Donnerstag, 28. April 2022

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und der "Schlussstrich" - Teil 1


Als am 1. Oktober 1949 der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zu Ende ging - 12 der 24 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt; sieben Angeklagte erhielten langjährige oder lebenslange Haftstrafen, drei Angeklagte wurden freigesprochen -, saßen immer noch Zigtausende Deutsche noch immer in alliierter Haft und warteten auf ihren Prozess. „Beseelt von der Idee, große Teile des Nazi-volkes zur Verantwortung zu ziehen, hatten die alliierten Besatzer in ihren Zonen große Internierungslager errichtet, wo sie jedermann einsperrten, der verdächtig war, ein größeres oder kleineres Rädchen im gewaltigen Unrechtsapparat der Hitlerdiktatur gewesen zu sein.“

Mit dem vom Alliierten Kontrollrat verabschiedeten „Gesetz Nummer zehn“ sollten nun überall in den Zonen Richter der Besatzungsmächte die Nürnberger Prinzipien in kleiner Münze unters deutsche Volk bringen. Ein neues Jahrhundertprojekt, aber praktisch unmöglich zu realisieren!

Nach der Rückkehr von Robert H. Jackson nach Washington übernahm nun Jacksons ehemaliger enger Mitarbeiter Telford Taylor die Leitung der US-Anklagebehörde (OCCWC - Office of the U.S. Chief of Counsel for War Crimes). Unterstützt wurde Taylor von Benjamin Ferencz, der 1945 mit einem Artillerie-bataillon der US-Armee nach Deutschland kam und sich freiwillig zur Beweis-sicherung für Kriegsverbrechen im besiegten Deutschland gemeldet hatte. 

Als Taylor in der Personalakte las, dass der Offizier Ferencz gelegentlich unge-horsam gewesen sei, habe Benjamin Ferencz geantwortet: „`Das ist nicht korrekt, ich bin nicht gelegentlich ungehorsam, sondern regelmäßig ungehorsam´, und zwar immer dann, wenn Befehle offensichtlich dämlich oder illegal seien.“ Ferencz wurde umgehend von Taylor engagiert!

Benjamin Ferencz beim Einsatzgruppenprozess

Zum Garanten der neuen Gerichtsbarkeit wurde der US-Oberkommandierende General Lucius D. Clay, der am 03. Oktober 1949 die Ordinance No. 7 unter-zeichnete, die Anordnung zur Bildung von US-Militärgerichten in Nürnberg. Mindestens fünf neue Gerichtssäle würde man brauchen.

Die Auswahl seiner Angeklagten habe Taylor später selbst mit einer Lotterie verglichen. Etwa 100 000 Verdächtige hatten die US-Besatzer in ihrer Gewalt, Taylor ließ sich aus den Gefangenenlagern Listen mit den Namen der Haupt-verdächtigen schicken. Das waren immer noch 2500 Personen. Höchstens zweihundert, so die Anweisung an die rund vierhundert Leute, die für Taylor im OCCWC zusammenarbeiten, durften übrig bleiben. 

„Die schließlich auf den Anklagebänken saßen, gehörten wahrscheinlich nicht alle zu den Schlimmsten, aber sie waren ein repräsentatives Panoptikum des Bösen. Die Verantwortungslosigkeit hatte ja alle Zweige der Gesellschaft vergiftet, bei den Schöngeistern ebenso wie bei den Wissenschaftlern, bei den Ökonomen wie bei den Juristen und Militärs: Überall hatten sie sich bereitwillig dem mörderischen Machtwillen Adolf Hitlers unterworfen.“ 

Nürnberger Ärzteprozess: Karl Brandt, Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Generalkommissar für Kampfstofffragen, Euthanasiebevollmächtigter und Begleitarzt Hitlers

