Giovanni Francesco Poggio Bracciolini (1380 -1459), war einer der
wichtigsten Humanisten
der italienischen
Renaissance.
Nach seinem Studium der Notarkunst in Florenz, wozu auch Unterricht in Latein
und Rhetorik gehörte, kam er in Kontakt mit dem florentinischen Kanzler Coluccio
Salutati, der sein Talent erkannte und ihn förderte. So erhielt Poggio Zugang
zu dem Kreis von Humanisten, der sich in Florenz um Coluccio scharte.
Im Herbst 1403 ging er nach Rom, wo er zunächst als
Privatsekretär des Bischofs von Bari Landolfo Maramoldo arbeitete, bald jedoch
auf einen gutbezahlten Posten eines Schreibers der apostolischen Kurie
wechselte, eine Position, die er bis 1415 ausübte.
Nach der Absetzung seines Dienstherrn, des Papstes Johannes
XIII., nutzte Poggio die Zeit, um in Bibliotheken und Klöstern Deutschlands
und Frankreichs nach antiken Texten zu suchen, deren Existenz den frühen Humanisten
zwar bekannt war, die aber in Italien nicht mehr auffindbar waren. So entdeckte
er lange verschollene Texte von Cicero, Tacitus, Quintilian, Vegetius, Marcus
Manilius, Ammianus Marcellinus, Vitruv, Statius, Lukrez und Petronius. Zudem
spezialisierte sich Poggio darauf, einzelne Fragmente anhand des Schreibstils
einem bestimmt Autor zuzuordnen und verlorene Werke so zu rekonstruieren.
Überaus bedeutend ist Poggios Beitrag zur Geschichte der lateinischen
Schrift, namentlich der humanistischen Schrift, als deren eigentlicher Erfinder
er gilt.
Von Poggio
geschriebener Text
|
Schließlich schrieb Poggio auch eigene Werke, wie viele
Humanisten seiner Zeit ausschließlich auf Latein. Eines dieser Werke trägt den
Titel „Contra hypocrites“ (Gegen die Scheinheiligkeit). Poggio, dem es in
dieser Hinsicht nicht an praktischen Erfahrungen fehlte, entwirft hier ein
Gespräch über die Frage, warum Kirchenmänner und insbesondere Mönche zur
Scheinheiligkeit neigen. Gibt es, fragt Poggio, eine Beziehung zwischen
religiöser Berufung und Schwindelei? Warum sammeln sich an Orten wie der Kurie
Scheinheilige in ganzen Schwärmen? Warum streben vor allem Mönche, die eigentlich
bekannt sein sollten ostentative Frömmigkeit und für asketische Blässe, so
fieberhaft nach Pfründen, Immunitäten, Gefälligkeiten, Privilegien und
Machtstellungen.
Scheinheiligkeit: Bruder Fettwanst |
„Poggio lässt sie alle aufmarschieren: die charismatischen
Prediger, die es verstehen, aus fürchterlichen, mit sonorer Stimme
ausgestoßenen Drohungen mit Höllenfeuer und Verdammnis klingende Münze zu
schlagen; die Franziskanerobservanten, die der Ordensregel der Franziskaner
strengstens zu folgen vorgeben, sich aber, was ihre Moral angeht, kaum von
Räuberbanden unterscheiden lassen; die Bettelbrüder mit ihren kleinen Beuteln,
langem Haar und noch längeren Bärten und ihrer betrügerischen Prätention, in heiliger
Armut zu leben; die Beichtväter, die in den Geheimnissen aller Männer und
Frauen herumstöbern.“
Warum also kann man Scheinheiligkeit bei diesen „Musterbildern
übertriebener Religiosität“ so vortrefflich antreffen? „Die Antwort: Weil ihre
augenfällig bekundete Frömmigkeit, Demut und Weltverachtung tatsächlich nur
Masken sind für Gier, Faulheit und Ehrgeiz.“ Natürlich gebe es, so Poggio, gute
und ernsthafte Mönche, doch das seien nur wenige, sehr, sehr wenige, und man
könne zuschauen, wie auch sie in die fatale Verderbnis gezogen würden, die in
ihre Berufung geradezu eingebaut sei.
Scheinheiligkeit: Abt und Nonne |
Wie nun könne man Scheinheilige entlarven? Je geschickter
sie sich anstellen bei ihrer Heuchelei, desto schwieriger lassen sich Betrüger
von wirklich heiligen Gestalten unterscheiden. „Misstrauisch müsse man dem
begegnen, der eine übertriebene Reinheit des Lebens zeige; barfuss durch die
Straßen ziehe, mit schmutzigem Gesicht und schäbigen Kleidern; seine
Geringschätzung des Geldes vor allen demonstriere; Frauen an sich binde, damit
sie seine Wünsche erfüllten; außerhalb seines Klosters auf der Suche nach Ruhm
und Ehre hin und her renne; viel Aufhebens mache von seinem Fasten und anderen
asketischen Praktiken; andere dazu bringt, ihm Dinge für den eigenen Nutzen zu
besorgen; sich weigere, anzuerkennen oder zurückzugeben, was man ihm im
Vertrauen gab.“
Baldassare Cossa, der sich später Papst Johannes XXIII. nannte - ein Meister der Intrige. |
„Contra hypocrites“ stammt nicht von einem Polemiker der
Reformationszeit, sondern ist ein Jahrhundert früher geschrieben worden, von
einem Beamten, der in der Kurie, dem Zentrum der katholischen
Kirchenhierarchie, gelebt und gearbeitet hat. „Die Kirche, die so heftig auf
alles reagieren konnte, was sie als Herausforderung von Lehre und Institution
betrachtete – und dies auch tat –, hat, wie das Schicksal dieses Textes zeigt,
äußerst scharf formulierte Kritik aus den eigenen Reihen toleriert, selbst wenn
sie von weltlichen Gestalten wie Poggio kam.“
Ein Argument allerdings hätte Poggio äußerst gefährlich
werden können. An einer Stelle des Gespräches stellt er nämlich einen Zusammenhang
her zwischen der theatralischen Prätention von Heiligkeit in der katholischen
Kirche und der betrügerischen Nutzung von Orakeln in der heidnischen Religion,
„beides, so lässt sich dem Text entnehmen, sind Mittel, das gemeine Volk
einzuschüchtern und zu manipulieren.“
Doch dieser subversive Hinweis – den Machiavelli ein
Jahrhundert später zur nüchternen Analyse des politischen Gebrauchs jeglichen
religiösen Glaubens weitertreiben sollte – wird bei Poggio nie explizit
formuliert, sein Text endet schließlich nur in einer Phantasie darüber, wie
sich die Scheinheiligen ihrer schützenden Mäntelchen entkleiden ließen. Zwar
werden die Scheinheiligen alle bloßgestellt, auch definitiv bestraft, doch erst
im nächsten Leben; erst dann wird ans Licht kommen, wer sie wirklich sind. Man
spürt die Wut, die unter der Oberfläche seiner Schwänke und Possen brodelt,
aber dahinter steht Verzweiflung – und sie entspringt der Unmöglichkeit,
Missstände durch Reformen zu beheben, dem beständigen Verlust all dessen, das
zu bewahren wert wäre; sie gilt der Verdorbenheit der conditio humana.
Zitate aus: Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie
die Renaissance begann, München 2012 (Siedler)
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