Donnerstag, 25. Oktober 2018

Das Lernen und die Selbststeuerung - Teil 4

Fortsetzung vom 18.10.2018


Entscheiden sich Lehrkräfte in ihrer Unterrichtspraxis für Instrumente des selbstständigen Lernens, wie z.B. dem Stationenlernen, so sind sie zunächst davon überzeugt, im Prinzip alles richtig gemacht zu haben. Schließlich haben sie sich für eine schüleraktivierende Unterrichtsmethode entschieden und abwechslungsreiche Arbeitsmaterialien zusammengestellt. Die Kinder haben gewöhnlich „Spaß am Lernen“ und sind „voll bei der Sache“, nur: Was ist in solchen Stunden eigentlich „die Sache“?

Eine glückliche Lehrkraft ...
im Prinzip alles richtig gemacht!
 
Dominiert werden solche Stunde von den Stationen und den Materialien, die bereitliegen. Die Kinder erledigen in selbstgewählter Reihenfolge unterschiedlich viele Arbeitsaufträge und haken sie auf ihren Laufzetteln ab. Aber ob sie tatsächlich die inhaltsbezogenen Kompetenzen erworben haben, die der Bildungsplan vorsieht, kann am Ende der Stunde niemand entscheiden.

Die Kinder halten zwar ausgefüllte Arbeitsblätter und selbst gefertigte „Lern-produkte“ in den Händen, aber haben sie etwas über deren technische Konstruktions-prinzipien verstanden? Haben sie Transferfähigkeiten entwickelt?

Die starke Fokussierung auf Materialien in schülerzentrierten Lernumgebungen führt letztlich zu einer Entwertung der Inhalte. So würden die Materialien die inhaltliche Auseinandersetzung z.B. mit mathematischen oder auch sprachanalytischen Aufgaben ersetzen, indem sie diese in ein System aus Verrichtungen und Konventionen überführen.

Im Zuge dieser allgemeinen Formalisierung und Entfachlichung erscheint individualisierter Unterricht daher tendenziell „bildungsarm“. So würden die eigentlichen Ergebnisse der Arbeit geradezu zur Nebensache werden. Bei der Arbeit mit den Lernmaterialien zeigen Schülerinnen und Schüler häufig sich eine weitreichende und durchgängige Indifferenz gegenüber den Inhalten bzw. Lernergebnissen.

Die Schülerinnen und Schüler würden entweder vergessen, ihre Ergebnisse auf Korrektheit zu prüfen, sie gehen über Fehler hinweg oder dass sie würden entdeckte Fehler schnellstmöglich beseitigen, ohne deren Ursache nachzu-gehen.

Natürlich funktioniert die Arbeit mit Lösungsblättern bei einigen Schülerinnen und Schülern gut, andere werden aber, statt die Aufgaben selbst zu bearbeiten, bei anderen abschauen oder sich mit ihrem Aufgabenblatt zur Tafel begeben, um die richtigen Lösungen zu übertragen.

Weder das selbstständige Lernen noch die Verfahren der Selbstevaluation scheinen in der Praxis so zwanglos zu funktionieren, wie es in den Ratgebern dargestellt wird.

Während früher die Anordnung und Kontrolle von Abläufen im Unterricht in der Verantwortung der Lehrkraft lag, sollen dies nun Kompetenzraster und Portfolios übernehmen. Letztlich wird hier ein Selbstzwang zur kontinuierlichen Reflexion in den Lernprozess eingezogen.

An dieser Stelle zeigt sich besonders auffällig die – zumeist ungewollte - Verbindung der reformpädagogischen Idee der selbstständigen und interessegeleiteten Schülerinnen und Schüler mit dem neoliberalen Modell des sich selbst managenden Subjekts.

Das sich selbst managende Subjekt, oder: Die Scheuklappe wird zur Methode!

Die selbstständige Schüler kann und darf gar nicht mehr anders, als mitzumachen, sich permanent zu evaluieren und an seinem Kompetenzniveau zu arbeiten.

Wer sich diesem Optimierungsgebot nicht unterwirft, hat im schülerzentrierten Unterricht mindestens genauso schlechte Karten, wie im traditionellen Unterricht, wo die Selektionsfunktion bekanntlich durch Fremdevaluation vonseiten der Lehrkraft gesteuert wurde.

Wenn Schülerinnen und Schüler nicht der Norm des selbständig lernenden Schülers entsprechen, wenn sie also die in sie gesteckten Erwartungen nicht erfüllen, wird ihr Verhalten häufig im Sinne von Aufmerksamkeitsdefiziten und einem Mangel an Selbstkontrolle gedeutet und pathologisiert. Dabei wird dann allerdings vollkommen ausgeblendet, dass das selbständige Arbeiten im Unterricht sehr viele Ablenkungsmöglichkeiten biete und deshalb von den Kindern eine besonders hohe Aufmerksamkeit abverlange.

Wer das selbständige Arbeiten also nicht gewohnt ist oder Schwierigkeiten damit hat, sich längere Zeit zu konzentrieren, hat in einem Unterricht, der Selbststeuerung zum Ausgangspunkt macht, das Nachsehen. Das ist natürlich kein Argument für schnöden Frontalunterricht, der vom Lehrervortrag und monotonen Übungsphasen dominiert wird. Aber es zeigt, dass selbstständiges Lernen nicht einfach bei allen Kindern vorausgesetzt werden kann, sondern dass einige mehr und andere weniger Anleitung und Rückmeldung brauchen.

Falsch ist nicht die Idee, dass Kinder im Laufe ihrer Schulzeit in zunehmenden Maße unabhängig werden, sondern die Vorstellung, dass Kinder von Natur selbstständige Lerner sind und sich deshalb die Funktion von Lehrkräften im Bereitstellen von interessanten Lernumgebungen erschöpft. Doch genau dieser Eindruck wird in den Praxisratgebern zuweilen vermittelt.

Bildung vollzieht sich nicht
im Selbststeuerungsmodus ...
In diesem Sinne ist auch die Neudefinition der Lehrkraft als „Moderator“ oder „Coach“ kritisch zu sehen, denn sie wird der Verantwortung professioneller Pädagoginnen und Pädagogen nicht gerecht.

Die Schule hat einen Erziehungs- und Bildungsauftrag   und der vollzieht sich eben gerade nicht im Selbststeuerungsmodus. 

Unterricht zu planen und durchzuführen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die Sachkompe-tenz voraussetzt: Die Lehrkraft muss profundes Wissen haben, um die Themen aus dem Bildungsplan zunächst inhaltlich auszugestalten. Danach wählt sie aus, welche Arbeitsformen und Materialen für die Entwicklung der avisierten Kompetenzen geeignet sind. Und schließlich entscheidet sie, wie Ergebnisse sinnvoll gesichert und überprüft werden können.

Nur auf diese Weise läuft schulische Bildung nicht Gefahr, Lernen mit Beschäftigtsein und Kompetenzerwerb mit dem Ausfüllen von Lückentexten zu verwechseln.

Literatur: Nicole Vidal: Selbstgesteuertes Lernen. Ein fragwürdiges pädagogisches Konzept? SWR 2, Wissen, Aula, Sendung vom 30.09.2018


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