In seinem gesamten Werk legt Karl Raimund Popper einen besonderen Schwerpunkt auf den engen Zusammenhang zwischen dem freien, kritischem Denken in einer demokratischen und „offenen“ Gesellschaft einerseits und dem dogmatischen und autoritärem Denken in totalitären und „geschlossenen“ Gesellschaften andererseits.
Poppers Ideen werden insbesondere deutlich an
der Gegenüberstellung einer utopischen Sozialtechnik platonischen Stils und der
von ihm vertretenen Sozialtechnik der Einzelprobleme.
Poppers Kritik an der utopischen Sozialtechnik gründet in der Feststellung, dass sie einen deutlichen Historizismus beinhaltet,
also die Festlegung eines bereits jetzt feststehenden und erkennbaren
endgültigen politischen Ziels der Geschichte – und zwar bevor irgendeine
praktische politische Handlung unternommen wird. Das bedeutet, dass wir jede
aktuelle soziale oder politische Situation nur vom Standpunkt eines bereits
feststehenden historischen Ideals, eines angeblich letzten Ziels der
geschichtlichen Entwicklung zu betrachten hätten“ (Vermutungen).
Popper geht selbstverständlich auch davon
aus, dass jede rationale Handlung auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet sein
müsse. So sei jede Handlung „rational in dem Maße, in dem sie ihr Ziel bewusst
und konsequent verfolgt und in dem Maße, in dem sie Mittel festlegt, um dieses
Ziel zu erreichen. Die Wahl eines Zieles ist also die erste Aufgabe, die wir
lösen müssen, wenn wir rational handeln wollen. Wir müssen und wirklichen und
endgültigen Ziele sorgfältig festsetzen und wir müssen dabei Teil- und
Zwischenziele unterscheiden, die nur als Schritte auf dem Weg zum endgültigen
Ziel zu verstehen sind“ (Offene Gesellschaft)
So ist es geradezu unausweichlich, dass die Umsetzung einer „Utopie, die eine ideale Gesellschaftsordnung zum Ziel hat und auf die alles politische Handeln ausgerichtet sein soll, wahrscheinlich zu Gewalt führen wird. Da wir nicht in der Lage sind, die letzten Ziele für unser politisches Handeln durch wissenschaftliche oder rationale Methoden zu bestimmen, kann man nicht endlos darüber argumentieren, wie die ideale Gesellschaft aussehen soll. Zum Teil werden die Argumente den Charakter von religiösen Auseinandersetzungen haben und zwischen den verschiedenen utopischen Religionen kann es kaum so etwas wie Toleranz geben“ (Vermutungen)
Reichsparteitag der NSDAP 1935
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Dresden 1953: Parade nach dem Tode Stalins |
Weil der Versuch der Verwirklichung eines idealen Staates somit eine streng zentralisierte Herrschaft verlange, führe der Weg in eine Utopie letztlich in eine Diktatur: „Die völlige Umgestaltung einer Gesellschaftsordnung ist ein riesiges Unternehmen, das vielen Menschen über eine sehr lange Zeit viele Unannehmlichkeiten bereiten wird. Der utopische Sozialtechniker wird seine Ohren daher gegen viele Klagen verschließen müssen, er muss zum Teil sogar unvernünftige Einwände oder Kritik unterdrücken“ (Offene Gesellschaft)
Die Alternative zur utopischen Sozialtechnik
ist für Popper die „von Fall zu Fall angewendete Sozialtechnik, die
Sozialtechnik der Einzelprobleme, die Technik des schrittweisen Umbaus der
Gesellschaftsordnung oder die Ad-hoc-Technik“ (ebd.)
Natürlich habe auch ein Politiker dieser
Methode eine Skizze einer zukünftigen Gesellschaftsordnung vor Augen und mag
hoffen, dass die Menschen eines Tages glücklich und vollkommen wird leben
können. Aber er wird seine Augen nicht verschließen vor den konkreten Problemen
der Menschen.
So wird sich der Politiker der Ad-hoc-Technik
nach den größten und dringlichsten Übeln in der Gesellschaft umsehen und
versuchen sie systematisch zu bekämpfen. Er wird daher lieber für die
Beseitigung von konkreten Missständen als für die Verwirklichung abstrakter
Ideale arbeiten wollen: „Kämpfe lieber für die Beseitigung des Elends mit
direkten Mitteln: für ein Mindesteinkommen für alle Menschen, gegen Epidemien
und Krankheiten, für den Bau von Krankenhäusern. Bekämpfe Unwissenheit, wie du
Verbrechen bekämpfst. Aber tu alles mit direkten Mitteln. Entscheide, was du als
schlimme Übel in der Gesellschaft, in der du lebst, ansiehst, und versuche
geduldig, die Leute zu überzeugen, dass wir diese Übel loswerden können“
(Vermutungen)
Die Pläne für den schrittweisen Umbau der
Gesellschaft sind relativ einfach zu beurteilen. Selbst wenn sie fehlschlagen
und durch neue bessere Pläne ersetzt werden müssen, dann ist der angerichtete
Schaden nicht sehr groß. Über einen Idealstaat vernünftig zu diskutieren ist
dagegen unendlich schwierig. „Das soziale Leben ist so kompliziert, dass nur
wenige Menschen – wenn überhaupt irgendjemand - fähig sind, einen Bauplan für
soziale Maßnahmen im großen Maßstab zu entwerfen und richtig einzuschätzen: ob
er praktisch ist, ob er zu einer wirklichen Verbesserung führt, welche Leiden
mit und bei seiner Verwirklichung auftreten werden“ (Offene Gesellschaft).
