Karl Jaspers ist einer der
Hauptvertreter der Existenzphilosophie, die das philosophische Denken in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in Deutschland und Frankreich
beherrschte. Das Grundanliegen dieser philosophischen Auffassung ist es, dem
Menschen das volle Bewusstsein seiner Freiheit zu vermitteln.
Karl Jaspers (1883 - 1969) |
Der Existenzialismus zeichnet sich dadurch
aus, dass er einen bedeutsamen Unterschied zwischen „Existieren“ und „Sein“
zeichnet, zwei Begriffe, die zwei völlig verschiedene Dinge bezeichnen. Während
Pflanzen nur „sind“, d.h. sich um ihre Existenz nicht zu kümmern brauchten,
„existiert“ der Mensch, d.h. er muss aktiv sein Leben gestalten.
Existieren bedeutet letztlich, dass die Menschen
die Freiheit haben, sich zu entscheiden – oder in den Worten von Jaspers: „Freiheit
ist das ursprüngliche Wesen des Menschen.“ Aus der Freiheit selbst entscheiden zu
können, leitet Jaspers nun die Pflicht zur
Selbstverwirklichung ab, d.h. die Fähigkeit des Menschen, sich Lebensziele
zu setzen und diese zu verwirklichen zu versuchen: „Der Mensch ist das, was er
aus sich macht.“
Auch der Ursprung der Philosophie bzw. des
Philosophierens (beides ist eben nicht identisch!) wird von Jaspers
existenzphilosophisch beschreiben.
Zwar ließe sich der historische Anfang der
Philosophie als methodisches Denken relativ eindeutig auf das 5. Jh. v.u.Z.
datieren, jedoch dürfe man den historischen Anfang nicht mit dem individuellen
Ursprung gleichsetzen: „Der Anfang ist historisch und bringt für die
Nachfolgenden eine wachsende Menge von Voraussetzungen durch die nun schon
geleistete Denkarbeit. Ursprung aber ist jederzeit die Quelle, aus der der
Antrieb zum Philosophieren kommt.“
Dieses Ursprüngliche wird für Jaspers auf
dreifache Weise sichtbar: „Aus dem Staunen
folgt die Frage und die Erkenntnis, aus dem Zweifel am
Erkannten die kritische Prüfung und die klare Gewissheit, aus der Erschütterung des Menschen und dem Bewusstsein seiner Verlorenheit die
Frage nach sich selbst.“
Im Anschluss an Platon und Aristoteles ist
auch für Jaspers der Ursprung der Philosophie das Staunen: „Denn die
Verwunderung ist es, was die Menschen zum Philosophieren trieb“ (Aristoteles).
Damit ist nun eine Bewegung angestoßen, die strenggenommen kein Ende kennt. Zunächst
drängt das Staunen zur Erkenntnis: „Im Wundern werde ich mir des Nichtwissens
bewusst. Ich suche das Wissen, aber um des Wissens selber willen, nicht `zu
irgendeinen gemeinen Bedarf´.“
Es ist die Philosophie in ihrem Ursprung also
nichts anderes als ein Erwachen, in dem sich ein zweckfreier Blick auf die
Dinge, den Himmel und die Welt vollzieht. Ein zweckfreier Blick, in den auch die
„Fragen: was das alles und woher das alles sei – Fragen, deren Antwort keinem
Nutzen dienen soll, sondern an sich Befriedigung gewährt“, eingeschlossen sind.
Aus dem Staunen erwächst jedoch bald der Zweifel:
„habe ich Befriedigung meines Staunens und Bewunderns in der Erkenntnis des
Seienden gefunden, so meldet sich bald der Zweifel“,
denn „bei kritischer Prüfung ist nichts gewiss.“
Der Zweifel ist zunächst den Erkenntniswerkzeugen
geschuldet, denn sowohl unsere Sinne können uns täuschen, aber auch „unsere
Denkformen sind die unseres menschlichen Verstandes. Sie verwickeln sich in
unlösbare Widersprüche.“ Hier sei es gerade die Aufgabe der Philosophie, den
Zweifel zu ergreifen, ihn radikal durchzuführen, entweder „mit der Lust an der
Verneinung“ oder „mit der Frage, wo denn Gewissheit sei, die allem Zweifel sich
entziehe und bei Redlichkeit jeder Kritik standhalte.“
12 Radiovorträge über Philosophie (1950) |
So wird der Zweifel als methodischer Zweifel
die Quelle kritischer Prüfung jeder Erkenntnis. Daher könne es nach Jaspers auch
kein wahrhaftiges Philosophieren ohne radikalen Zweifel geben.
Schließlich führt der Zweifel in die
Erschütterung des Menschen, „wenn ich meiner selbst in meiner Situation mir
selbst bewusst werde.“ So wie der Stoiker Epiktet meinte, „der Ursprung der
Philosophie ist das Gewahrwerden der eigenen Schwäche und Ohnmacht“, so müsse sich
der Mensch auch Jaspers zufolge stets der eigenen menschlichen Lage
vergewissern.
Diese menschliche Lage zeichnet sich nun
dadurch aus, dass wir „immer in Situationen sind. Die Situationen wandeln sich,
Gelegenheiten treten auf. Wenn sie versäumt werden, kehren sie nicht wieder.“
Jeder Mensch könne zwar an der Veränderung der Situation arbeiten, aber es gäbe
Situationen, „die in ihrem Wesen bleiben, auch wenn ihre augenblickliche
Erscheinung anders wird und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt:
ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall
unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld.“
Diese Grundsituationen des menschlichen
Daseins nennt Jaspers Grenzsituationen, also Situationen, „über die wir nicht
hinaus können, die wir nicht ändern können. So ist es für das Gelingen
(oder für das Scheitern) der Selbstverwirklichung von entscheidender Bedeutung,
wie der einzelne Mensch mit den im Leben unvermeidlichen „Grenzsituationen“ umgeht.
Daher ist nach dem Staunen und dem Zweifel
das Bewusstwerden dieser Grenzsituationen der tiefere, weil existentielle
Ursprung der Philosophie.
Zitate
aus: Karl Jaspers: Was ist Philosophie?, München 1980 (dtv)
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