Karl Marx (1818 - 1883) |
Karl Marx hat sich mit der britischen
Herrschaft in Indien in mehreren Zeitungsartikeln beschäftigt, die im Sommer
1853 in der New-York Daily Tribune
erschienen. Vor allem seine Anmerkungen in „Die künftigen Ergebnisse der
britischen Herrschaft in Indien“ (vom 8. August 1853) enthalten einige sehr
überraschende Beobachtungen, die so gar nicht in das Bild von der
unauflöslichen Einheit von Kommunismus und Antiimperialismus zu passen
scheinen.
Die Tatsache, dass Indien seine
Unabhängigkeit verlor, ist für Marx die unausweichliche Folge aus einer Kette
historischer Ereignisse: „Wie ist es zur Errichtung
der englischen Herrschaft in Indien gekommen? Die unumschränkte Gewalt des
Großmoguls wurde durch des Moguls Vizekönige gebrochen. Die Macht der
Vizekönige wurde durch die Marathen gebrochen. Die Macht der Marathen wurde
durch die Afghanen gebrochen, und während ein Kampf aller gegen alle tobte,
brach der Brite ins Land ein und wurde in die Lage versetzt, sie alle unter
seine Gewalt zu bringen.“
Marx zufolge scheint es
unabwendbar, dass „ein Land, das nicht nur zwischen Moslems und Hindus, sondern
auch zwischen Stamm und Stamm, zwischen Kaste und Kaste geteilt war, eine
Gesellschaft, deren Gefüge auf einer Art Gleichgewicht beruhte, die aus
allgemeiner gegenseitiger Abstoßung und konstitutioneller Abgeschlossenheit
aller ihrer Mitglieder herrührte“, schließlich die Beute von Eroberern werden
musste.
Flagge Britisch-Indiens |
Aber Marx geht in seiner Analyse
noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt, dass „die indische Gesellschaft …
überhaupt keine Geschichte, zum mindesten keine bekannte Geschichte“ habe, denn
„was wir als ihre Geschichte bezeichnen, ist nichts andres als die Geschichte
der aufeinanderfolgenden Eindringlinge, die ihre Reiche auf der passiven
Grundlage dieser widerstandslosen, sich nicht verändernden Gesellschaft
errichteten.“
Er beobachtet, dass die anderen Völker, die Indien nacheinander
überrannten, wurden „rasch hinduisiert
wurden, denn einem
unabänderlichen Gesetz der Geschichte zufolge werden barbarische Eroberer
selbst stets durch die höhere Zivilisation der Völker erobert, die sie sich
unterwarfen.“ Marx scheut sich nun nicht zu behaupten, dass die britischen
Eroberer ihrerseits die ersten waren, „die auf einer höheren Entwicklungsstufe
standen und daher der Hindu-Zivilisation unzugänglich waren.“
Von diesen Prämissen ausgehend behauptet Marx nun, dass England in
Indien eine „doppelte Mission“ zu erfüllen habe, „eine zerstörende und eine
erneuernde - die Zerstörung der alten asiatischen Gesellschaftsordnung und die
Schaffung der materiellen Grundlagen einer westlichen (!) Gesellschaftsordnung
in Asien.“
Ohne Zweifel steht einerseits fest, dass die Briten die indische
Gesellschaftsordnung zerstörten, „indem sie die einheimischen Gemeinwesen
zerschlugen, das einheimische Gewerbe entwurzelten und alles, was an der
einheimischen Gesellschaftsordnung groß und erhaben war, nivellierten.“
Indische Dorfszene |
Besondere Aufmerksamkeit widmet Marx der Auflösung des indischen Dorfsystems,
„dieser kleinen, halb barbarischen, halb zivilisierten Gemeinwesen.“ Die
Bewertung dieser nach Marx „einzige sozialen Revolution,
die Asien je gesehen“ fällt nicht unbedingt negativ aus: „Sosehr es nun
auch dem menschlichen Empfinden widerstreben mag, Zeuge zu sein, wie Myriaden
betriebsamer patriarchalischer und harmloser sozialer Organisationen zerrüttet
und in ihre Einheiten aufgelöst werden, … so dürfen wir doch darüber nicht
vergessen, daß diese idyllischen Dorfgemeinschaften, so harmlos sie auch
aussehen mögen, seit jeher die feste Grundlage des orientalischen Despotismus
gebildet haben, daß sie den menschlichen Geist auf den denkbar engsten
Gesichtskreis beschränkten, ihn zum gefügigen Werkzeug des Aberglaubens, zum
unterwürfigen Sklaven traditioneller Regeln machten und ihn jeglicher Größe und
geschichtlicher Energien beraubten.“
Vor allem aber dürfe man nicht unterschlagen, „dass diese kleinen
Gemeinwesen durch Kastenunterschiede und Sklaverei befleckt waren, dass sie den
Menschen unter das Joch äußerer Umstände zwangen, statt den Menschen zum
Beherrscher der Umstände zu erheben, dass sie einen sich naturwüchsig
entwickelnden Gesellschaftszustand in ein unveränderliches, naturgegebenes
Schicksal transformierten und so zu jener tierisch rohen Naturanbetung
gelangten, deren Entartung zum Ausdruck kam in der Tatsache, daß der Mensch,
der Beherrscher der Natur, vor Hanuman, dem Affen, und Sabbala, der Kuh,
andächtig in die Knie sank.“
Für Marx steht andererseits
ebenso fest, dass das Werk der Erneuerung „unter den Trümmern bereits begonnen
hat.“ Die erste Voraussetzung für diese Erneuerung ist für Marx die politische
Einheit Indiens, die – „durch das britische Schwert aufgezwungen“ - auf
unterschiedliche Weise sichtbar ist:
- „Die von britischen Unteroffizieren aufgestellte und gedrillte Eingeborenenarmee war die sine qua non für Indiens Selbstbefreiung und dafür, dass Indien künftig nicht mehr dem ersten besten fremden Eindringling als Beute anheimfällt.
