Donnerstag, 16. Mai 2013

Karl Marx und die britische Herrschaft in Indien


Karl Marx (1818 - 1883)
Karl Marx hat sich mit der britischen Herrschaft in Indien in mehreren Zeitungsartikeln beschäftigt, die im Sommer 1853 in der New-York Daily Tribune erschienen. Vor allem seine Anmerkungen in „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien“ (vom 8. August 1853) enthalten einige sehr überraschende Beobachtungen, die so gar nicht in das Bild von der unauflöslichen Einheit von Kommunismus und Antiimperialismus zu passen scheinen.

Die Tatsache, dass Indien seine Unabhängigkeit verlor, ist für Marx die unausweichliche Folge aus einer Kette historischer Ereignisse: „Wie ist es zur Errichtung der englischen Herrschaft in Indien gekommen? Die unumschränkte Gewalt des Großmoguls wurde durch des Moguls Vizekönige gebrochen. Die Macht der Vizekönige wurde durch die Marathen gebrochen. Die Macht der Marathen wurde durch die Afghanen gebrochen, und während ein Kampf aller gegen alle tobte, brach der Brite ins Land ein und wurde in die Lage versetzt, sie alle unter seine Gewalt zu bringen.“

Marx zufolge scheint es unabwendbar, dass „ein Land, das nicht nur zwischen Moslems und Hindus, sondern auch zwischen Stamm und Stamm, zwischen Kaste und Kaste geteilt war, eine Gesellschaft, deren Gefüge auf einer Art Gleichgewicht beruhte, die aus allgemeiner gegenseitiger Abstoßung und konstitutioneller Abgeschlossenheit aller ihrer Mitglieder herrührte“, schließlich die Beute von Eroberern werden musste.

Flagge Britisch-Indiens
Aber Marx geht in seiner Analyse noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt, dass „die indische Gesellschaft … überhaupt keine Geschichte, zum mindesten keine bekannte Geschichte“ habe, denn „was wir als ihre Geschichte bezeichnen, ist nichts andres als die Geschichte der aufeinanderfolgenden Eindringlinge, die ihre Reiche auf der passiven Grundlage dieser widerstandslosen, sich nicht verändernden Gesellschaft errichteten.

Er beobachtet, dass die anderen Völker, die Indien nacheinander überrannten, wurden „rasch hinduisiert wurden, denn einem unabänderlichen Gesetz der Geschichte zufolge werden barbarische Eroberer selbst stets durch die höhere Zivilisation der Völker erobert, die sie sich unterwarfen.“ Marx scheut sich nun nicht zu behaupten, dass die britischen Eroberer ihrerseits die ersten waren, „die auf einer höheren Entwicklungsstufe standen und daher der Hindu-Zivilisation unzugänglich waren.“

Von diesen Prämissen ausgehend behauptet Marx nun, dass England in Indien eine „doppelte Mission“ zu erfüllen habe, „eine zerstörende und eine erneuernde - die Zerstörung der alten asiatischen Gesellschaftsordnung und die Schaffung der materiellen Grundlagen einer westlichen (!) Gesellschaftsordnung in Asien.“

Ohne Zweifel steht einerseits fest, dass die Briten die indische Gesellschaftsordnung zerstörten, „indem sie die einheimischen Gemeinwesen zerschlugen, das einheimische Gewerbe entwurzelten und alles, was an der einheimischen Gesellschaftsordnung groß und erhaben war, nivellierten.“

Indische Dorfszene

Besondere Aufmerksamkeit widmet Marx der Auflösung des indischen Dorfsystems, „dieser kleinen, halb barbarischen, halb zivilisierten Gemeinwesen.“ Die Bewertung dieser nach Marx „einzige sozialen Revolution, die Asien je gesehen“ fällt nicht unbedingt negativ aus: „Sosehr es nun auch dem menschlichen Empfinden widerstreben mag, Zeuge zu sein, wie Myriaden betriebsamer patriarchalischer und harmloser sozialer Organisationen zerrüttet und in ihre Einheiten aufgelöst werden, … so dürfen wir doch darüber nicht vergessen, daß diese idyllischen Dorfgemeinschaften, so harmlos sie auch aussehen mögen, seit jeher die feste Grundlage des orientalischen Despotismus gebildet haben, daß sie den menschlichen Geist auf den denkbar engsten Gesichtskreis beschränkten, ihn zum gefügigen Werkzeug des Aberglaubens, zum unterwürfigen Sklaven traditioneller Regeln machten und ihn jeglicher Größe und geschichtlicher Energien beraubten.“

