Donnerstag, 18. Oktober 2018

Das Lernen und die Selbststeuerung - Teil 3

Fortsetzung vom 11.10.2018


Hinter dem Konzept des selbstständigen Lernens steht die Idee, dass Kinder möglichst früh ihren Lernprozess selber steuern und strukturieren. Die Lehrkraft arrangiert Lernumgebungen, in denen die Kinder viele Entscheidungen selber treffen, etwa mit welchen Inhalten sie sich wann und in welcher Form beschäftigen.

Ein Blick in didaktische Ratgeber für Lehrkräfte und ein Vergleich mit der Schulpraxis zeigen, dass dieses Konzept zwar vieles verspricht, aber oft auch an seine Grenzen kommt, so die These von Nicole Vidal, Professorin für Erziehungswissenschaften an der PH Freiburg in einem Feature der Reihe „Wissen – Aula“ des SWR 2.

Um den innovativen Charakter der Prinzipien des selbstständigen Lernens zu betonen, werden diese mit einem sogenannten „traditionellen“ Verständnis kontrastiert. Die Eigenverantwortung beim Lernen wird dem lehrergeleiteten Frontalunterricht gegenübergestellt, die Selbstevaluation der Fremdevaluation durch die Lehrkraft.

In der Praxis sieht das dann so aus, dass die Verantwortung für die Ziele und die zeitliche Organisation des Lernens in manchen Konzeptionen vollständig, in anderen teilweise an die Schülerinnen und Schüler übertragen wird.

Eine kleine selbstgesteuerte Lernerin bei der Arbeit ...
Ein Ratgeber für Lehrkräfte der Sekundarstufe em-pfiehlt hier, dass die Lehrkraft die Lernumge-bung zwar vorbereitet, in dem sie Materialien bereit-stellt, dann jedoch die Schülerinnen und Schüler allein arbeiten lässt. Während die Schülerinnen und Schüler also abwechselnd individuell und kooperativ arbeiten, sei eine „normale“ Unterrichtstätigkeit nicht notwendig. Die Lehrkraft „habe plötzlich Zeit“! Auf Hilfegesuche der Schülerinnen und Schüler soll die Lehrkraft auch gar nicht eingehen, denn  zunächst helfe der Partner, dann die Gruppe und nur wenn nichts davon funktioniere, weil die Schüler in ihrer Entwicklung des selbständigen Lernens noch nicht weit genug fortgeschritten seien, müsse man einschreiten: „Der Lehrer ist lediglich der letzte Ausweg!“

Streng genommen lehren Lehrer also nicht mehr; sie führen nicht mehr durch das Unterrichtsgeschehen, machen möglichst wenige Vorgaben und greifen nicht von sich aus ein. Dementsprechend wird deren Rolle neu beschrieben   und zwar als „Lernberater“, „Lerncoach“, „Mentor“, „Beobachter“ oder nur als „Ansprechpartner“

Wenn in den Empfehlungen über Lernziele gesprochen wird, sind damit primär methodische und soziale Kompetenzen gemeint: Informationsbeschaffung, -aufarbeitung und -präsentation sind wichtige Fähigkeiten, die Schüler kooperativ entwickeln sollen. Dazu nutzen sie Materialien und setzen unterschiedliche Arbeitstechniken ein. Anders formuliert: der Weg – hier mehr die Anwendung von Methoden als die Auseinandersetzung mit Inhalten – ist das Ziel.

Das erklärt auch, weshalb das zweite Prinzip – die Selbstevaluation – in den Praxisempfehlungen so wichtig ist: Die permanente Dokumentation, Überprüfung, und Reflexion des eigenen Tuns mithilfe von Arbeitsplänen, Kompetenzrastern, Feedbackbögen oder Portfolios, soll nachvollziehbar machen, was im Zuge des selbstständigen Lernens eigentlich geschieht: Woran und womit wurde konkret gearbeitet, was ist das Ergebnis?

Lernen ist lernen ist lernen (frei nach Peter Bichsel ...)

Meist wird empfohlen, die richtigen Lösungen nach Möglichkeit in das Material einzubauen, sodass die Schülerinnen und Schüler selbst nachsehen können, ob sie eine Aufgabe richtig gelöst oder die passende Antwort gegeben haben.

Parallel dazu wird mit Kompetenzrastern und Feedbackbögen gearbeitet, mit denen Kinder einschätzen sollen, was sie und ihre Mitschülerinnen und -schüler bereits wie gut können und woran sie noch arbeiten müssen.

Die permanente Selbstreflexion wird zum festen Bestandteil schulischen Alltags. In höheren Klassen sollen Portfolios eine langfristige Dokumentation und Auswertung des eigenen Lern- und Entwicklungsprozesses gewährleisten.

Dass solche Systeme ihre Tücken haben, bleibt auch den Ratgeberautoren nicht verborgen, denn schließlich kommt die Schule am Ende um eine Leistungsrückmeldung in Form von Noten nicht herum. Deshalb setzen sie darauf, dass die Schülerinnen und Schüler im Laufe der Zeit durch die Eigenevaluation und Peer-to-peer-Rückmeldungen zu einer realistischen Einschätzung ihrer Leistungen gelangen, die   idealerweise   dem Lehrerurteil nahekommt.

Es gibt andere Varianten der Selbstevaluation, die nicht das Ergebnis, sondern den Arbeitsprozess selbst zum Ausgangspunkt der Bewertung machen. Dabei geht es darum, beispielsweise mit einem ausgeklügeltem Punktesystems nicht die „Produkte eines Lernprozesses“ zu bewerten, sondern „den Prozess selbst“. 

Das bedeutet aber am Ende nichts anderes, als dass diejenigen, die nicht nach den Vorgaben gearbeitet haben, ein leeres Punktekonto haben, das in eine schlechte Note umgerechnet wird. Nach wie vor wird also nach „guten“ und „schlechten“ Schülerinnen und Schülern unterschieden, nur dass die Bewertung nun davon abhängt, ob sie sich sozial konform verhalten haben.


Eigenevaluation - Die unerträgliche Seichtigkeit des Scheins ...
Insgesamt kommt die Praxisliteratur zum selbstständigen Lernen also mit möglichst wenig Theorie aus. Stattdessen möchte sie viel praktische Orientierung bieten. Selbständiges Lernen wird als natürliche Form des Lernens gesetzt, theoretisch oder empirisch gestützt wird die Annahme nicht.

(Fortsetzung folgt)

Literatur: Nicole Vidal: Selbstgesteuertes Lernen. Ein fragwürdiges pädagogisches Konzept? SWR 2, Wissen, Aula, Sendung vom 30.09.2018

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