Von besonderer Bedeutung war der sogenannte „Einsatzgruppenprozess“. Es war der erste Fall des siebenundzwanzigjährigen (!) Benjamin Ferencz. Ferencz hatte sich in Berlin durch Hunderte von Aktenordners gewühlt, bis er schließlich den unleugbaren Beweis für den Völkermord der SS an Millionen Juden im europäischen Osten fand: In einer Außenstelle des Auswärtigen Amtes nahe dem Tempelhofer Flughafen fanden die Mitarbeiter des OCCWC  „einen kompletten Satz geheimer Mord-berichte, die von der Gestapo-Zentrale an etwa hundert Topnazis weitergeschickt worden waren, alles Männer, die in Nürnberg behauptet hatten, von alledem nichts gewusst zu haben.“

Die Berichte beschrieben von Tag zu Tag die Aktivitäten der „Einsatzgruppen“: vier Einheiten, jede zwischen fünfhundert und achthundert Leute stark, die keine andere Aufgabe hatten, als gleich hinter der Front in den eroberten Ländern alle „Juden, Zigeuner und politisch verdächtige Elemente“ umzubringen. „Die Tagesberichte mit dem harmlosen Namen `Bericht über Ereignisse in der Sowjetunion´ listeten über einen Zeitraum von zwei Jahren, beginnend mit dem Einmarsch in die UdSSR am 22. Juni 1941, die Erfolge der `Säuberungen´ auf.“

Ferencz holt sich aus dem Sekretariat eine kleine Rechenmaschine und tippt die Zahlen ein, die er beim Durchblättern liest. „Als er bei der Summe von einer Million angekommen ist, macht er die Akten zu und bestellt für den nächsten Morgen einen Flug nach Nürnberg zu Taylor: `General, ich habe klare Beweise für einen Völkermord.´“

Beim „größten Mordprozess der Geschichte“ gegen die vierundzwanzig angeklagten SS-Offiziere hieß Punkt eins der Anklageschrift schlicht „Völkermord“. „`Die schwärzeste Seite im Buch der menschlichen Geschichte´, so donnerte der kleine Mann hinterm Anklagepult, hätten diese Männer geschrieben: `Der Tod war ihr Instrument, das Leben anderer ihr Spielzeug. Sollten diese Männer nicht bestraft werden können, dann hätte das Gesetz seine Bedeutung verloren.´“ 

Aber die Beweise waren so hieb und stichfest, dass Zeugen kaum gebraucht wurden. In zwei Tagen war Ferencz mit der Anklage durch. Vierzehn der Angeklagten, darunter Otto Ohlendorf, der Befehlshaber der `Einsatzgruppe D´, wurden zum Tode verurteilt. 

Benjamin Ferencz (*1920) -
Der letzte noch lebende Chefankläger
aller Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse (Stand 2022)

Im März 1949 hatte der US-Oberkommandierende General Clay alle Todesurteile bestätigt, auch das gegen Ohlendorf. „Doch die Vollstreckung am Landsberger Galgen wurde aufgeschoben. Das hatte zunächst eher bürokratische Gründe: Clays Amtszeit lief ab, und sein Nachfolger John McCloy, ein Jurist, ehemals Wallstreet-Anwalt, hatte sich die Entscheidung über Revisionsanträge der Todeskandidaten in Landsberg vorbehalten (…) Clay war ein Haudrauf, ein Militär eben; McCloy war ein Strippenzieher, ein Lobbyist und Spindoktor der amerikanischen Nachkriegspolitik. Er fand, dass man die Spitzenkräfte des untergegangenen Reiches nicht einfach aufhängen konnte. Vielleicht brauchte man sie ja noch.“ 

„Im Land der Täter hatte eine bleierne Zeit begonnen. Der Blitzschlag von Nürnberg, die Verheißungen eines neuen Rechts des Friedens und der Menschlichkeit hatten ganz gegensätzliche Folgen: Die Deutschen fühlten sich in ihrer Mehrheit gekränkt und missverstanden. `Die Zeit war noch nicht reif für die Erkenntnis, dass den Deutschen durch die Nürnberger Verfahren ein großer Dienst erwiesen wurde´“. 

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Thomas Darnstädt, Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945, München 2015 (piper)


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