Bestimmung des Gegenstandes
Als der preußische Militärstaat, wie er von Friedrich Wilhelm I. geschaffen und Friedrich II. auf Expansionskurs gebracht wurde, nach den Niederlagen von Jena und Auerstedt sowie der französischen Besetzung Berlins 1806 vorerst abgewirtschaftet hatte, befand sich Wilhelm von Humboldt als preußischer Gesandter in Rom. Im Jahre 1808 kehrte von Humboldt schließlich nach Berlin zurück. Ihm war im Zuge der vom Staatsminister Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein begonnenen Preußischen Reformen die Leitung der „Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts“ übertragen worden.
Napoleons Einzug in Berlin (Gemälde von Charles Meynier (1763-1832) |
In seiner ein Jahr zuvor verfassten Nassauer Denkschrift hatte von Stein
das Reformprogramm für den preußischen Staat entworfen. Dabei spielten nicht
nur funktionelle Erwägungen für einen Wiederaufbau Preußens eine Rolle, sondern
in erster Linie politisch-pädagogische Ideen. Hauptziel der Reformen war die „Belebung
des Gemeingeistes und des Bürgersinns, die Benutzung der schlafenden und falsch
geleiteten Kräfte und zerstreut liegenden Kenntnisse, der Einklang zwischen dem
Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen und denen der
Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit
und Nationalehre“ (Nassauer Erklärung, 1807).
Für von Stein war Wilhelm von Humboldt ein mehr als geeigneter
Mitstreiter, wenn es darum ging, dem erwachenden Freiheitsbewusstsein der
Bürger Raum zu geben, Eigenverantwortung zu fördern und auf diese Weise dem
Staat neue Perspektiven zu erschließen.
Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) |
Es komme daher darauf an, den Einflussbereich des Staates
und seiner Institutionen zu definieren, und zwar im Sinne einer Festlegung der Grenzen
seiner Wirksamkeit. Gegen einen umfassenden Ordnungsanspruch des Staates
verteidigt Humboldt also das Anliegen, dass jeder Einzelne ein freies und
selbstbestimmtes Leben führen kann. Deshalb ist es durchaus gerechtfertigt,
Humboldt als den Stammvater des deutschen Liberalismus zu bezeichnen.
Humboldt geht von der Frage aus, „zu welchem Zweck die ganze
Staatseinrichtung hinarbeiten und welche Schranken sie ihrer Wirksamkeit setzen
soll?“. Ihm ginge es hier zum einen um die Bestimmung der Bereiche, in denen
die Regierung ihre Tätigkeit ausüben soll und darf, zum anderen um die
Bereiche, in denen sie ihre Tätigkeit einschränken muss: „Dies letztere,
welches eigentlich in das Privatleben der Bürger eingreift und das Maß ihrer
freien, ungehemmten Wirksamkeit bestimmt, ist in der Tat das wahre letzte Ziel“
der Schrift.
Schließlich beruht „das Glück eines rüstigen, kraftvollen
Menschen“ darauf, „nach einem Ziele zu streben, und dies Ziel mit Aufwand
physischer und moralischer Kraft [zu] erringen.“ Freiheit sei in diesem Zusammenhang
„nur die Möglichkeit einer unbestimmten mannigfaltigen Tätigkeit“, die
„Sehnsucht nach Freiheit“ aber entstehe „nur zu oft erst aus dem Gefühle des
Mangels derselben.“
Daher müsse die Festlegung der Grenzen der Wirksamkeit des
Staates auch „auf höhere Freiheit der Kräfte und größere Mannigfaltigkeit der
Situationen führen.“ Dies würde einerseits „einen gleich hohen Grad der
Bildung“ und „eine größere Stärke und einen mannigfaltigen Reichtum der
handelnden Individuen“ erfordern, andererseits auch dazu führen, dass das
„Bedürfnis, gleichsam in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln“ abnehme.
Das Gegenteil von Freiheit - Handeln in einförmigen Massen |
Humboldt erkennt bei einem Blick in die Geschichte der
Staatsverfassungen, dass „die Freiheit des Privatlebens immer in eben dem Grade
steigt, in welchem die öffentliche sinkt.“
Den Unterschied zwischen den „älteren und neueren Staaten“
sieht Humboldt darin, dass „die Alten“ für die Kraft und Bildung des Menschen
als Menschen sorgten, „die Neueren“ dagegen „für seinen Wohlstand, seine Habe
und seine Erwerbstätigkeit“. „Die Alten suchten Tugend, die Neueren Glückseligkeit.
Daher waren die Einschränkungen der Freiheit in den älteren Staaten auf der
einen Seite drückender und gefährlicher. Denn sie griffen geradezu an, was des
Menschen eigentümliches Wesen ausmacht, sein inneres Dasein.“ Auf der anderen
Seite aber „erhielten und erhöhten aber auch alle diese Staatseinrichtungen bei
den Alten die tätige Kraft des Menschen.“
Humboldt beobachtet nun, dass zu seiner Zeit die
Einflussnahme der Staaten auf beides zielt, „auf das, […] was der Mensch
besitzt“ und „auf das, was er ist.“ Auf diese Weise würde die „physische,
intellektuelle und moralische Kraft“ und die „Energie, welche gleichsam die
Quelle jeder tätigen Tugend, und die notwendige Bedingung zu einer höheren und
vielseitigeren Ausbildung“ ist, unterdrückt.
Demgegenüber stehe das Bild des Menschen in der griechischen und römischen Antike, an der vor allem "die Größe, welche immer mit dem Leben eines Menschen einhergehe, die Blüte der Phantasie, die Tiefe des Geistes, die Stärke des Willens, die Einheit des ganzen Wesens, welche allein dem Menschen wahren Wert gibt. Der Mensch und zwar seine Kraft und Bildung war es, welche jede Tätigkeit rege macht."
Zwischen Tugend und Vergngügen: Herkules am Scheideweg (Gemälde von Annibale Carracci, 1596) |
Schließlich trifft Humboldt die Unterscheidung, die den weiteren Fortgang seiner Abhandlung bestimmt: Es sei unter Staatsrechtlern stets darüber gestritten worden, „ob der Staat allein Sicherheit, oder überhaupt das ganze physische und moralische Wohl der Nation beabsichtigen müsse."
Eine „Sorgfalt für die Freiheit des Privatlebens“ findet
sich vorwiegend bei denen, die sich für die Sicherheit als vornehmliche Aufgabe
des Staates aussprechen, während die Idee, „dass der Staat mehr, als allein
Sicherheit gewähren könne“ in den meisten Fällen zu einem „Missbrauch in der
Beschränkung der Freiheit“ geführt habe.
Ein Blick in die „Geschichte der Verordnungen der meisten
Staaten“ macht dies deutlich: „Ackerbau, Handwerke, Industrie aller Art,
Handel, Künste und Wissenschaft selbst, alles erhält Leben und Lenkung vom
Staat.“
Diesen Anspruch des Staates zu überprüfen ist die Aufgabe,
die sich Humboldt mit dieser Abhandlung gestellt hat.
Zitate
aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit
des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv, hier: Kapitel I und II - Weitere
Literatur: Heinrich
Friedrich Karl vom und zum Stein: „Über diezweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial-, Finanz- und Polizei-Behörden in der preußischen Monarchie“ (Nassauer Denkschrift), Nassau 1807.
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