Der Begriff «Solidarität» ist zu einem
mächtigen und besonders effektiven Euphemismus im Wettbewerb der Ideen
herangereift. Dabei wird seine Bedeutung bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Dieser
Ansicht ist zumindest Oliver Kessler in seinem Beitrag „Solidarität als Wert
der freien Zivilgesellschaft“ für das Liberale Institut.
Oliver Kessler |
Kessler hat beobachtet, dass in unseren zeitgenössischen
westlichen Demokratien liberale Reformen und Anliegen, etwa in der
Altersvorsorge, im Gesundheitswesen oder in der Sozialhilfe oftmals am
Widerstand etatistischer Allianzen scheitern, weil diese es schaffen, in der öffentlichen
Debatte den Liberalismus als „unsolidarische“ und „egoistische“ Philosophie zu
brandmarken.
Im Gegenzug würde der Umverteilungsstaat als
Garant für „Solidarität“ aufgebauscht. Ohne eine zentral verordnete und durch
das Gewaltmonopol durchgesetzte „Hilfe am Nächsten“ würde „Solidarität“
verschwinden und einer zwischenmenschlichen Kälte weichen. Dann würde sich
niemand mehr um „die Armen“ kümmern, das „sozialdarwinistische“ Recht des Stärkeren
würde uneingeschränkt gelten.
Einst verstanden die Römer unter dem Ausdruck „in
solidum“, dass alle Beteiligten für ein Resultat zusammen verantwortlich
waren. Heutzutage würden unter „Solidarität“ in erster Linie Unterstützung und
Hilfe für Bedürftige, zwischenmenschliche Wärme und Barmherzigkeit verstanden –
zweifellos positiv assoziierte Werte, die im Leben der meisten Menschen eine
zentrale Rolle spielen und als moralisch gut angesehen werden.
Genau genommen beschreibt aber der Begriff der
Solidarität das unbedingte Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher
Anschauungen und Ziele. Dies impliziert, so Kessler, dass die gewährte
Unterstützung oder das Eintreten für jemanden aus freien Stücken zu erfolgen
hat – und nicht aufgrund eines von oben aufoktroyierten Befehls, der im
Widerspruch zu individuellen Eigentumsrechten und dem Willen des Einzelnen
stehen kann.
Würde Solidarität gegenüber in Not geratenen
Menschen gar als moralische Pflicht angesehen, ist gerade die Freiwilligkeit
eine Bedingung ihres ethischen oder tugendhaften Charakters, denn was gesetzlich
erzwungen ist, kann keinen moralischen Wert haben.
Dennoch würde Solidaritäts-Begriff heute
oftmals verwendet, um Zwangsum-verteilung durch den Staat zu beschreiben. Wenn
Liberale etwa Alternativen zum aufgeblähten Wohlfahrtsstaat, seiner moralischen
Defiziten sowie finanziellen Ineffizienzen fordern, dann appellieren die
Befürworter staatlicher Umverteilung gebetsmühlenartig an die «Solidarität», um
diese Unterfangen zu unterbinden.
„in solidum“ - alle Beteiligten sind für ein Resultat zusammen verantwortlich |
Bei näherem Hinsehen aber zeigt sich erstens, dass die Behauptung, eine möglichst umfangreiche Zwangsumverteilung von Einkommen und Vermögen sei im Sinne der „Solidargemeinschaft“ vor allem von Profiteuren der bestehenden staatlichen Ressourcenallokation betrieben.
„Jene, die von der Umverteilungsübung
profitieren, haben ein gewichtiges Interesse daran, die ihnen zustehenden
Sonderprivilegien zu verschleiern, zumal es öffentlich als ungehörig erachtet
wird, auf Kosten anderer zu leben und das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz
zu verletzen. Je besser es gelingt, die Notwendigkeit der Hilfe als unabdingbar
darzustellen, desto glaubwürdiger erscheint die Verwendung der
Solidaritäts-Floskel im Kontext des staatlichen Enteignungs- und
Umverteilungsvorgangs.“
Zweitens würde die Behauptung in den Raum
gestellt, der Markt funktioniere nicht in bestimmten Bereichen, die deshalb der
staatlich Regulierung bedürfen. Wenn gleichwohl jemand behauptet, der Markt „funktioniere
nicht“, dann bedeutet dies zunächst nur, dass der Marktprozess – die freie
Interaktion von freien Menschen – nicht jene Ergebnisse hervorbringt, die der
subjektive Betrachter gerne gehabt hätte. Wenn Bürger also – wenn sie die freie
Wahl haben – ihr Geld lieber für Dinge ausgeben, die ihnen wichtiger
erscheinen, wird derjenige, der weniger Produkte verkaufen konnte als
gewünscht, ein „Marktversagen“ reklamieren. Was hier also nicht funktioniert,
ist folglich nicht „der Markt“, sondern vielmehr die Vorstellungen des
Reklamierenden.
Drittens erfolge Kessler zufolge der als „Akt
der Solidarität“ getarnte Angriff auf die Eigentumsrechte oft auch aus rein
ideologischen Beweggründen. „Insbesondere jene Kräfte, welche die freie
Marktwirtschaft per se ablehnen und in einem allmächtigen Staat den besseren
Organisator und Planer der Wirtschaft und Gesellschaft als „Solidargemeinschaft“
sehen als die Bürger selbst, verwenden regelmäßig den Begriff der „Solidarität“,
um durch eine schrittweise intensivierte Zwangsumverteilung von Einkommen und
Vermögen den Sozialismus in kleinen Schritten zu verwirklichen. Dies war der
Grund, weshalb historische Liberale die Sozialdemokratie oft als gefährlicher
erachteten als der revolutionäre Sozialismus, weil Letzterer leichter entlarvt
werden kann.
Das Recht auf geschütztes Privateigentum –
eines der elementarsten Menschenrechte überhaupt – wird dabei von der Logik der
staatlichen Planwirtschaft verdrängt. Der ethisch fundierte Respekt vor dem
Willen anderer, der seinen Ausdruck in der individuellen Wahlfreiheit findet,
wird so auf dem Altar des Wohlfahrts-Etatismus geopfert.
Zitate aus: Oliver Kessler, Solidarität
als Wert der freien Zivilgesellschaft, Liberales Institut, LI-Paper, Zürich 2018
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