Donnerstag, 13. Juni 2013

Jürgen Habermas und der Legitimationsanspruch des Rechtsstaates

Jürgen Habermas (2008)
Jürgen Habermas gehört zu den wenigen deutschsprachigen Denkern der Gegenwart, die auch international die Diskussion über Politik mitbestimmen. Bereits in seinen frühen Werken „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962), „Theorie und Praxis“ (1963) und „Erkenntnis und Interesse“ (1968) wehrte sich Habermas gegen jedweden Versuch, die Vernunft auf eine wertfreie Erkenntnis oder auf technische Machbarkeit zu verkürzen. Gegen die gesellschaftlichen Sachzwänge hält Habermas an der Tradition der Aufklärung fest, dass Vernunft das leitende Prinzip der Philosophie und des menschlichen Handelns sein muss.

Das Ziel einer Gesellschaft besteht demnach darin, die gegenseitigen Ansprüche und Interessen durch rationales Argumentieren im Diskurs zu vermitteln. Diesen Gedanken entwickelt Habermas schließlich in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981), nach der die Vernunft als „kommunikative Rationalität“ im gesellschaftlichen Dasein des Menschen verankert ist. Danach ist Vernunft ein sozialer Prozess, in dem durch Austausch von Argumenten ein Konsens gesucht wird – was nicht nur für Fragen der Wissenschaft gilt, sondern auch für Probleme der Ethik und Politik.

Eines dieser Probleme ist Habermas zufolge die Frage nach dem Legitimitätsanspruch des Rechtsstaates und der damit zusammenhängenden Frage der Zulässigkeit des zivilen Ungehorsams.

Habermas geht zunächst von einem „ungewöhnlich hohen Legitimationsanspruch“ des Rechtsstaates aus: „Er mutet seinen Bürgern zu, die Rechtsordnung nicht aus Furcht vor Strafe, sondern aus freien Stücken anzuerkennen.“ Die Treue zum Gesetz solle sich demnach aus einer einsichtigen und darum freiwilligen Anerkennung des normativen Anspruches auf Gerechtigkeit ergeben, den jede Rechtsordnung erhebt. Diese Anerkennung stütze sich normalerweise darauf, dass ein Gesetz von den verfassungsmäßigen Organen beraten, beschlossen und verabschiedet worden ist.

Der Rechtsstaat: Zwischen Legalität und Legitimität

„Damit erlangt das Gesetz positive Geltung und legt fest, was in seinem Geltungsbereich als legales Verfahren zählt. Das nennen wir Legitimation durch Verfahren.“

Natürlich enthält dieses Vorgehen noch keine Antwort auf die Frage, warum das legitimierende Verfahren selbst, also das Tätigsein der verfassungsmäßigen Institutionen, warum also die Rechtsordnung als Ganzes legitim sei. Die Verfassung eines Staates, so fordert Habermas, muss also „aus Prinzipien gerechtfertigt werden können, deren Gültigkeit nicht davon abhängig sein darf, ob das positive Recht mit ihnen übereinstimmt oder nicht.“

Daher kann ein moderner Rechts- und Verfassungsstaat nur dann von seinen Bürgern Gesetzesgehorsam verlangen, wenn er sich auf anerkennungswürdige Prinzipien stützen kann, die das, was legal ist, auch als legitim rechtfertigen.

Die Unterscheidung von Legalität und Legitimität setzt also die Existenz von Verfassungsprinzipien voraus, die nicht nur gut begründet sind sondern auch Anerkennung verdienen. Dennoch bleibt die Frage bestehen, wie solche Grundnormen, „beispielsweise die Grundrechte, die Garantie der Rechtswege, die Volkssouveränität, die Gleichheit vor dem Gesetz, das Sozialstaatsprinzip usw.“ gerechtfertigt werden können.

