum, so Michael Esfeld, Professor für Philosophie an der Universität Lausanne. Die Weichenstellung erfolgt jetzt, im Jahre 2021. „Auch heute geht es um eine Weichenstellung zwischen Freiheit und Totalitarismus, die wiederum unser Leben für die kommenden Jahrzehnte prägen könnte. Und es geht wieder um einen Trend, der alle wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen und politischen Parteien umfassen könnte, was auch immer ansonsten ihre Unterschiede sein mögen. 

Nach Popper zeichnet sich die offene Gesellschaft dadurch aus, dass sie jeden Menschen als Person anerkennt: „Die Person hat eine unveräußerliche Würde. Sie hat die Freiheit, ihr Leben nach eigenem Ermessen zu gestalten, ebenso wie die Verantwortung, für ihr Handeln auf Verlangen Rechenschaft abzulegen. Freiheit ist die `condition humaine´. Wenn wir denken und handeln, sind wir frei. Das ist deshalb so, weil man für Gedanken und Handlungen – und nur für diese – Gründe und damit Rechtfertigungen verlangen kann. Für Verhalten, das eine Reaktion auf biologische Reize und Begierden ist, ergibt es hingegen keinen Sinn, Gründe zu verlangen. Frei sind wir, weil die Spezies Mensch sich in der Evolution von dem Zwang befreit hat, einer bloßen Reaktion auf Reize unterworfen zu sein.“

Aus dieser Freiheit ergeben sich Grundrechte. „Das sind Rechte der Abwehr gegen äußere Eingriffe in die eigene Urteilsbildung darüber, wie man sein Leben gestalten will. 

In der Philosophie werden diese Grundrechte so gedacht, dass sie mit der Existenz von Personen als solcher gegeben sind. Sie hängen also nicht vom positiven Recht eines Staates und kontingenten historischen Umständen ab. So zum Beispiel im Naturrecht seit der Antike; in der Aufklärung, die universelle Menschenrechte politisch einforderte, die für alle Menschen in gleicher Weise gelten und unter anderem zur Abschaffung der Sklaverei führten; bei Kant, dessen kategorischer Imperativ fordert, Menschen stets als Zweck an sich selbst und nie nur als Mittel zu einem Zweck zu behandeln; im 20. Jahrhundert unter anderem auch in der Diskursethik von Karl-Otto Apel oder der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls. Der Staat ist ein Rechtsstaat, der diese Rechte schützt; er lenkt die Gesellschaft nicht, sondern lässt den Menschen freien Lauf, ihre sozialen Beziehungen zu gestalten.

Popper zufolge sind die intellektuellen Feinde der offenen Gesellschaft diejenigen, die für sich reklamieren, das Wissen um ein gemeinschaftliches Gut zu besitzen. „Aufgrund dieses Wissens nehmen sie in Anspruch, die Gesellschaft technokratisch steuern zu können, um dieses Gut zu verwirklichen. Dieses Wissen ist sowohl faktisch-naturwissenschaftlicher als auch normativ-moralischer Art: Es ist mora-lisches Wissen um das höchste Gut zusammen mit naturwissenschaftlichem bzw. technokratischem Wissen darüber, wie man die Lebenswege der Menschen steuern muss, um dieses Gut zu erreichen. Deshalb steht dieses Wissen über der Freiheit der einzelnen Menschen, nämlich über deren eigener Urteilsbildung darüber, wie sie ihr Leben gestalten möchten.

Diese Feinde kommen aus dem Inneren unserer Gesellschaft. Popper macht das am Übergang von Sokrates zu Platon und dann von Kant zu Hegel und Marx fest. Sokrates und Kant legen den intellektuellen Grund für die offene Gesellschaft; Platon, Hegel und Marx zerstören diesen, indem sie die Suche nach dem, was jeder als ein für sich gelingendes Leben ansieht, durch den Wissensanspruch um ein absolutes Gutes ersetzen, auf das die Geschichte zusteuert. 

Dieses Wissen berechtigt sie dazu, sich über Grundrechte und Menschenwürde hinwegzusetzen; denn es geht um das Ziel des menschlichen Daseins. Deshalb handelt es sich um einen Totalitarismus: Die gesamte Gesellschaft bis hin zum Leben der Familien und der Individuen wird auf die Verwirklichung des angeblichen absoluten Guten ausgerichtet, ohne dass durch Menschenwürde und Grundrechte Schranken gesetzt sind.“

Experten nehmen für sich in Anspruch, ein moralisch-normatives Wissen
zur Steuerung der Gesellschaft zu haben - wie einst die Philosophen-Könige Platons

Diese Feinde der offenen Gesellschaft sind durch die Massenmorde entlarvt worden, die sich im 20. Jahrhundert auf dem Weg zur Verwirklichung des angeblich Guten als unumgänglich erwiesen haben. „Auf diesem Weg wurden nicht nur Menschenwürde und Grundrechte beseitigt, sondern zugleich auch ein schlechtes Resultat in Bezug auf das absolut gesetzte, angebliche Gute erzielt.“ So haben die kommunistischen Regimes auf dem Weg zu einer klassenlosen, ausbeutungsfreien Gesellschaft wesentlich schlimmere wirtschaftliche Ausbeutungsverhältnisse geschaffen als der Kapitalismus. Und im Nationalsozialismus hat der Weg zu einer reinrassigen Volksgemeinschaft eben dieses Volk an den Rand des Untergangs geführt. Diese Ideen und ihre politischen Folgen gehören in der Tat der Geschichte an. 

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Michael Esfeld: Die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde, LI-Paper, Liberales Institut Zürich, April 2021