Donnerstag, 1. Oktober 2015

Poggio Bracciolini und die Scheinheiligkeit

Giovanni Francesco Poggio Bracciolini (1380 -1459), war einer der wichtigsten Humanisten der italienischen Renaissance. Nach seinem Studium der Notarkunst in Florenz, wozu auch Unterricht in Latein und Rhetorik gehörte, kam er in Kontakt mit dem florentinischen Kanzler Coluccio Salutati, der sein Talent erkannte und ihn förderte. So erhielt Poggio Zugang zu dem Kreis von Humanisten, der sich in Florenz um Coluccio scharte.

Im Herbst 1403 ging er nach Rom, wo er zunächst als Privatsekretär des Bischofs von Bari Landolfo Maramoldo arbeitete, bald jedoch auf einen gutbezahlten Posten eines Schreibers der apostolischen Kurie wechselte, eine Position, die er bis 1415 ausübte.

Nach der Absetzung seines Dienstherrn, des Papstes Johannes XIII., nutzte Poggio die Zeit, um in Bibliotheken und Klöstern Deutschlands und Frankreichs nach antiken Texten zu suchen, deren Existenz den frühen Humanisten zwar bekannt war, die aber in Italien nicht mehr auffindbar waren. So entdeckte er lange verschollene Texte von Cicero, Tacitus, Quintilian, Vegetius, Marcus Manilius, Ammianus Marcellinus, Vitruv, Statius, Lukrez und Petronius. Zudem spezialisierte sich Poggio darauf, einzelne Fragmente anhand des Schreibstils einem bestimmt Autor zuzuordnen und verlorene Werke so zu rekonstruieren.

Überaus bedeutend ist Poggios Beitrag zur Geschichte der lateinischen Schrift, namentlich der humanistischen Schrift, als deren eigentlicher Erfinder er gilt.

Von Poggio geschriebener Text 

Schließlich schrieb Poggio auch eigene Werke, wie viele Humanisten seiner Zeit ausschließlich auf Latein. Eines dieser Werke trägt den Titel „Contra hypocrites“ (Gegen die Scheinheiligkeit). Poggio, dem es in dieser Hinsicht nicht an praktischen Erfahrungen fehlte, entwirft hier ein Gespräch über die Frage, warum Kirchenmänner und insbesondere Mönche zur Scheinheiligkeit neigen. Gibt es, fragt Poggio, eine Beziehung zwischen religiöser Berufung und Schwindelei? Warum sammeln sich an Orten wie der Kurie Scheinheilige in ganzen Schwärmen? Warum streben vor allem Mönche, die eigentlich bekannt sein sollten ostentative Frömmigkeit und für asketische Blässe, so fieberhaft nach Pfründen, Immunitäten, Gefälligkeiten, Privilegien und Machtstellungen.

Scheinheiligkeit: Bruder Fettwanst
„Poggio lässt sie alle aufmarschieren: die charismatischen Prediger, die es verstehen, aus fürchterlichen, mit sonorer Stimme ausgestoßenen Drohungen mit Höllenfeuer und Verdammnis klingende Münze zu schlagen; die Franziskanerobservanten, die der Ordensregel der Franziskaner strengstens zu folgen vorgeben, sich aber, was ihre Moral angeht, kaum von Räuberbanden unterscheiden lassen; die Bettelbrüder mit ihren kleinen Beuteln, langem Haar und noch längeren Bärten und ihrer betrügerischen Prätention, in heiliger Armut zu leben; die Beichtväter, die in den Geheimnissen aller Männer und Frauen herumstöbern.“

Warum also kann man Scheinheiligkeit bei diesen „Musterbildern übertriebener Religiosität“ so vortrefflich antreffen? „Die Antwort: Weil ihre augenfällig bekundete Frömmigkeit, Demut und Weltverachtung tatsächlich nur Masken sind für Gier, Faulheit und Ehrgeiz.“ Natürlich gebe es, so Poggio, gute und ernsthafte Mönche, doch das seien nur wenige, sehr, sehr wenige, und man könne zuschauen, wie auch sie in die fatale Verderbnis gezogen würden, die in ihre Berufung geradezu eingebaut sei.

Scheinheiligkeit: Abt und Nonne
Wie nun könne man Scheinheilige entlarven? Je geschickter sie sich anstellen bei ihrer Heuchelei, desto schwieriger lassen sich Betrüger von wirklich heiligen Gestalten unterscheiden. „Misstrauisch müsse man dem begegnen, der eine übertriebene Reinheit des Lebens zeige; barfuss durch die Straßen ziehe, mit schmutzigem Gesicht und schäbigen Kleidern; seine Geringschätzung des Geldes vor allen demonstriere; Frauen an sich binde, damit sie seine Wünsche erfüllten; außerhalb seines Klosters auf der Suche nach Ruhm und Ehre hin und her renne; viel Aufhebens mache von seinem Fasten und anderen asketischen Praktiken; andere dazu bringt, ihm Dinge für den eigenen Nutzen zu besorgen; sich weigere, anzuerkennen oder zurückzugeben, was man ihm im Vertrauen gab.“

Baldassare Cossa, der sich später
Papst Johannes XXIII. nannte
- ein Meister der Intrige.
„Contra hypocrites“ stammt nicht von einem Polemiker der Reformationszeit, sondern ist ein Jahrhundert früher geschrieben worden, von einem Beamten, der in der Kurie, dem Zentrum der katholischen Kirchenhierarchie, gelebt und gearbeitet hat. „Die Kirche, die so heftig auf alles reagieren konnte, was sie als Herausforderung von Lehre und Institution betrachtete – und dies auch tat –, hat, wie das Schicksal dieses Textes zeigt, äußerst scharf formulierte Kritik aus den eigenen Reihen toleriert, selbst wenn sie von weltlichen Gestalten wie Poggio kam.“

Ein Argument allerdings hätte Poggio äußerst gefährlich werden können. An einer Stelle des Gespräches stellt er nämlich einen Zusammenhang her zwischen der theatralischen Prätention von Heiligkeit in der katholischen Kirche und der betrügerischen Nutzung von Orakeln in der heidnischen Religion, „beides, so lässt sich dem Text entnehmen, sind Mittel, das gemeine Volk einzuschüchtern und zu manipulieren.“

Doch dieser subversive Hinweis – den Machiavelli ein Jahrhundert später zur nüchternen Analyse des politischen Gebrauchs jeglichen religiösen Glaubens weitertreiben sollte – wird bei Poggio nie explizit formuliert, sein Text endet schließlich nur in einer Phantasie darüber, wie sich die Scheinheiligen ihrer schützenden Mäntelchen entkleiden ließen. Zwar werden die Scheinheiligen alle bloßgestellt, auch definitiv bestraft, doch erst im nächsten Leben; erst dann wird ans Licht kommen, wer sie wirklich sind. Man spürt die Wut, die unter der Oberfläche seiner Schwänke und Possen brodelt, aber dahinter steht Verzweiflung – und sie entspringt der Unmöglichkeit, Missstände durch Reformen zu beheben, dem beständigen Verlust all dessen, das zu bewahren wert wäre; sie gilt der Verdorbenheit der conditio humana.


Zitate aus: Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann, München 2012 (Siedler)

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