- Die freie Presse, die erstmals in eine asiatische Gesellschaft Eingang gefunden hat und hauptsächlich von gemeinsamen Nachkommen der Hindus und der Europäer geleitet wird, ist ein neuer machtvoller Hebel der Erneuerung. (...)
- Aus den in Kalkutta … unter englischer Aufsicht erzogenen indischen Eingeborenen wächst eine neue Klasse heran, welche die zum Regieren erforderlichen Eigenschaften besitzt und europäisches Wissen in sich aufgenommen hat.
Auch heute noch in Betrieb: die Darjeeling Himalayan Railway |
- Die Dampfkraft hat Indien in regelmäßige und rasche Verbindung mit Europa gebracht, sie hat Indiens wichtigste Häfen mit denen des ganzen südöstlichen Ozeans verknüpft und es aus der isolierten Lage befreit, die der Hauptgrund seiner Stagnation war.“
- Schließlich erwähnt Marx noch den Ausbau der Bewässerungsanlagen und inneren Verkehrswege, vor allem dem Netz von Eisenbahnen, denn es „ist eine allbekannte Tatsache, dass die Produktivkräfte Indiens durch den hochgradigen Mangel an Transportmitteln und Austauschmöglichkeiten für seine mannigfaltigen Erzeugnisse lahmgelegt sind. Nirgendwo ist schlimmeres soziales Elend inmitten einer üppigen Natur anzutreffen als in Indien, und das aus Mangel an Austauschmöglichkeiten.“
Marx gibt zu, dass alle Maßnahmen, die die Briten in Indien
umgesetzt haben oder noch werden, die Voraussetzungen dafür schaffen werden,
dass sich die Freiheit und die soziale Lage des Volkes verbessern werden. Er gibt
aber auch zu bedenken – und in diesem Fall sollten seine „Prophezeiungen“
ausnahmsweise Recht bekommen -, dass diese Entwicklungen unweigerlich dazu
führen werden, dass die Inder irgendwann „stark genug sein werden, um das
englische Joch ein für allemal abzuwerfen.“
So erwartet Marx „mit aller Bestimmtheit“, dass „wir in mehr oder weniger naher Zukunft Zeugen einer Erneuerung dieses großen und interessanten Landes sein werden“, ein Land, das „die Wiege unserer Sprachen, unserer Religionen gewesen (ist), und dessen Bewohner „im Dschat den Typus des alten Germanen und im Brahmanen den des alten Griechen verkörpert.“
So erwartet Marx „mit aller Bestimmtheit“, dass „wir in mehr oder weniger naher Zukunft Zeugen einer Erneuerung dieses großen und interessanten Landes sein werden“, ein Land, das „die Wiege unserer Sprachen, unserer Religionen gewesen (ist), und dessen Bewohner „im Dschat den Typus des alten Germanen und im Brahmanen den des alten Griechen verkörpert.“
Zitate
aus: Karl Marx: Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, "New-York
Daily Tribune" Nr. 3840 vom 8. August 1853 - Die britische Herrschaft in Indien, "New-York Daily Tribune" Nr. 3804 vom
25. Juni 1853 - Die Ostindische Kompanie, ihre Geschichte und die Resultate ihres Wirkens, "New-York
Daily Tribune" Nr. 3816 vom 11. Juli 1853
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