Donnerstag, 11. Oktober 2018

Das Lernen und die Selbststeuerung - Teil 2

Fortsetzung vom 04.10.2018

Das von Bildungsmodernisierern so häufig propagierte Konzept des selbstständigen Lernens kann in der Praxis nicht das leisten, was die darauf basierenden Unterrichtsformen und -methoden versprechen, so die zentrale These von Nicole Vidal, Professorin für Erziehungswissenschaften an der PH Freiburg in einem Feature der Reihe „Wissen – Aula“ des SWR 2.

In Ratgebern und Fachzeitschriften für Lehrkräfte finden sich zahlreiche Empfehlungen zur Gestaltung von schülerzentriertem Unterricht. In den Bei-trägen wird anstelle von selbstständigem Lernen auch von „selbstorganisiertem“, „selbstgesteuertem“ oder „selbstreguliertem“ Lernen gesprochen. Das Prinzip ist aber immer dasselbe: Gemeint sind Unterrichtsverfahren, bei denen die Schüleraktivität im Zentrum steht und die Lehrkraft in den Hintergrund tritt.


Lernen früher - Lernen heute

Die Beiträge in diesen Medien sind in der Mehrzahl von Lehrkräften verfasst, hier schreiben also Praktiker für Praktiker. Genau darin liegt aus Sicht der Ratsuchenden ihr Vorteil: Wenn sie wissen wollen, wie eine bestimmte Methode funktioniert, greifen sie zu dieser Art von Literatur, denn dort finden sie konkrete Anleitungen und Tipps.

Das unterscheidet sie von Fachliteratur aus dem Bereich der empirischen Unterrichtsforschung oder der Lehr-Lern-Forschung. Es geht also vorwiegend um „die Praxis“ und die Leser brauchen nicht zu fürchten, dass sie mit umfassenden theoretischen Begründungen für das hier im Fokus stehende didaktische Konzept konfrontiert werden.

Natürlich kommen auch die Praxisratgeber nicht gänzlich ohne Theorie aus. Aber interessanterweise beziehen sie ihre wenigen Theorieanleihen aus popularisierten Darstellungen der Hirnforschung und nicht aus der Erziehungswissenschaft!

Mit Bezug auf „die moderne Hirnforschung“ wird dann argumentiert, dass sich das Gehirn nur für persönlich Bedeutsames interessiere und nur dann lerne, wenn sich der Aufwand subjektiv lohne. Lernumgebungen müssten daher persönliches Interesse wecken, damit sie das Belohnungssystem im Gehirn ansprächen.

Das gelinge am ehesten, wenn inhaltlich ein Anschluss an die Lebenswelt der Schüler hergestellt werde und Unterrichtsmethoden und Materialien aktivierend und möglichst abwechslungsreich seien. Auch um die Funktionsweise des Gedächtnisses zu erläutern oder die Bedeutung von sog. „exekutiver Hirnfunktionen“ im Unterricht zu unterstreichen, werden neuropsychologische Begriffe genutzt.

Selbstständiger Lerner (Idealtypus)
Der Rekurs auf Hirnforschung dient also in erster Linie der Legitima-tion handlungsorientierter und schüleraktivierender Unterrichtsarrangements. 

Damit liegen die Verfasser von Praxisempfehlungen zum selbstständigen Lernen voll und ganz auf der Linie dessen, was in den vergangenen Jahren im pädagogischen Diskurs unisono, wenngleich mit Rekurs auf fragwürdige Quellen aus der Hirnforschung abgeleitet wurde.

Wie sich Lernen vollzieht, wird dadurch freilich nicht erklärt, und auch das Lernen selbstständig verlaufen soll und kann, scheint keiner weiteren Erklärung zu bedürfen. Selbstständiges Lernen wird als natürliche Form des Lernens aufgefasst; schließlich vollziehe es sich in der frühen Kindheit ganz ohne einen Lehrer, der es anleitet   und da funktioniere es hervorragend.

Oberflächlich gesehen, mag das Argument plausibel wirken, denn durch die Naturalisierung des Lernens – „so und nicht anders lernt das Gehirn“ – erübrigen sich Fragen nach der empirischen Fundierung des Konzepts. Lernen vollzieht sich gewissermaßen als anthropologische Konstante von selbst - jetzt geht es nur noch darum, es auch im institutionellen Rahmen der Schule wahrscheinlich zu machen.

Die theoretische Fundierung des selbstständigen Lernens ist also wenig überzeugend. Die in den Praxisratgebern propagierten Gestaltungsprinzipien eines Unterrichts, der selbstständiges Lernen ermöglichen soll, werden allerdings auch nicht wirklich begründet.

Zunächst ist auffällig, dass der Schwerpunkt in den Praxisempfehlungen auf der Darstellung von Methoden liegt, die losgelöst von Fächern und konkreten Inhalten erörtert werden. Grundidee dabei ist, dass man sich mittels methodischer Kompetenzen jeden Inhalt erschließen kann. Der Aufbau von Methodenbewusstsein und Methodenbeherrschung sei die Voraussetzung dafür, dass Schülerinnen und Schüler fachübergreifende Kompetenzen im arbeitsmethodischen, kommunikativen und kooperativen Bereich entwickeln.

Allerdings variieren die Vorstellungen darüber, was eigentlich genau eine Methode ist, erheblich. Häufig sind damit Arbeitstechniken gemeint, z.B. zur Entnahme und Verarbeitung von Informationen aus einem Text. 

In vielen Beiträgen werden hingegen einzelne Unterrichtsmethoden vorgestellt, die unterschiedliche Arbeitsformen ermöglichen. Dazu gehören das bereits erwähnte Stationenlernen oder beispielsweise Gruppenverfahren. Und schließlich werden Formen des selbstorganisierten Unterrichts beschrieben, die von der Arbeit mit Wochenplänen oder in Projekten bis hin zu vollständig geöffneten Unterrichtssettings reichen.

Beispiel für ein vollständig geöffnetes Unterrichtssetting ...

Die Methoden, die selbstständiges Lernen in der Schule ermöglichen sollen, unterscheiden sich also in ihrer Reichweite und Radikalität: Beziehen sie sich auf das Arbeiten in einzelnen Stunden oder auf die gesamte Unterrichts-organisation? Gibt es irgendwelche Themen- oder Zeitvorgaben?

Aber trotz dieser Unterschiede gibt es in allen Empfehlungen zwei Leitprinzipien: Das erste lautet „Eigenverantwortung“ in Bezug auf gesetzte Lernziele, das zweite heißt „Selbstevaluation“ und meint die eigene Beurteilung der Leistung.

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Nicole Vidal: Selbstgesteuertes Lernen. Ein fragwürdiges pädagogisches Konzept? SWR 2, Wissen, Aula, Sendung vom 30.09.2018


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