Hinter dem Konzept des selbstständigen Lernens
steht die Idee, dass Kinder möglichst früh ihren Lernprozess selber steuern und
strukturieren. Die Lehrkraft arrangiert Lernumgebungen, in denen die Kinder
viele Entscheidungen selber treffen, etwa mit welchen Inhalten sie sich wann
und in welcher Form beschäftigen.
Ein Blick in didaktische Ratgeber für
Lehrkräfte und ein Vergleich mit der Schulpraxis zeigen, dass dieses Konzept
zwar vieles verspricht, aber oft auch an seine Grenzen kommt, so die These von Nicole
Vidal, Professorin für Erziehungswissenschaften an der PH Freiburg in einem
Feature der Reihe „Wissen – Aula“ des SWR 2.
Um den innovativen Charakter der Prinzipien des
selbstständigen Lernens zu betonen, werden diese mit einem sogenannten
„traditionellen“ Verständnis kontrastiert. Die Eigenverantwortung beim Lernen
wird dem lehrergeleiteten Frontalunterricht gegenübergestellt, die
Selbstevaluation der Fremdevaluation durch die Lehrkraft.
In der Praxis sieht das dann so aus, dass die Verantwortung
für die Ziele und die zeitliche Organisation des Lernens in manchen
Konzeptionen vollständig, in anderen teilweise an die Schülerinnen und
Schüler übertragen wird.
Eine kleine selbstgesteuerte Lernerin bei der Arbeit ... |
Streng genommen lehren Lehrer also nicht mehr;
sie führen nicht mehr durch das Unterrichtsgeschehen, machen möglichst wenige
Vorgaben und greifen nicht von sich aus ein. Dementsprechend wird deren Rolle
neu beschrieben und zwar als
„Lernberater“, „Lerncoach“, „Mentor“, „Beobachter“ oder nur als
„Ansprechpartner“
Wenn in den Empfehlungen über Lernziele
gesprochen wird, sind damit primär methodische und soziale Kompetenzen gemeint:
Informationsbeschaffung, -aufarbeitung und -präsentation sind wichtige Fähigkeiten,
die Schüler kooperativ entwickeln sollen. Dazu nutzen sie Materialien und
setzen unterschiedliche Arbeitstechniken ein. Anders formuliert: der Weg – hier
mehr die Anwendung von Methoden als die Auseinandersetzung mit Inhalten – ist das
Ziel.
Das erklärt auch, weshalb das zweite Prinzip – die
Selbstevaluation – in den Praxisempfehlungen so wichtig ist: Die permanente
Dokumentation, Überprüfung, und Reflexion des eigenen Tuns mithilfe von Arbeitsplänen,
Kompetenzrastern, Feedbackbögen oder Portfolios, soll nachvollziehbar machen,
was im Zuge des selbstständigen Lernens eigentlich geschieht: Woran und womit
wurde konkret gearbeitet, was ist das Ergebnis?
Lernen ist lernen ist lernen (frei nach Peter Bichsel ...) |
Meist wird empfohlen, die richtigen Lösungen nach Möglichkeit in das Material einzubauen, sodass die Schülerinnen und Schüler selbst nachsehen können, ob sie eine Aufgabe richtig gelöst oder die passende Antwort gegeben haben.
Parallel dazu wird mit Kompetenzrastern und
Feedbackbögen gearbeitet, mit denen Kinder einschätzen sollen, was sie und ihre
Mitschülerinnen und -schüler bereits wie gut können und woran sie noch
arbeiten müssen.
Die permanente Selbstreflexion wird zum festen
Bestandteil schulischen Alltags. In höheren Klassen sollen Portfolios eine
langfristige Dokumentation und Auswertung des eigenen Lern- und
Entwicklungsprozesses gewährleisten.
Dass solche Systeme ihre Tücken haben, bleibt
auch den Ratgeberautoren nicht verborgen, denn schließlich kommt die Schule am
Ende um eine Leistungsrückmeldung in Form von Noten nicht herum. Deshalb
setzen sie darauf, dass die Schülerinnen und Schüler im Laufe der Zeit durch
die Eigenevaluation und Peer-to-peer-Rückmeldungen zu einer realistischen Einschätzung
ihrer Leistungen gelangen, die
idealerweise dem Lehrerurteil
nahekommt.
Es gibt andere Varianten der Selbstevaluation,
die nicht das Ergebnis, sondern den Arbeitsprozess selbst zum Ausgangspunkt der
Bewertung machen. Dabei geht es darum, beispielsweise mit einem ausgeklügeltem
Punktesystems nicht die „Produkte eines Lernprozesses“ zu bewerten, sondern
„den Prozess selbst“.
Das bedeutet aber am Ende nichts anderes, als dass diejenigen, die nicht nach den Vorgaben gearbeitet haben, ein leeres Punktekonto haben, das in eine schlechte Note umgerechnet wird. Nach wie vor wird also nach „guten“ und „schlechten“ Schülerinnen und Schülern unterschieden, nur dass die Bewertung nun davon abhängt, ob sie sich sozial konform verhalten haben.
Insgesamt kommt die Praxisliteratur zum selbstständigen
Lernen also mit möglichst wenig Theorie aus. Stattdessen möchte sie viel
praktische Orientierung bieten. Selbständiges Lernen wird als natürliche Form
des Lernens gesetzt, theoretisch oder empirisch gestützt wird die Annahme nicht.
Das bedeutet aber am Ende nichts anderes, als dass diejenigen, die nicht nach den Vorgaben gearbeitet haben, ein leeres Punktekonto haben, das in eine schlechte Note umgerechnet wird. Nach wie vor wird also nach „guten“ und „schlechten“ Schülerinnen und Schülern unterschieden, nur dass die Bewertung nun davon abhängt, ob sie sich sozial konform verhalten haben.
Eigenevaluation - Die unerträgliche Seichtigkeit des Scheins ... |
(Fortsetzung folgt)
Literatur: Nicole Vidal: Selbstgesteuertes Lernen. Ein fragwürdiges pädagogisches Konzept? SWR 2, Wissen, Aula, Sendung vom 30.09.2018
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