So verteidigt Popper die „These, dass
vermeidbares menschliches Leid das dringendste Problem einer rationalen
öffentlichen Politik ist, während die Förderung des Glücks kein Problem der
öffentlichen Politik ist, sondern zu unserer privaten Initiative gehört (…) Im
Gegenteil: Wenn unsere Ziele und Zwecke irgendetwas mit menschlichem Glück und
Elend zu tun haben, dann dürfen wir unser politisches Handeln nicht im Hinblick
auf das Glück oder Elend der Menschen in einer fernen Zukunft beurteilen,
sondern nach ihren unmittelbaren Wirkungen in der Gegenwart. Alle Generationen
sind vergänglich, und deshalb haben alle das gleiche Recht darauf, von der
Politik berücksichtigt zu werden. Unsere unmittelbaren Pflichten beziehen sich
daher auf die heutige und die kommende Generation. Vor allem sollten wir
niemals versuchen, das Elend eines Menschen, der heute lebt, gegen das Glück
eines anderen Menschen aufzurechnen, der noch nicht einmal geboren ist“
(Vermutungen)
Implizit wendet sich Popper kategorisch gegen
die fatale Verbindung zwischen Politik und Romantik,
weil letztlich „mit der utopischen Sozialtechnik also auch die Vernunft über
Bord geworfen und durch eine verzweifelte Hoffnung auf politische Wunder
ersetzt wird. Diese irrationale Einstellung, die sich an Träumen von einer
schönen Welt berauscht, nenne ich Romantizismus. Dieser mag einen himmlischen
Staat in der Vergangenheit oder in der Zukunft suchen, aber er wendet sich
immer an unsere Gefühle, niemals an unsere Vernunft. Sogar mit der besten
Absicht, den Himmel auf der Erde einzurichten, vermag er diese Welt nur in eine
Hölle zu verwandeln – eine jener Höllen, die Menschen für ihre Mitmenschen
bereiten“ (Offene
Gesellschaft).
So dürfen wir Popper zufolge unseren Träumen
von einer wunderschönen Welt nicht erlauben, dass sie uns von den wirklichen
Problemen der Menschen ablenken. „Unsere jetzigen Mitmenschen haben Anspruch
auf Hilfe. Keine Generation darf zugunsten zukünftiger Generationen geopfert
werden, zugunsten eines Glücksideals, das vielleicht nie erreicht wird“
(Vermutungen).
Popper verbindet seine Ideen mit der
Überzeugung, dass wir davon ausgehen müssen, dass wir die unvermeidbaren und ungewollten
Folgen unseres Handelns und Eingreifens nie ganz voraussehen können. „Sogar in
unserem unmittelbaren Umgang mit Menschen machen wir, beim besten Willen, immer
wieder Fehler; und wenn wir wirklich guten Willens sind, so werden wir dauernd
versuchen, die Folgen unserer Handlungen zu überwachen, um unsere Handlungen
beizeiten zu korrigieren. Das ist das Prinzip der dauernden Fehlerkorrektur:
die Methode, dauernd nach Fehlern zu suchen und frühzeitig kleine und
beginnende Fehler zu korrigieren“ (Elend des Historizismus)
Kritischer Rationalismus und Erkenntnisfortschritt
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Das alles führt direkt zu einer Begründung
der Forderung nach politischer Freiheit
und bestmöglicher Vermeidung aller politischen Machtanhäufung. Denn jede
politische Machtanhäufung führt mit Notwendigkeit dazu, dass kleine Fehler
zunächst unbemerkt bleiben. Dies geschieht selbst in einer Demokratie leider
oft genug. Aber schließlich sei Demokratie auch keine Heilslehre, sondern nur
eine der notwendigen Voraussetzungen, die es uns möglich machen, zu wissen, was
wir tun.
„Wohl sollen wir denen vergeben, die nicht
wissen, was sie tun; aber es ist unsere Pflicht, alles zu tun, um zu wissen“
(ebd.)
Zitate aus: Karl Raimund Popper: Das Elend
des Historizismus,Tübingen 2003 (Mohr Siebeck), hier: Einleitung, Xff -- Karl Raimund Popper: Die
offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 1992 (Mohr Siebeck), hier: S. 213ff -- Karl Raimund Popper: Vermutungen und
Widerlegungen: Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, Tübingen 2009
(Mohr Siebeck), hier: S. 522ff
Ein sehr schöner Artikel.
AntwortenLöschenIn der Tat: Jede Planung einer idealen Gesellschaft trägt den Keim des Totalitarismus in sich. Und natürlich muss ein solcher Utopist - wenn er mal an die Macht gekommen ist - alle Konkurrenzmodelle zur Erlangung einer besseren Gesellschaft unterdrücken oder besser noch beseitigen. Denn sein Modell verwirklicht schließlich die Idealgesellschaft.
So wird ein Kommunist oder Faschist einen Demokraten niemals in seinem gesellschaftlichen und politischen System dulden können. Denn die Ideologie und Praxis von Demokraten negieren den Kommunismus und Faschismus als Heilslehre und Praxis.
Was nun die Demokratie angeht, so ist sie in der Tat keine Heilslehre, sondern kann immer nur mehr oder weniger funktionierende Theorie und Praxis sein. Heilslehre kann sie schon deshalb nicht sein, weil die Mehrheit sich einfach auch täuschen und Dinge falsch entscheiden kann. Die Tatsache, dass eine Politik durch den Willen einer Mehrheit im Lande getragen wird, bedeutet noch lange nicht, dass es sich dann in solch einem Fall um eine vernünftige oder gute Politik handeln muss.
Winston Churchill brachte die Sache eigentlich auf den Punkt: „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“
Dem kann ich nur zustimmen. Herzlichen Dank für Ihre Gedanken. Paideia
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