„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt.
"Die Identitätspolitik ist dabei das Schwert der Moral, die Ikone des Moralismus wider die Vernunft. Sie bietet ihren Anhängern Orientierung und Sinn, natürlich auch Jobs, etwa mit Hilfe von Quotenregelungen (…), und vor allem einfache Antworten auf schwierige Fragen.
In Verbindung mit transatlantischer Werteorientierung (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte) entsteht hier ein wirkmächtiges gesellschaftliches Amalgam, der Anti-Machiavelli schlechthin. Nicht die Staatsräson zählt, nicht das nationale Interesse, auch keine `diskursive Ethik´– es gilt allein die eigene, zutiefst verinnerlichte, absolutistisch gesetzte Moral.
Diese Dynamik lässt sich Lüders zufolge vor allem bei den Grünen beobachten. „Die Grünen mögen sich als `postmaterialistisch´ verstehen, tatsächlich aber gehören sie zu den Bessergestellten und Privilegierten. Ihren Wohlstand missverstehen sie offenbar als quasi gottgegeben, als Lohn des eigenen, im Grundsatz richtig geführten Lebens, auf den man fast schon einen Rechtsanspruch zu haben glaubt. Doch über Geld zu verfügen, beantwortet nicht die Sinnfrage, die sich dem Einzelnen wie auch jeder Gruppe stellt. (…)
Die Grünen - Von friedensbewegten Idealisten zu Panzer-Fans (Der Spiegel)
Das Bekenntnis zur »Ökologie« reicht dafür nicht aus. Auf gesellschaftlicher Ebene gehen der digitale Wandel, die Globalisierung, die fortschreitende Individualisierung der Arbeitswelt (Homeoffice) einher mit dem Bedeutungs-verlust traditioneller identitätsstiftender Bezugsrahmen, darunter etwa Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Vereine. Begriffe wie `Nation´ oder `Religion´ erzielen in höhergestellten sozialen Milieus kaum noch Bindungswirkung. Auch die klassische Familie aus Vater, Mutter, Kind ist nur noch bedingt Refugium; sie konkurriert mit gender- und queerorientierten Lebensformen.
Gehen aber Gewissheiten verloren, ist das Tattoo am Ende identitätsprägender als jede überlieferte Bindung, offenbart sich darin ebenso ein Höchstmaß an Freiheit wie auch ein Krisensymptom. Eine Gesellschaft ohne kollektives Ich, ohne verlässliche Erzählungen, ohne Mythen, läuft Gefahr sich zu verlieren. Konsumismus und Hedonismus sind lediglich Ersatzhandlungen, Lückenfüller.
Hier nun kommt die Moral ins Spiel, wenn auch keine ethisch fundierte, sondern eine subjektiv begründete. Die berühmte Liedzeile `Erst kommt das Fressen, dann die Moral´ aus Brechts Dreigroschenoper könnte richtiger kaum sein. Das Wissen darum ist lediglich in den Hintergrund gerückt im (noch) reichen Deutschland. Wer im Schatten des Wohlstands lebt, erst recht in ärmeren Teilen der Welt, wird dagegen lauthals mitsingen.
Den Grünen ist das bemerkenswerte Kunststück gelungen, den emotional ansprechenden Begriff `Moral´ politisch umfassend zu besetzen und damit ein Angebot zur Identifikation in einer postmodernen Gesellschaft anzubieten, die sich ihrer selbst längst nicht mehr sicher ist. Praktischerweise gibt es hier kein Copyright – jeder kann unter `Moral´ verstehen, was er mag, wie es gerade gefällt oder nützlich erscheint.
Moral ist massentauglich. Wird sie dann noch in einen größeren Zusammenhang überführt, jenen der `Werte´, wird aus dem von Race & Gender inspirierten Gutmenschen leichtfüßig ein Ideologe, der sich eingebettet weiß in einen größeren, ebenfalls heiligen Gral aus Freiheit und Demokratie. (…)
Wir sind die Guten! Das ist das Angebot der Grünen an die Gesellschaft wie auch an sich selbst, darin überflügeln sie jede Konkurrenz. (…)
Die emotionale Selbstvergewisserung, die mit der Absage an das Böse einhergeht, ist nicht zu unterschätzen. Auch ich bin ein Guter! Mit diesem Kick stelle ich mich nach außen dar, gelingt mir der Brückenschlag zu Gleich-gesinnten, erfahre ich Anerkennung und Wohlwollen. Im Beruf, im Alltag, in den sozialen Medien.