Vor allem aber dürfe man nicht unterschlagen, „dass diese kleinen Gemeinwesen durch Kastenunterschiede und Sklaverei befleckt waren, dass sie den Menschen unter das Joch äußerer Umstände zwangen, statt den Menschen zum Beherrscher der Umstände zu erheben, dass sie einen sich naturwüchsig entwickelnden Gesellschaftszustand in ein unveränderliches, naturgegebenes Schicksal transformierten und so zu jener tierisch rohen Naturanbetung gelangten, deren Entartung zum Ausdruck kam in der Tatsache, daß der Mensch, der Beherrscher der Natur, vor Hanuman, dem Affen, und Sabbala, der Kuh, andächtig in die Knie sank.“

Für Marx steht andererseits ebenso fest, dass das Werk der Erneuerung „unter den Trümmern bereits begonnen hat.“ Die erste Voraussetzung für diese Erneuerung ist für Marx die politische Einheit Indiens, die – „durch das britische Schwert aufgezwungen“ - auf unterschiedliche Weise sichtbar ist:

  • „Die von britischen Unteroffizieren aufgestellte und gedrillte Eingeborenenarmee war die sine qua non für Indiens Selbstbefreiung und dafür, dass Indien künftig nicht mehr dem ersten besten fremden Eindringling als Beute anheimfällt.
  • Die freie Presse, die erstmals in eine asiatische Gesellschaft Eingang gefunden hat und hauptsächlich von gemeinsamen Nachkommen der Hindus und der Europäer geleitet wird, ist ein neuer machtvoller Hebel der Erneuerung. (...)
  • Aus den in Kalkutta … unter englischer Aufsicht erzogenen indischen Eingeborenen wächst eine neue Klasse heran, welche die zum Regieren erforderlichen Eigenschaften besitzt und europäisches Wissen in sich aufgenommen hat.


Auch heute noch in Betrieb: die Darjeeling Himalayan Railway


  • Die Dampfkraft hat Indien in regelmäßige und rasche Verbindung mit Europa gebracht, sie hat Indiens wichtigste Häfen mit denen des ganzen südöstlichen Ozeans verknüpft und es aus der isolierten Lage befreit, die der Hauptgrund seiner Stagnation war.“
  • Schließlich erwähnt Marx noch den Ausbau der Bewässerungsanlagen und inneren Verkehrswege, vor allem dem Netz von Eisenbahnen, denn es „ist eine allbekannte Tatsache, dass die Produktivkräfte Indiens durch den hochgradigen Mangel an Transportmitteln und Austauschmöglichkeiten für seine mannigfaltigen Erzeugnisse lahmgelegt sind. Nirgendwo ist schlimmeres soziales Elend inmitten einer üppigen Natur anzutreffen als in Indien, und das aus Mangel an Austauschmöglichkeiten.“

Marx gibt zu, dass alle Maßnahmen, die die Briten in Indien umgesetzt haben oder noch werden, die Voraussetzungen dafür schaffen werden, dass sich die Freiheit und die soziale Lage des Volkes verbessern werden. Er gibt aber auch zu bedenken – und in diesem Fall sollten seine „Prophezeiungen“ ausnahmsweise Recht bekommen -, dass diese Entwicklungen unweigerlich dazu führen werden, dass die Inder irgendwann „stark genug sein werden, um das englische Joch ein für allemal abzuwerfen.“

So erwartet Marx „mit aller Bestimmtheit“, dass „wir in mehr oder weniger naher Zukunft Zeugen einer Erneuerung dieses großen und interessanten Landes sein werden“, ein Land, das „die Wiege unserer Sprachen, unserer Religionen gewesen (ist), und dessen Bewohner „im Dschat den Typus des alten Germanen und im Brahmanen den des alten Griechen verkörpert.“

Zitate aus: Karl Marx: Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, "New-York Daily Tribune" Nr. 3840 vom 8. August 1853  -  Die britische Herrschaft in Indien, "New-York Daily Tribune" Nr. 3804 vom 25. Juni 1853 -  Die Ostindische Kompanie, ihre Geschichte und die Resultate ihres Wirkens, "New-York Daily Tribune" Nr. 3816 vom 11. Juli 1853 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen