Donnerstag, 8. Oktober 2020

Ulrich Sarcinelli und die digitale Gesellschaft im demokratischen Staat (Teil 2)




Im Sekundentakt werden Nachrichten durchs Internet geschleust. Das bringt die Politik mit ihren langsamen Denk- und Entscheidungsprozessen in Zugzwang. Sie muss Lösungen finden, wie sie den "digitalen Menschen" überhaupt noch erreichen kann. Gleichwohl haben sich die ‚Spielregeln‘ des Kommunikationsbetriebs im Zuge der Digitalisierung dramatisch verändert und so stellt Ullrich Sarcinelli in seinem Beitrag für die Reihe SWR2-Wissen die Frage, was der Staat bei der Steuerung und Gestaltung der Kommunikationsverhältnisse heute tun könne.


Ulrich Sarcinelli (* 1949)
„Zunächst einmal unterliegt er Einschränkungen, die sich aus der Verfassung ergeben. Denn Informations- und Meinungsfreiheit, eine staatsunabhängige Presse und alle damit verbundenen institutionellen Voraussetzungen, das alles gehört zur DNA freiheitlicher Gemeinwesen. Der Staat gewährleistet diese verfassungsrechtlichen Grundlagen und schafft presse-rechtliche Rahmenbedingungen. Seine Spielräume, dabei auch die notwendigen ökonomischen Voraussetzungen für eine leistungsfähige Medien-landschaft zu sichern, sind hingegen begrenzt.“

 

Es gehöre daher zur staatlichen Verantwortung, die Voraussetzungen für eine Öffentlichkeit zu schaffen, die freie Meinungsbildung gewährleistet. „Das ist leichter gesagt als getan in einer Zeit, in der sich die Informationsinfrastruktur der alten liberalen Demokratie grundlegend verändert hat: durch digitale Plattformen, durch Medienunternehmen neuen Typs wie Google, Facebook, Youtube u.a.m. Dabei handelt es sich um privatwirtschaftlich organisierte Weltkonzerne, die sich zu international wirkmächtigen Meinungs-maschinen entwickelt haben.“

 

Diese „Suchmaschinen und Internetanbieter agieren nicht wie Post oder Telekom als neutrale Plattformen, sondern als Informationsanbieter, die Öffentlichkeit nach ihren eigenen Regeln und Normen herstellen. Vor allem mit den sogenannten Sozialen Medien sind neue Kommunikationsräume entstanden. Diese stellen eine Art publizistisches Paralleluniversum dar, das der alten – auf den klassischen Journalismus gestützten – Öffentlichkeit immer stärker die Agenda vorgibt. Das bedroht dann nicht nur massiv die ökonomischen Grundlagen der herkömmlichen Medien, sondern berührt auch die Frage nach der politischen Verantwortung für die Gewährleistung transparenter und freiheitlicher Kommunikationsverhältnisse. Vor allem darin liegt die große Herausforderung einer neuen Ordnungspolitik für den digitalen Kapitalismus.“

 

Der Grund dafür, warum sich der liberale Verfassungsstaat mit der Gestaltung der digitalen Kommunikationsverhältnisse so schwertut, liegt Sarcinelli zufolge darin, „dass das freiheitlich verfasste Gemeinwesen auf Machtbegrenzung setzt, auf Verantwortungsteilung und auf die rechtliche Sicherung individueller und kollektiver Freiheiten. Das betrifft nicht nur die Informations- und Meinungsfreiheit, sondern eben auch die Freiheit des Eigentums und der wirtschaftlichen Betätigung. Dies begrenzt ausgreifende Steuerungsfantasien, ersetzt aber nicht die Steuerungsverantwortung der Politik.“

 

„Die literarische Verarbeitung digitaler Horrorvisionen mag von der Wirklichkeit ziemlich weit entfernt liegen“, aber totalitäre Steuerungsfantasien im Stile von George Orwells `1984´ haben jüngst wieder ihren literarischen Ausdruck gefunden in dem dystopischen Digitalalptraum `Der Circle´ von Dave Eggers oder in Martin Burckhardts Roman `Score´, die einen fiktionalen Blick auf den sanften Totalitarismus im digitalen Zeitalter geben.

 

Dave Eggers: The Circle (2013): Totalitäre Steuerungsfantasien ...

Der Blick in die fiktionale Literatur könne also durchaus für politische (Fehl-)Entwicklungen sensibilisieren. Schließlich zeige die Entwicklung in anderen Ländern, dass mit der Digitalisierung nicht unbedingt die Einlösung von Freiheitsversprechen einhergeht. „Denn es gibt bereits exportfähige Alternativen digitaler Herrschaft, die in Konkurrenz zum Modell westlich-liberaler Systeme stehen. Beispiel China.

 

In China wird ein solches Alternativmodell seit einigen Jahren erprobt – unter der verharmlosenden Bezeichnung `Sozialkreditsystem´. Es geht dabei um die Entwicklung von Werkzeugen für eine verbesserte Sozialkontrolle […]. Dahinter steckt eine enzyklopädische Datenerfassungsinfrastruktur, in der mittels künstlicher Intelligenz Informationsquellen (z.B. von Gerichten, Steuerbehörden, Banken, Krankenkassen, Verkehrsbehörden, sozialen online- Netzwerke etc.) bis hin zur Gesichtserkennung im öffentlichen Raum erfasst und zur Grundlage von Sozialbewertungen gemacht werden; etwa, wenn Informationen aus unterschiedlichsten Lebensbereichen – Zahlungsmoral, Einkaufsgewohnheiten, digitale Surf- und Kommunikationsgewohnheiten sowie das Sozialverhalten im Allgemeinen, im Straßenverkehr, bei der Arbeit, in der Schule, in der Freizeit – zu einem Persönlichkeitsprofil zusammengeführt werden. Konformität kann so mit verbesserter Kreditwürdigkeit, beruflichem Aufstieg oder besonderer Anerkennung belohnt und unerwünschtes Verhalten entsprechend sanktioniert werden.“

 

Diese Art von kybernetischer Politik laufe letztlich auf Verhaltenslenkung durch extensive Verwendung von Nutzerdaten hinaus. Die Bürger würden so zu Komplizen der eigenen Überwachung, eine besonders raffinierte Form daten-gestützter totalitärer Herrschaft.

 

Das chinesische Beispiel zeige mit erschreckender Deutlichkeit, dass es alternative und mit unseren Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit unvereinbare Ordnungsvorstellungen zum Verhältnis von Staat und Internet durchaus gibt. „Hier wird die liberale Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Herrschaft und Freiheit aufgelöst, ja umgekehrt. Rechte werden gekoppelt an den im Sozialkreditsystem erwirtschafteten „Wert“ des Menschen. Nicht der Bürger muss dem System vertrauen können, sondern das System muss – möglichst messbar – Vertrauen in den Bürger haben. Die Perfektion dieser Art von digitalem Totalitarismus wäre dann erreicht, wenn durch die staatliche Rundumkontrolle auch noch das Gefühl der individuellen Freiheit vermittelt wird.“

 

Davon sei, so Sarcinelli, das westliche Rechtsverständnis zum Glück dann doch weit entfernt, auch wenn die freiwillige Weitergabe von Daten (z.B. Gesundheitsdaten, Bewegungsdaten, Daten zum Freizeitverhalten etc.) inzwischen auch in Demokratien voranschreite. Aber rechtliche Barrieren wie die europäische Datenschutz-Grundverordnung sind ein wichtiger Schritt, um Informations-gewinnung zum Zwecke der Verhaltenssteuerung bzw. Gratifikation bei Nutzung individueller Daten entgegenzuwirken, denn es geht schließlich darum, das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit in Einklang zu bringen.

 

Dennoch „scheint die Verunsicherung auf staatlicher Seite, was den Umgang mit den digitalisierten Kommunikationsräumen anbelangt, ziemlich groß […] Offenbar besteht in der Politik erheblicher Beratungsbedarf.“ Vermutlich wird der Wandel „nicht allein technikdeterminiert sein wird, sondern von vielfältigen institutionellen und politisch-kulturellen Faktoren abhängen. Die Horrorvision, dass die digitale Kommunikationsgesellschaft durch und durch nur noch ein Produkt einer durch Algorithmen definierten Computer-Welt sein werde, ist jedenfalls mit den Vorstellungen einer `offenen Gesellschaft´ (Karl Popper - Link) und einer liberalen Demokratie nicht vereinbar.“

 

Natürlich biete Digitalisierung neue Chancen zur `Selbstorganisationsfähigkeit demokratisch-liberaler Gesellschaften´ […]. Aber gegenüber der allzu euphorischen Vorstellung, die Digitalisierung führe in eine Art Demokratie 4.0, eine „Smart Democracy“, ist jedoch Skepsis angebracht. Die Zeiten, in denen das Hoch-geschwindigkeitsmedium Internet allzu schlichte sozialromantische Vorstellungen von individueller Autonomie und Demokratisierung beflügelt hat, scheinen vorbei zu sein. […]

 

Skepsis gegenüber euphorischen Vorstellungen von Smart Democracy 4.0

Das Netz mag den Glauben nähren, man könne die traditionellen Eliten durch eine neue digitale Polis ersetzen, die ohne die alten Institutionen der Repräsentativ-demokratie auskäme […]. Das Internet erleichtert zwar den Informationszugang, die Erreichbarkeit und den kommunikativen Austausch innerhalb und mit der Politik.“

 

Das Netz werde aber auch zunehmend zu einem Stressfaktor: „Mehr und mehr wird die eher zeitintensive demokratische Willensbildung und Entscheidungs-findung einem medien- und netzgetriebenen Reiz-Reaktions-Druck ausgesetzt, nicht selten im Twitter-Modus. – Von den nationalen und internationalen Verwerfungen infolge der morgendlichen Tweets des amerikanischen Präsidenten ganz zu schweigen.“

 

So könnte sich die Wechselwirkung zwischen `Beschleunigung und Entfremdung´ als Grundphänomen des modernen sozialen Lebens als eine der größten Herausforderungen für Gesellschaft und Demokratie erweisen. So würde gerade die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Dynamisierung in der Moderne zu einer „progressiven Verlangsamung demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung“ führen. „Man kann auch sagen: zu einem rasenden Stillstand. Es passiert scheinbar viel, aber es bewegt sich nichts! Die politische Welt und die technologisch-ökonomische Welt, sie entwickeln sich nicht nur in unterschiedlichem Tempo. Sie bewegen sich auch auseinander.“

 

Sarcinelli gibt zu bedenken, dass die Welt der `Entscheidungspolitik´ und das Bild medien- bzw. internetvermittelter `Kommunikationspolitik´ sich durch die digitale Beschleunigung noch weiter entkoppeln könnten. „Denn offensichtlich ist, dass die `Kultur der Digitalität […] anderen Gesetzen folgt als die politische Kultur im liberalen Rechtsstaat. Wie bei jeder medientechnologischen Revolution bleibt deshalb die Ambivalenz, dass auch die digitale Beschleunigung politische Aufklärung ermöglichen und zugleich die Chancen für kollektive Täuschung erhöhen kann.“

 

Hier gehe es auch um das Informationsverhalten der Bürger, die „sich zunehmend in Teilpublika zerstreut, meinungskonformer Spezialangebote bedienen und in abgeschotteten Kommunikationsräumen die Bestätigung der eigenen Position finden kann – und seien sie noch so absurd. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass sich mit der Digitalisierung, mit den Möglichkeiten, sich überall und jederzeit über alles Informationen zu verschaffen, auch das Gefühl einer gut informierten Orientierungslosigkeit einstellt.“

 

Voraussetzung für demokratische Meinungsbildung aber sei vor allem politische Urteilskraft und diese beruhe nicht allein auf Informationen, „sondern auf der Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen und Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen. Informieren und gewichten, dies vor allem war die Aufgabe von Qualitätsmedien. Ihnen kam als `Informations-Marken´ – bisher zumindest – eine wichtige Orientierungsfunktion zu. Inzwischen sieht sich der professionelle Journalismus seiner Gatekeeper-Rolle, seiner Schleusenwärter-Funktion, beraubt.“

 

Politische Urteilskompetenz: Unterscheiden und gewichten!

Twitter, Facebook und andere social-media-Angebote würde nicht mehr nur als bloße Plattformen genutzt. Für immer mehr Menschen sind sie zur maßgebliche Nachrichtenquelle geworden. Aber: Die Sozialen Netze „befördern die Kommunikation unter Gleichgesinnten und setzen Themen. Erinnert sei nur an die im Netz beflügelten Lügenpresse-Kampagnen, an die unseligen Fake-News-Debatten und an die Verbreitung von sogenannten Social Bots. Das sind algorithmusgesteuerte Meinungsproduzenten, mit denen adressatengenau politischer Einfluss ausgeübt wird.“

 

Gleichwohl ist es in den Augen von Sarcinelli zu alarmistisch, vor einem `Kommunikationsinfarkt“ […] zu warnen und gleich von `Empörungsdemokratie´ oder von einer Entwicklung zur `Erregungsdemokratie´ zu sprechen“, denn solche pauschalen Zeitdiagnosen mögen zwar talkshow-tauglich sein, „doch lenken sie von der großen politischen Aufgabe ab, eine neue Legitimationsarchitektur für die digitale Kommunikationsgesellschaft zu entwerfen.

 

Es geht um Politik im Netz und für das Netz; eine Politik, welche die Grundlagen der `offenen Gesellschaft´ (Popper) schützt und liberale Verfassungsstaatlichkeit nicht gegen, sondern in und mit der digitalen Welt sichert.“

 

 

Zitate aus: Ullrich Sarcinelli: „Der demokratische Staat und die digitale Gesellschaft“, SWR2-Wissen, Sendung vom 17. Februar 2019

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen