Donnerstag, 18. Mai 2017

Hans-Georg Gadamer und die Philosophie des Verstehens - Teil 1

„Welt ist auch Horizont. Diese lebendige Erfahrung, die wir alle kennen, die den Blick ins Unendliche gerichtet hält. Und dieses Unendliche weicht mit jeder noch so großen Anstrengung und jeder noch so großen Geschwindigkeit immer nur weiter neuen Horizonten und neuen Horizonten, das heißt, die Welt ist in diesem Sinne für uns ein ganz großer Bereich, in dessen Mitten wir unsere bescheidene Orientierung suchen.“

Hans-Georg Gadamer

Hans-Georg Gadamer gilt als einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts – und das weit über Deutschland hinaus. Seinen weltweiten Ruhm verdankt Gadamer dem unablässigen Ringen mit dem „Phänomen des Verstehens und der rechten Auslegung des Verstandenen“.

„Sich in der Welt verstehen, hatte ich gesagt, das ist eigentlich das Thema. Und das heißt, sich miteinander zu verstehen. Und miteinander sich verstehen, das heißt den Anderen verstehen. Und das ist moralisch, nicht logisch, die schwerste menschliche Aufgabe überhaupt.

Wir müssen lernen zu sehen, dass der Andere eine primäre Grenzsetzung unserer Eigenliebe und unserer Egozentrik ist.“

Das Hören auf den Anderen ist ein Kernpunkt der Gadamerschen „Hermeneutik“. Hören heißt noch nicht zustimmen. Aber der Andere könnte Recht haben. Sich gar nichts sagen zu lassen, bedeutet einen Verzicht auf all die zusätzlichen Erkenntnismöglichkeiten, die in den Fremdperspektiven liegen:

Auf den Anderen hören ...
„Denn wer hört auf den Anderen, hört immer auf jemanden, der seinen Horizont hat. Das ist zwischen Ich und Du dieselbe Sache wie zwischen den Nationen oder zwischen den Kulturkreisen. Überall stehen wir vor diesem gleichen Problem. Wir müssen lernen, dass gerade im Hören auf den Anderen der eigentliche Weg sich öffnet, in dem wir Solidaritäten finden.“

1990 hält Gadamer im Alter von 90 Jahren an der Universität Heidelberg einen Vortrag über „Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt“. Energisch vertritt er seine Philosophie der Verständigung mit anderen, die nur im Gespräch erfolgen kann:

„Sprache gehört in die Praxis, in das menschliche Miteinander und Zueinander. Und die Hermeneutik sagt, die Sprache gehört in das Gespräch. Das heißt, die Sprache ist überhaupt nur, was sie ist, wenn sie Verständigungsversuche, wenn sie Austausch und Rede und Gegenrede erfährt, wenn sie Antwort und Frage ist.“

Der aktuelle Bezug ist kaum zu überhören, denn wenn die kulturelle Diversität bedroht ist, hört ja die Möglichkeit auf, sich von unterschiedlichen Perspektiven aus zu verständigen. Das ist sicher heute eine aktuelle Frage. Erstens, wie wir uns mit anderen verständigen können sollen, aber auch wie wir sicherstellen, dass diese Diversität, die für hermeneutische Vielfalt steht, nicht plötzlich aufhört.

Hans Georg Gadamer gilt als Begründer der modernen philosophischen Hermeneutik. Hermeneutik ist eine Art Hilfswissenschaft der Theologie, Philologie und Rechtsprechung. Und ungefähr so alt wie diese Disziplinen selbst. Der Sprachwissenschaftler, der Homer verstehen will, der Pfarrer, der in seiner Predigt die Heilige Schrift interpretiert, der Richter, der ein allgemeines Gesetz auf einen einzelnen Fall anwendet – sie alle benötigen für ihre jeweilige Berufspraxis eine Lehre des Interpretierens und Deutens. Das altgriechische Verb „hermeneuein“ bedeutet zunächst nur „auslegen, dolmetschen, aussagen, verkünden“.

Das, was Gadamer nun versucht, ist, dass er Hermeneutik als philosophische Hermeneutik verstehen möchte. Das heißt, er möchte die Hermeneutik herausbringen aus dieser Rolle, nur Hilfestellung zu sein für bestimmte Fächer und Fachaufgaben. Nämlich Hermeneutik als etwas zu verstehen, das etwas berührt, was grundlegend ist. Und das hat natürlich zu tun mit Sprache, weil das Verstehen für Gadamer als dieses grundlegende, zu unserem Leben als Menschen dazugehörende Verstehen immer schon ein sprachliches Verstehen ist. Das ist ein Verstehen, das über Sprache läuft.

Philosophische Hermeneutik
Was heißt philosophische Hermeneutik?, diese Frage musste sich Gadamer auch von seinem Verleger gefallen lassen, als er ihm 1959 ein umfangreiches Manuskript mit dem Titel „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“ vorlegte. Der Verleger bat ihn, einen verständlicheren Titel zu suchen. Gadamer beherzigte den Rat und nannte sein Werk nun „Wahrheit und Methode“ mit dem Untertitel „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“.

Das Buch verkaufte sich erstaunlich gut, letztlich wohl deshalb, weil es ein Buch von einem Philosophen war, das eine Grundlage geben wollte für die Geisteswissenschaften, für jene Wissenschaften, die etwas mit einem Verstehen zu tun haben, von Texten, von Gesellschaft, von Kunst – also für das, was dann seit dem 19. Jahrhundert im Deutschen eben die Geisteswissenschaften waren.

In Interviews und Schriften hat Gadamer zwar bereitwillig über seinen intellektuellen Werdegang, seine akademische Lehrtätigkeit und auch über seine geschichtlichen Erfahrungen gesprochen. Nur übertriebene Ichbezogenheit, den modernen Subjektivismus mit seinem Genie- und Personenkult mochte er nicht. Entsprechend zurückhaltend äußerte er sich kaum über sein Privatleben. Vielleicht aus der Einsicht, die er in einer berühmten Passage aus „Wahrheit und Methode“ formuliert hat:

„In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens.“

Unsere Kultur und Denkweise, unsere Sprache und Begriffe, die traditionellen Lebensüblichkeiten der Gesellschaft bilden nach Gadamer einen Wirkungszusammenhang, in dem wir immer schon leben, bevor wir über Geschichte auch nur nachdenken können.

Wir können der Geschichte also gar nicht entkommen. Wir stehen immer in der Geschichte. Es gibt eine grundsätzliche Zugehörigkeit, die für uns als geschichtliche Wesen kennzeichnend ist.

Es gibt ständig einen geschichtlichen Einfluss. Für den geschichtlichen Einfluss, für den Einfluss der Vergangenheit ist kennzeichnend, dass die Vergangenheit ja schon festgelegt ist. Das heißt der Einfluss hat einen besonderen Charakter. Es gibt schon etwas Unumstößliches, das auf uns wirkt.

(Fortsetzung folgt)



Zitate aus: Günter Bachmann:: Hans-Georg Gadamer – Philosophie des Verstehens, , SRW2 Wissen, Sendung  vom 10. März 2017

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