Donnerstag, 25. April 2013

Hannah Arendt und das tätige Leben: Handeln


Hannah Arendt (1906 - 1975)
Im Jahre 1958 veröffentlichte Hannah Arendt ihr philosophisches Hauptwerk „Vita activa oder Vom tätigen Leben.“ Darin beschreibt sie nicht mehr und nicht weniger als eine Theorie des politischen Handelns vor dem Hintergrund der Geschichte politischer Freiheit und selbstverantwortlicher aktiver Mitwirkung der Bürger am öffentlichen Leben.

Arendt zufolge habe jedes Individuum die Aufgabe, in Verbindung mit anderen Personen die Welt zu gestalten. Dabei stehen dem Menschen drei „Grundtätigkeiten“ zur Verfügung: Arbeiten, Herstellen und Handeln (griech. πόνος, ποίησις und πρãξις).

Während die Arbeit das „Am-Leben-Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung“ sichert, errichtet das Herstellen „eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält.“

Das Handeln schließlich, „soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient, schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte“ (18).

Zunächst jedoch ist für Hannah Arendt grundlegend, dass die grundsätzliche Bedingung sowohl des Handelns als auch des Sprechens das „Faktum menschlicher Pluralität“ ist, die sich auf zweierlei Weise, „als Gleichheit und als Verschiedenheit“ (213), manifestiert. Pluralität ist demnach eine „Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, dass jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist“ (214).

Das Faktum menschlicher Pluralität

„Sprechen und Handeln sind gerade deshalb wahrhaft menschliche Tätigkeiten, weil sich in ihnen die Pluralität und auch die Einzigartigkeit des Menschen darstellt: „Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart“ (214).

Wenn Menschen sich sprechend und handelnd in die Welt einschalten, dann „offenbaren sie jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren“ (219).

Handeln und Sprechen im öffentlichen Raum
Handeln und Sprechen finden im öffentlichen, im politischen Raum statt, denn sie „bewegen sich in dem Bereich, der zwischen Menschen qua Menschen liegt, sie richten sich unmittelbar an die Mitwelt, …wenn es sich um Dinge handelt, welche die Welt angehen, also den Zwischenraum, in dem Menschen sich bewegen und ihren jeweiligen, objektiv-weltlichen Interessen nachgehen. Diese Interessen sind im ursprünglichen Wortsinne das, was `inter-est´, was dazwischen liegt und die Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden“ (224)

Arendt zufolge kam dies besonders klar und deutlich in der griechischen Polis zum Ausdruck. Hier zeigte sich, dass bevor das Handeln überhaupt beginnen konnte, ein begrenzter Raum fertig- und sichergestellt werden musste, „innerhalb dessen die Handelnden dann in Erscheinung treten konnten, der Raum des öffentlichen Bereichs der Polis, dessen innere Struktur das Gesetz war“ (244).

Dabei waren die Gesetze noch nicht einmal „Erzeugnisse des Handelns“, sondern „Produkte des Herstellens“: „Der Gesetzgeber und der Architekt gehörten in die gleiche Berufskategorie“, denn so wie die Mauern die Stadt nach außen hin schützen sollten, so war es die Funktion der Gesetze, diesen Schutz nach innen zu entfalten (ebd.).

Der „Inhalt des Politischen“ aber, also das, worum es in dem politischen Leben der Stadtstaaten selbst ging, „war weder die Stadt noch das Gesetz – nicht Athen, sondern die Athener waren die Polis“ (ebd.). Dementsprechend war die Möglichkeit des πολιτεύεσθαι, das Recht, an den politischen Tätigkeiten der Bürger teilzunehmen, welche innerhalb der Polis vor sich gingen, ausschließlich auf die Bürger der Stadt beschränkt (ebd).

So bestand die Aufgabe der Polis im Hinblick auf das Handeln und Sprechen darin, Gelegenheiten herbeizuführen, „durch die man den `unsterblichen Ruhm´ erwerben konnte, bzw. die Chancen zu organisieren, unter denen ein jeder sich auszeichnen und in Wort oder Tat zur Schau stellen konnte, wer er in seiner einmaligen Verschiedenheit war“ (247).

Unsterblicher Ruhm: Ὦ ξεῖν᾿, ἀγγέλλειν Λακεδαιμονίοις ὅτι τῇδε κείμεθα τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι ...  
(in Schillers Übersetzung: "Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest / Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.")

In der von Thukydides übermittelten eindrucksvollen Grabrede des Perikles kann man selbst nachlesen, was die Griechen damals dachten: „Dort heißt es, dass die Polis denen, die Land und Meer zum Schauplatz ihrer Kühnheit gemacht haben, garantiert, dass sie nicht vergeblich gelebt und gehandelt haben, daß sie weder eine Homers noch anderer seiner Kunst bedürften, sondern ohne alle Hilfe `unvergängliche Denkmäler´ hinterlassen werden von dem, was sie im Guten und Bösen an Erinnerungswürdigem vollbrachten“ (248)

Für die Griechen war also der politische Bereich nicht anderes als eine ewige Bühne, „auf der es gewissermaßen nur ein Auftreten, aber kein Abtreten gibt, und dieser Bereich entsteht direkt aus einem Miteinander, dem `mitteilenden Teilnehmen an Worten und Taten´“ (249).

Zusammenfassend hält Arendt fest: „Die antike Einschätzung des Politischen wurzelt in der Überzeugung, dass die Einzigartigkeit des Menschen als solchen im Handeln und Sprechen in Erscheinung tritt und sich bestätigt, dass ferner diesen Tätigkeiten, trotz der ihnen eigenen Flüchtigkeit und materiellen Ungreifbarkeit, eine potentielle Unvergänglich eignet, weil sie sich von sich aus der andenkenden Erinnerung der Menschen einprägen“ (263). 

Daher ist für Arendt das Handeln im öffentlichen, im politischen Raum in einem spezifischeren Sinn `das Werk des Menschen´ als es das Werk seiner Hände (Herstellen) oder die Arbeit seines Körpers (Arbeit) jemals sein können.

Das Handeln als "Werk des Menschen" (Aristoteles) ist eben genau das, worum es in der Politik geht, denn hier geht es nicht um ein gegenständlich-greifbares Hergestelltes, sondern um eine Tätigkeit in ihrer reinen Aktualität - also jenseits der Zweck-Mittel-Kategorie.

Aus diesem Grund - und dies sollten sich die heutigen "Politiker" deutlich hinter die Ohren schreiben - sind die Tugenden oder ἀρεταί keine bloßen Eigenschaften, die man zweckgebunden mobilisieren oder nicht mobilisieren kann, sondern eben "eine `Trefflichkeit´, die überhaupt nur in der Aktualität des Vollzugs da ist" (262).

Zitate aus: Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2010 (piper)

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