Samstag, 29. Oktober 2011

John Stuart Mill und die Kritikfreudigkeit

John Stuart Mill widmet sich in seinem berühmten Essay Über die Freiheit (1859) der Frage, warum innerhalb der Menschheit die vernünftigen Meinungen und Handlungen überwiegen.

Aus heutiger Sicht muss uns dieser Optimismus verblüffen. Für Mill dagegen steht fest, dass der menschliche Geist die Eigenschaft zur Fehlerverbesserung besitzt. Aus dieser Eigenschaft ergibt sich nach Mill zugleich die Verpflichtung zu aufrichtiger Kritikfähigkeit.

"Die Menschen sind ja imstande, ihre Fehler gut zu machen durch Diskussion und durch Erfahrung. Nicht durch Erfahrung allein, vielmehr müssen sie sich untereinander besprechen, um gewiss zu werden, wie die Erfahrung zu deuten sei. Irrige Meinungen und Gewohnheiten weichen allmählich der Macht der Tatsachen und der Gründe, aber beide müssen, damit sie irgendwelchen Eindruck auf den Geist machen, ihm bewusst werden. (...)

Die ganze Kraft und der Wert des menschlichen Urteils beruht also auf der einen Eigenheit, dass der Mensch, wenn im Irrtum, zurecht gewiesen werden kann, darum kann dem menschlichen Urteil nur so lange Vertrauen geschenkt werden, als die Mittel der Zurechtweisung stets bereit gehalten werden." (37)

Die Worte von Mill enthalten einige Gedanken von großer Bedeutung:

Es sind zunächst eigene, häufig negative Erfahrungen, die uns unsere Fehler schmerzhaft bewusst werden lassen. Gleichwohl eröffnen uns eben diese Erfahrungen die Chance, die begangenen Fehler nicht zu wiederholen.

Das allein aber reicht nach Mill nicht. Wahre Kritikfähigkeit zeigt sich erst im Gespräch, in der Diskussion mit anderen Menschen. Dabei geht es nicht nur um eine kritische Deutung der eigenen Erfahrung, sondern letztlich um bewusste Suche und Korrektur unserer Irrtümer auf der Grundlage evidenter Fakten und vernunftgestützer Argumentation.

Sowohl die kritische Deutung unserer Erfahrungen als auch die daraus resultierende Verpflichtung zur Fehlerverbesserung stellen hohe Anforderungen an unsere Kritikfähigkeit. Im Zweifelsfall müssen wir selbst gewährleisten, dass die "Mittel der Zurechtweisung" zur Verfügung stehen. Kritikfähigkeit wird so zur Kritikfreudigkeit.

Der Lohn für solch eine Geisteshaltung ist klar: Klare Urteilskraft und vor allem Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit sind die Früchte der Kritikfreudigkeit:

"Worauf beruht es, dass das Urteil eines Menschen wahrhaft vertrauenswürdig erscheint? Es kommt daher, dass er seinen Geist für die Kritik an seiner Meinung und an seinem Handeln offen gehalten hat, daher, dass er sich gewöhnt hat, auf alles zu hören, was gegen ihn vorgebracht werden konnte. Er hat sich das, was an dieser Kritik richtig war, zunutze gemacht, und er hat sich und gelegentlich auch anderen zum Bewusstsein gebracht, was an seinem Urteil etwa fehlerhaft war. Er hat gewusst, dass der einzige Weg, auf dem ein Mensch dazu kommt, einen Gegenstand ganz genau zu kennen, der ist, dass er über diesen Gegenstand die Meinungen der verschiedensten Menschen höre und alle Gesichtspunkte studiere, unter denen die Sache von den verschiedensten Charakteren betrachtet werden kann." (37f)

Die Forderung Mills lassen sich auf nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche beziehen, auf die politischen Auseinandersetzung wie auf persönliche Beziehungen, auf Forschung und Wissenschaft ebenso wie auf Lehre und Erziehung.

"Kein Weiser hat seine Weisheit jemals auf anderem als auf diesem Wege gewonnen, es liegt nicht in der Natur des menschlichen Geistes, auf andere Art klug zu werden." (37f)

Das Gegenteil von Kritikfreudigkeit ist Dogmatismus. Und so verbirgt sich hinter den zitierten Zeilen - wie im gesamten Werk Über die Freiheit - ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit des Individuums, seine Freiheit des Denkens und der Meinung:

"Wenn die ganze Menschheit eine übereinstimmende Meinung verträte, und nur eine Person wäre vom Gegenteil überzeugt, so hätte die Menschheit nicht mehr Recht, den Einen zum Schweigen zu bringen, als er, wenn ihm die Macht dazu zustände, das Recht hätte, der ganzen Menschheit den Mund zu verbieten. (...)

Aber das eigentliche Übel, wenn man eine Meinung zum Schweigen bringt, besteht darin, dass es ein Raub an der Menschheit ist, an der künftigen und an der, die jetzt lebt, und zwar noch mehr an den Menschen, die von der Meinung abweichen, als an denen, die sich zu ihr bekennen.

Wenn jemand einer Meinung das Gehör verweigert, weil er überzeugt ist, dass sie falsch sei, so setzt er voraus, dass seine Überzeugung gleichbedeutend mit absoluter Sicherheit sei. Eine Diskussion zum Schweigen zu bringen bedeutet immer: sich Unfehlbarkeit anmaßen.“ (32f)

Alle Zitate aus: J. S. Mill, Über die Freiheit, Köln 2009 (Anaconda)

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