Donnerstag, 25. Juli 2013

Franz Kafka und die bürokratische Herrschaft

„Dort oben ist die Behörde in ihrer unentwirrbaren Größe – ich glaubte, annähernde Vorstellungen von ihr zu haben, ehe ich hierher kam, wie kindlich war das alles.“ (Kafka, Das Schloss)

Franz Kafka (1883 - 1924)
Die Werke Franz Kafkas gehören zum unbestrittenen Kanon der Weltliteratur mit vielfältigen und bis heute anhaltenden Wirkungen. Von besonderem, weil hochaktuellem  Interesse sind Kafkas Beobachtungen zur Herrschaftsform der Bürokratie, die er aus eigener Berufserfahrung ausgezeichnet kannte.

Nach dem Abschluss seines Jurastudiums arbeitete Kafka von 1908 bis 1922 in der „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen“ (AUVA) in Prag. Die Tätigkeit als Beamter in der halbstaatlichen Institution verlangte von ihm genaue Kenntnisse der industriellen Produktion und der großbetrieblichen Technik. Er begann als „Aushilfsbeamter“ in der Unfallabteilung, wurde dann in die versicherungstechnische Abteilung versetzt und gehörte ab 1910 schließlich zur Betriebsabteilung.

Kafka arbeitete Bescheide aus und brachte sie auf den Weg, wenn es alle fünf Jahre galt, die Betriebe in Gefahrenklassen einzuteilen. Kafka arbeite sich schnell in seine neuen Arbeitsgebiete ein, und wurde in Anerkennung seiner Leistungen viermal befördert.

Gleichwohl klagt er in einem Brief an Milena: „Mein Dienst ist lächerlich und kläglich leicht … ich weiß nicht wofür ich das Geld bekomme“. 1917 erkrankte Kafka an Lungentuberkulose und bat um Pensionierung. Die AUVA sperrte sich und gab ihn erst nach fünf Jahren am 1. Juli 1922 endgültig frei.

Durch seinen Kontakt zu Unfallopfern wusste Kafka nur zu gut um den „Schicksalsaberglauben“, der unweigerlich diejenigen erfasst, die in ihrem täglichen Leben unter die Herrschaft des Zufalls gefallen sind. Dieser Schicksalsaberglaube, in „irgendeine furchtbare, dunkle Notwendigkeit verstrickt zu sein“ bildet die Brücke zu Kafkas Blick auf bürokratische Weltordnung (522).

Wie in einem Albtraum bewegen sich Kafkas Protagonisten durch ein Labyrinth undurchsichtiger Verhältnisse und sind anonymen Mächten ausgeliefert. In besonderem Maße wird dies in den beiden Roman „Der Process“ und „Das Schloß“ sichtbar.

Der Process - Erstausgabe 1925
Im „Process“ wird, Josef K., der Protagonist des Romans, am Morgen seines 30. Geburtstages verhaftet, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. Trotz seiner Festnahme darf sich der Bankprokurist Josef K. noch frei bewegen und weiter seiner Arbeit nachgehen. Vergeblich versucht er herauszufinden, weshalb er angeklagt wurde und wie er sich rechtfertigen könnte. Dabei stößt er auf ein ebenso wenig greifbares Gericht, einem weit verzweigten Gewirr unübersichtlicher Räume, darunter die Kanzleien, die sich auf den Dachböden befinden.

Josef K. versucht verzweifelt, Zugang zum Gericht zu finden, doch auch dies gelingt ihm nicht. Er beschäftigt sich immer öfter mit seinem Prozess, obwohl er anfangs das Gegenteil beabsichtigte. Er gerät dabei immer weiter in ein albtraumhaftes Labyrinth einer surrealen Bürokratie. Immer tiefer dringt er in die Welt des Gerichts ein. Gleichzeitig dringt jedoch auch das Gericht immer mehr in Josef K.s Leben ein. Ob tatsächlich ein irgendwie gearteter Prozess heimlich voranschreitet, bleibt sowohl dem Leser als auch Josef K. verborgen.

Bezeichnenderweise bekommt der Angeklagte Josef K. niemals auch nur die Anklageschrift zu Gesicht. Josef K. fügt sich schließlich einem nicht greifbaren, mysteriösen Urteilsspruch, ohne jemals zu erfahren, weshalb er angeklagt war und ob es tatsächlich dazu das Urteil eines Gerichtes gibt. Am Vorabend seines 31. Geburtstages wird Josef K. von zwei Herren abgeholt und in einem Steinbruch „wie ein Hund“ erstochen.