Im Anschluss an das insbesondere von Kant propagierte Vernunftrecht folgt auch Habermas dem Argument, dass nur solche Normen und Prinzipien gerechtfertigt sind, „die ein verallgemeinerungsfähiges Interesse zum Ausdruck bringen und daher die wohlerwogene Zustimmung aller Betroffenen finden können.“ Daher wird diese Zustimmung auch an eine „Prozedur vernünftiger Willensbildung“ gebunden. Daraus folgt: „Ein demokratischer Staat kann, weil er seine Legitimität nicht auch schiere Legalität gründet, von seinen Bürgern keinen unbedingten, sondern nur einen qualifizierten Rechtsgehorsam fordern.“

Vor dem Hintergrund dieser Prämissen wird verständlich, dass auch ziviler Ungehorsam „nur unter den Bedingungen eines im Ganzen intakten Rechtsstaates“ auftreten kann. Allerdings dürfe der Regelverletzer seine „plebiszitäre Rolle des unmittelbar souverän auftretenden Staatsbürgers nur in den Grenzen des Appells an die jeweilige Mehrheit übernehmen“, denn „im Unterschied zum Resistance-Kämpfer erkennt er die demokratische Legalität der bestehenden Ordnung an.“

Die Möglichkeit und Rechtsmäßigkeit zivilen Ungehorsam entsteht schlicht aus der Beobachtung, dass auch im demokratischen Rechtsstaat legale Regelungen illegitim sein können – gleichwohl nicht „nach Maßgabe irgendeiner Privatmoral, eines Sonderrechts oder einen privilegierten Zugangs zur Wahrheit“, sondern allein auf der Grundlage „der für alle Bürger einsichtigen moralischen Prinzipien, auf die der moderne Verfassungsstaat die Erwartung gründet, von seinen Bürgern aus freien Stücken anerkannt zu werden.“

Antigone beerdigt ihren Bruder Polyneikes

In Sophokles’ Tragödie Antigone wird diese Argumentation sehr gut sichtbar. Antigone beerdigt ihren Bruder Polyneikes entgegen dem Befehl des Königs Kreon, ihres Onkels. Antigone, die sich in ihrem Akt gewaltfrei einem höheren Recht verpflichtet fühlt, übt hier also eindeutig zivilen Ungehorsam:

Kreon: „Und du brachtest es über dich, dieses Gesetz zu übertreten?"

Antigone: „Nicht Zeus hat mir dies verkünden lassen
noch die Mitbewohnerin bei den unteren Göttern, Dike,
die beide dieses Gesetz unter den Menschen bestimmt haben,
und ich glaubte auch nicht, das so stark seien deine
Erlasse, dass die ungeschriebenen und gültigen
Gesetze der Götter ein Sterblicher übertreten könnte.
Denn nun nicht jetzt und gestern, sondern irgendwie immer
Lebt das, und keiner weiß, wann es erschien."

Habermas geht also auch davon aus, dass die Verwirklichung anspruchsvoller Verfassungsgrundsätze mit universalistischem Gehalt „ein langfristig, historisch keineswegs gradlinig verlaufender, vielmehr von Irrtümern, Widerständen und Niederlagen gekennzeichneter Prozess ist.“ Wer wolle also behaupten, dass diese (Lern-)Prozesse heute abgeschlossen sind?

Auch der Rechtsstaat im Ganzen ist längst noch nicht ein fertiges Gebilde, sondern Habermas sieht ihn „als ein anfälliges, irritierbares Unternehmen, das darauf angelegt ist, unter wechselnden Umständen eine legitime Rechtsordnung, sei es herzustellen oder aufrechtzuerhalten, zu erneuern oder zu erweitern.“

So seien auch die Verfassungsorgane selbst – gerade weil dieses Projekt unabgeschlossen ist – von dieser „Irritierbarkeit“ keineswegs ausgenommen.

Zitate aus: Jürgen Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt 1985 (Suhrkamp)  -  Weitere Literatur: Sophokles: Antigone, Stuttgart 1981 (Reclam), hier: 449–461.

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