„Welt ist auch Horizont. Diese lebendige Erfahrung, die wir
alle kennen, die den Blick ins Unendliche gerichtet hält. Und dieses Unendliche
weicht mit jeder noch so großen Anstrengung und jeder noch so großen
Geschwindigkeit immer nur weiter neuen Horizonten und neuen Horizonten, das
heißt, die Welt ist in diesem Sinne für uns ein ganz großer Bereich, in dessen
Mitten wir unsere bescheidene Orientierung suchen.“
Hans-Georg Gadamer |
Hans-Georg Gadamer gilt als einer der wichtigsten
Philosophen des 20. Jahrhunderts – und das weit über Deutschland hinaus. Seinen
weltweiten Ruhm verdankt Gadamer dem unablässigen Ringen mit dem „Phänomen des
Verstehens und der rechten Auslegung des Verstandenen“.
„Sich in der Welt verstehen, hatte ich gesagt, das ist
eigentlich das Thema. Und das heißt, sich miteinander zu verstehen. Und
miteinander sich verstehen, das heißt den Anderen verstehen. Und das ist
moralisch, nicht logisch, die schwerste menschliche Aufgabe überhaupt.
Wir müssen lernen zu sehen, dass der Andere eine primäre
Grenzsetzung unserer Eigenliebe und unserer Egozentrik ist.“
Das Hören auf den Anderen ist ein Kernpunkt der Gadamerschen
„Hermeneutik“. Hören heißt noch nicht zustimmen. Aber der Andere könnte Recht
haben. Sich gar nichts sagen zu lassen, bedeutet einen Verzicht auf all die
zusätzlichen Erkenntnismöglichkeiten, die in den Fremdperspektiven liegen:
Auf den Anderen hören ... |
„Denn wer hört auf den Anderen, hört immer auf jemanden, der
seinen Horizont hat. Das ist zwischen Ich und Du dieselbe Sache wie zwischen
den Nationen oder zwischen den Kulturkreisen. Überall stehen wir vor diesem
gleichen Problem. Wir müssen lernen, dass gerade im Hören auf den Anderen der
eigentliche Weg sich öffnet, in dem wir Solidaritäten finden.“
1990 hält Gadamer im Alter von 90 Jahren an der Universität
Heidelberg einen Vortrag über „Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der
Welt“. Energisch vertritt er seine Philosophie der Verständigung mit anderen,
die nur im Gespräch erfolgen kann:
„Sprache gehört in die Praxis, in das menschliche
Miteinander und Zueinander. Und die Hermeneutik sagt, die Sprache gehört in das
Gespräch. Das heißt, die Sprache ist überhaupt nur, was sie ist, wenn sie
Verständigungsversuche, wenn sie Austausch und Rede und Gegenrede erfährt, wenn
sie Antwort und Frage ist.“
Der aktuelle Bezug ist kaum zu überhören, denn wenn die
kulturelle Diversität bedroht ist, hört ja die Möglichkeit auf, sich von
unterschiedlichen Perspektiven aus zu verständigen. Das ist sicher heute eine
aktuelle Frage. Erstens, wie wir uns mit anderen verständigen können sollen,
aber auch wie wir sicherstellen, dass diese Diversität, die für hermeneutische
Vielfalt steht, nicht plötzlich aufhört.
Hans Georg Gadamer gilt als Begründer der modernen philosophischen
Hermeneutik. Hermeneutik ist eine Art Hilfswissenschaft der Theologie,
Philologie und Rechtsprechung. Und ungefähr so alt wie diese Disziplinen
selbst. Der Sprachwissenschaftler, der Homer verstehen will, der Pfarrer, der
in seiner Predigt die Heilige Schrift interpretiert, der Richter, der ein
allgemeines Gesetz auf einen einzelnen Fall anwendet – sie alle benötigen für
ihre jeweilige Berufspraxis eine Lehre des Interpretierens und Deutens. Das
altgriechische Verb „hermeneuein“ bedeutet zunächst nur „auslegen, dolmetschen,
aussagen, verkünden“.
Das, was Gadamer nun versucht, ist, dass er Hermeneutik als
philosophische Hermeneutik verstehen möchte. Das heißt, er möchte die
Hermeneutik herausbringen aus dieser Rolle, nur Hilfestellung zu sein für
bestimmte Fächer und Fachaufgaben. Nämlich Hermeneutik als etwas zu verstehen,
das etwas berührt, was grundlegend ist. Und das hat natürlich zu tun mit
Sprache, weil das Verstehen für Gadamer als dieses grundlegende, zu unserem
Leben als Menschen dazugehörende Verstehen immer schon ein sprachliches
Verstehen ist. Das ist ein Verstehen, das über Sprache läuft.
Philosophische Hermeneutik |
Was heißt philosophische Hermeneutik?, diese Frage musste
sich Gadamer auch von seinem Verleger gefallen lassen, als er ihm 1959 ein
umfangreiches Manuskript mit dem Titel „Grundzüge einer philosophischen
Hermeneutik“ vorlegte. Der Verleger bat ihn, einen verständlicheren Titel zu
suchen. Gadamer beherzigte den Rat und nannte sein Werk nun „Wahrheit und
Methode“ mit dem Untertitel „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“.
Das Buch verkaufte sich erstaunlich gut, letztlich wohl
deshalb, weil es ein Buch von einem Philosophen war, das eine Grundlage geben
wollte für die Geisteswissenschaften, für jene Wissenschaften, die etwas mit
einem Verstehen zu tun haben, von Texten, von Gesellschaft, von Kunst – also
für das, was dann seit dem 19. Jahrhundert im Deutschen eben die
Geisteswissenschaften waren.
In Interviews und Schriften hat Gadamer zwar bereitwillig
über seinen intellektuellen Werdegang, seine akademische Lehrtätigkeit und auch
über seine geschichtlichen Erfahrungen gesprochen. Nur übertriebene
Ichbezogenheit, den modernen Subjektivismus mit seinem Genie- und Personenkult
mochte er nicht. Entsprechend zurückhaltend äußerte er sich kaum über sein
Privatleben. Vielleicht aus der Einsicht, die er in einer berühmten Passage aus
„Wahrheit und Methode“ formuliert hat:
„In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir
gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen,
verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und
Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die
Selbstbesinnung ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen
Lebens.“
Unsere Kultur und Denkweise, unsere Sprache und Begriffe,
die traditionellen Lebensüblichkeiten der Gesellschaft bilden nach Gadamer einen
Wirkungszusammenhang, in dem wir immer schon leben, bevor wir über Geschichte
auch nur nachdenken können.
Wir können der Geschichte also gar nicht entkommen. Wir
stehen immer in der Geschichte. Es gibt eine grundsätzliche Zugehörigkeit, die
für uns als geschichtliche Wesen kennzeichnend ist.
Es gibt ständig einen geschichtlichen Einfluss. Für den geschichtlichen
Einfluss, für den Einfluss der Vergangenheit ist kennzeichnend, dass die
Vergangenheit ja schon festgelegt ist. Das heißt der Einfluss hat einen
besonderen Charakter. Es gibt schon etwas Unumstößliches, das auf uns wirkt.
(Fortsetzung folgt)
Zitate aus: Günter Bachmann:: Hans-Georg Gadamer
– Philosophie des Verstehens, , SRW2 Wissen, Sendung vom 10. März 2017
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