„Der Verklärer der bürokratischen Weltordnung im Prozess ist der Geistliche im Dom, der dem Angeklagten K. ihr Grundprinzip in einem Satz erklärt: „Man muss nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten.“ Woraufhin K. eben meint: Trübselige Meinung. Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht“ (522).

In dieser prägnanten Aussage steckt die gesamte Essenz der Kritik an einer sich verselbstständigen und unmenschlichen Bürokratie  und am Fehlen bürgerlicher  Freiheitsrechte.

Das Schloss - Erstausgabe 1926
Im Zentrum des Romans „Das Schloss“ steht der Protagonist K., der als Landvermesser in ein winterliches Dorf kommt, das zu dem Besitz eines Schlosses gehört. Das Schloss mit seiner Verwaltung scheint durch einen gewaltigen, undurchschaubaren bürokratischen Apparat jeden Einzelnen der Einwohner zu kontrollieren und dabei unnahbar und unerreichbar zu bleiben. Einer nicht greifbaren bedrohlichen Hierarchie ausgesetzt, an deren Spitze sich die Beamten des Schlosses befinden, gestaltet sich das Leben der Dorfbewohner bedrückend. Bei Überschreitung der Vorschriften droht vermeintlich Schlimmes.

Vom Schloss werden aber tatsächlich niemals erkennbare Sanktionen erhoben. K.s ganzes Streben ist darauf gerichtet, sich dem Schloss zu nähern. Doch sämtliche Anstrengungen scheitern. Die Vorgänge zwischen Dorf und Schloss und das untertänige Verhalten der Dorfbewohner bleiben ihm unverständlich.

Nur bruchstückhaft erfährt K. und mit ihm der Leser im Laufe des Romans mehr über die Beamten des Schlosses und ihre Beziehungen zu den Dorfbewohnern. Die allgegenwärtige, aber gleichzeitig unzugängliche, faszinierende und bedrückende Macht des Schlosses über das Dorf und seine Menschen wird dabei immer deutlicher. Trotz all seiner Bemühungen, in dieser Welt heimisch zu werden und seine Situation zu klären, erhält K. keinen Zugang zu den maßgeblichen Stellen in der Schlossverwaltung. Anfangs voll Ehrgeiz und Zuversicht, fühlt sich K. zunehmend ohnmächtig angesichts der Undurchschaubarkeit des Systems, in dem er sich befindet.

So leben die Dorfbewohner im Schloss" unter der Allmacht einer bürokratischen Herrschaft leben, die ihre Geschicke bis in alle privatesten Einzelheiten kontrolliert und ihnen beigebracht hat, dass es eine Frage des Schicksals, dunkler und menschlich unkontrollierbarer Mächte ist, ob einer im Recht oder im Unrecht ist“ (522).

Die zentrale Geschichte des Romans in dieser Hinsicht ist „Amalias Geheimnis“, das darin besteht, dass die ganze Familie dafür bestraft wird, dass einer der hohen Beamten ihr einen obszönen Brief geschrieben hat; das ist nun ihre und nicht des Beamten „Schande“. Dem K. des Romans „scheint das ungerecht und ungeheuerlich, aber das ist eine im Dorf völlig vereinzelte Meinung“, denn „man muss schon ein Fremder in meiner besonderen Lage sein, um sich dem Vorurteil zu entwinden“ und an der unabänderlichen Notwendigkeit dieses „erstaunlich einheitlichen Spiels“ zweifeln zu können“ (522).

Mit der Herrschaftsform der Bürokratie hat sich auch Hannah Arendt in ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ beschäftigt: „Juristisch gesprochen und im Gegensatz zur Gesetzesherrschaft ist Bürokratie das Regime der Verordnungen.“ In der Bürokratie werde die Macht, die in Verfassungsstaaten nur der Ausführung der Gesetze dient, hier wie in einem Befehl, zur direkten Quelle der Anordnung. 

Bürokratische Herrschaft - ein Regime der Verordnungen

„Verordnungen sind ferner immer anonym, während Gesetze immer auf bestimmte Personen oder gesetzgebende Versammlungen zurückgeführt werden können; sie bedürfen weder der Begründung noch der Rechtfertigung im einzelnen Fall – wiewohl die in jedem Ausnahmezustand sich als notwendig erweisenden Notverordnungen insgesamt den Notstand als ihre Rechtfertigung anrufen müssen, der dann aber zeitlich begrenzt, klar als Ausnahme von der Regel erkannt wird. Der Notstand rechtfertigt in der Ausnahme das, was in der Despotie die Regel ist, nämlich die Konzentration und Unbegrenztheit der Macht gegenüber dem Untertan“ (516).

Vom Standpunkt der bürokratischen Herrschaft erscheinen die verfassungsrechtliche Regierung als unendlich unterlegen und die ihr eigentümlichen Gesetze als „Fallen“, in welchen die Herrschenden sich nur unnötigerweise verstrickten. Auch fühlten die Bürokraten, so Arendt, „wiewohl sie selber doch nur den Willen des Herrschers vollstreckten, sich den gesetzgebenden verfassungsmäßigen Regierungen dadurch überlegen, dass sie durch keine Prinzipien in der Ausübung der Macht eingeschränkt waren, also in ihrem Sinne über eine sehr viel größere Freiheit verfügten“ (517).

So habe der Bürokrat, „wiewohl er nur Verordnungen durchführt, die er selbst nicht erlassen hat“, zum mindesten „die Illusion einer ständigen weitreichenden Tätigkeit und fühlt sich himmelweit den „unpraktischen“ Leuten überlegen, die sich dauernd über legalistische Details den Kopf zerbrechen müssen und daher außerhalb der Machtsphäre bleiben, die für ihn Politik überhaupt verkörpert“ (517).

So wie in den Werken Kafkas deutlich wird, liegen hinter diesen Verordnungen „keine an sich immer einfachen Prinzipien, die jedermann verstehen könnte, sondern sie entspringen einer Reihe oft höchst komplizierter Umstände, die nur der Fachmann übersehen kann. Menschen, die unter dem Regime der Verordnungen leben, wissen niemals, was oder wer sie eigentlich regiert, weil Verordnungen an sich immer unverständlich sind und die Umstände und Absichten, die sie verständlicher machen könnten, von der Bürokratie immer sorgfältig, als handele es sich gerade hier um die höchsten Staatsgeheimnisse, verschwiegen werden“ (518). 

Bürokratische Herrschaft - keine Probleme mit "legalistischen Details" !

So unterscheidet sich auch der Verwaltungsbeamte von allen gesetzgebenden politischen Körperschaften dadurch, dass er unmittelbar handelt, und dies „innerhalb des Rahmens eines von ihm selbst nicht gegebenen und daher von ihm nur als Grenze und Hindernis empfundenen Gesetzes“ (526).

Für die Herrschenden liegen die Vorteile bürokratischer Herrschaft natürlich auf der Hand: „Die Effektivleistung der Verordnung ist durchschlagend, weil sie die vermittelnden Stufen zwischen Gesetzgebung, Veröffentlichung und Exekution vermeidet und dadurch gar keine Gelegenheit zur Diskussion und einer etwaigen Meinungsbildung bietet“ (518).

In einer bürokratischen Herrschaft, wo an die Stelle des Gesetzes die Verordnung getreten ist, wird dauernd gehandelt, bevor Recht gesprochen worden ist, werden dauernd vollendete Tatsachen geschaffen, gegen die es dann einen Einspruch entweder überhaupt nicht gibt oder nur auf einem so komplizierten, eben `bürokratischen´ Wege, dass ihm praktisch keine Bedeutung mehr zukommt: „Willkür und Zufall werden zum Kennzeichen des Wirklichen selbst“ (527).

„Ob es Kontrollbehörden gibt? Es gibt nur Kontrollbehörden. Freilich sie sind nicht dazu bestimmt, Fehler im groben Wortsinn herauszufinden, denn Fehler kommen ja nicht vor, und selbst, wenn einmal ein Fehler vorkommt, wer darf denn endgültig sagen, dass es ein Fehler ist.“ (Franz Kafka, Das Schloss).
  
Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper), v.a. S. 515ff
Weitere Literatur: Franz Kafka: Der Process, als Text bei Gutenberg, als Hörspiel beim BR  -  Franz Kafka: Das Schloss, als Text bei Zeno  

1 Kommentar:

  1. Was für Kafka gilt, lässt sich auch für diesen Beitrag festhalten: Er ist zeitlos. Das Thema Bürokratie wird den Menschen meiner Meinung nach immer begleiten und es wird niemals wirklich besser. Die ganze Entwicklung im Bereich IT wird daran vermutlich auch nichts ändern, höchstens die Möglichkeiten einer ausufernden Bürokratie nochmals erweitern. Manchmal glaube ich, dass der Mensch von Natur ein Bürokratie-Gen hat.

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