Leider kann das süchtig machen: die Jagd nach solchen Glücksmomenten, nach Bestätigung. Die meisten Moralisten, einmal auf den Geschmack gekommen, suchen unbewusst den fortwährenden Applaus und landen früher oder später in einer narzisstisch umrandeten `Selbstbestätigungsfalle´.” (…)
Leider interessieren sich grüne Moralisten nur wenig für diejenigen, die den Preis für ihre Weltenrettung zu bezahlen haben. Grün zu sein, sich grün zu verorten bedeutet (noch), zu den Privilegierten zu gehören. In dem Maß, wie die gesellschaftlichen Verwerfungen in Deutschland zunehmen, dürften Kulturfragen mehr und mehr zum Gradmesser von `links´ oder `rechts´, von `oben´ oder `unten´ werden – wie in den USA seit langem schon zu beobachten. Plakativ gesagt: Der urbane Mittelstand wird auch weiterhin Lastenfahrrad fahren, sich gesund ernähren und auf seine Work-Life-Balance achten. Und gleichzeitig herabsehen auf die Malocher, die zu viel duschen, mehr Fleisch statt Gemüse essen, zu dick sind, sich zu wenig bewegen, die falschen Autos fahren und einfach nicht verstehen wollen, dass in der Ukraine auch unsere Freiheit verteidigt wird.”
“In letzter Konsequenz läuft das hinaus auf einen Klassenkampf der Besitzenden gegen die Habenichtse, die wirtschaftlich immer größere Mühe haben, sich über Wasser zu halten. Hier das privilegierte, autoritär-ökologisch gestimmte Oben, dort ein (Sub-)Proletariat, dem die `Stoppt das Russenzeugs´-Regierungslinie als Erstes um die Ohren fliegt. Je mehr Menschen arbeitslos werden und sich um ihre Zukunft betrogen sehen, nicht mehr wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, umso größer die Wut, umso stärker die Gegenbewegung. Menschen, die ihre Lebensweise brutal abgewertet sehen oder sich zu Recht als Verlierer einer Entwicklung begreifen, auf die sie keinen Einfluss haben, orientieren sich erfahrungsgemäß in Richtung Rechtspopulismus.
In den USA und einer Vielzahl europäischer Länder ist das längst geschehen, treten rechtspopulistische Volksparteien auf den Plan oder sind bereits an der Macht. In Deutschland vor allem wohl deswegen (noch) nicht, weil es diesem Land bislang, alles in allem, gut ergangen ist. Doch diese Zeiten sind vorbei, unwiderruflich wohl.
Nutznießer dieser Entwicklung muss nicht zwangsläufig die AfD sein. Gut vorstellbar, dass neue, ganz andere Bewegungen entstehen, auch ultra-nationalistische oder gewaltbereite im Stil der `Proud Boys´, die bei der Erstürmung des Kapitols in Washington im Januar 2021 eine führende Rolle spielten. Noch fehlt den `Patrioten´ hierzulande eine charismatische Führungspersönlichkeit à la Jörg Haider. Sobald ein solcher Anti-Habeck die Bühne betritt, wird die Zweiteilung der Gesellschaft zügig voranschreiten. Daran zu zweifeln besteht wenig Anlass. Entzünden dürfte sich die Auseinandersetzung auch und vor allem entlang kultureller Symbole, an den `unten´ zutiefst verhassten identitätspolitischen Glaubensgewissheiten, allen voran die Gendersprache.
Die herrschende Moralpolitik ist eine gefährliche Ideologie, weil die “Zweifel weder kennt noch zulässt – stehen die eigenen Gewissheiten doch für `42´, bekanntlich die Antwort auf alle großen Fragen der Menschheit in Douglas Adams’ Kultbuch Per Anhalter durch die Galaxis.
Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen