Es gehörte zu den tiefsten Überzeugungen
von John Locke, dem großen englischen Aufklärer, dass jeder Mensch selbst
denken kann – und wer es dennoch nicht vermag, kann dazu angeleitet werden.
Titel der deutsche Ausgabe (1761) |
Genau dies ist das Thema der Gedanken über
Erziehung (Some Thoughts concerning Education, 1693), ein pädagogisches
Programm, wie junge Menschen so geleitet werden können, dass sie schließlich, ihrer
eigenen Führung anvertraut, als mündiger Bürger ihre geistige und politische
Freiheit sinnvoll zu gebrauchen wissen.
Lockes Werk ist mit Sicherheit keine vollständige
und systematische Abhandlung über die Erziehung und es bietet auch keine
systematische Philosophie der Erziehung. Aber Lockes Gedanken regen zum verantwortungsvollen
Selbstdenken an, und sie „möchten denen ein klein wenig Licht geben, die in der
Sorge um ihre lieben Kleinen so ungewöhnlich kühn sind, daß sie es wagen, bei
der Erziehung ihrer Kinder lieber ihre eigene Vernunft zu befragen, als sich
ganz auf Altüberkommenes zu verlassen.“
Weil Locke erkenntnistheoretisch davon
ausging, dass der menschliche Verstand bei der Geburt wie ein unbeschriebenes
Blatt ist, war er überzeugt davon, dass man schon sehr früh ansetzen musste, um
Fehler in der Erziehung zu vermeiden und die jungen Menschen für das praktische
Leben zu bilden.
Locke ist davon überzeugt, dass neun von zehn
Menschen durch die Erziehung zu dem werden, was sie sind, gut oder böse,
nützlich oder unnütz, vernünftig oder verwirrt. Erziehung ist es, „welche die
großen Unterschiede unter den Menschen schafft. Die kleinen oder nahezu
unmerklichen Eindrücke auf unsere zarte Kindheit haben sehr bedeutende und
dauernde Folgen.“
Im Zentrum von Lockes pädagogischen Gedanken
finden wir die Figur eines körperlich gesunden und geistig regen Gentleman. Der
Gentleman ist für Locke die Modellperson für ein glückliches Leben in einem
liberalen Staat vernünftiger Menschen. An sie richtet sich Lockes Anspruch: „Die
gute Erziehung der Kinder ist so sehr eine Sorgepflicht der Eltern, Wohlfahrt
und Gedeihen der Nation hängen so sehr davon ab, dass ich sie jedermann
ernstlich ans Herz legen möchte.“
John Locke (1632 - 1704) |
Gleich im ersten Satz seiner Gedanken zitiert
Locke den römischen Moralisten und Satiriker Juvenal: „Ein gesunder Geist in
einem gesunden Leib, das ist eine kurze, aber vollständige Beschreibung eines
glücklichen Zustandes in dieser Welt.“ Mens sana in corpore sano! - statt all
der ausschweifenden Laster und verstockten Dummheiten, politischen Übel und
moralischen Katastrophen, die das gesellige Leben vergiften!
Wem die Erziehung eines Gentleman am Herzen
liegt, der hat neben der erforderlichen Vermittlung von Kenntnissen (learning) vor allem auf ausgewählte Qualitäten
zu achten. Zunächst gilt es die erste und notwendigste Gabe des Menschen auszubilden:
seine Tugend (virtue), die andere
Menschen an ihm schätzen und lieben werden und die dazu beiträgt, dass er sich
selbst achten kann und nichts vorwerfen muss.
An dieser Stelle wird auch Lockes eigene
religiöse Überzeugung deutlich. Der kindliche Glaube an einen liebenden und
gerechten Gott, der den Menschen alles Notwendige gibt, kann die Tugend stützen
und ihre Entfaltung fördern, „während man die Kinder nicht durch schreckliche
Geschichten von Geistern und Gespenstern, Totenköpfen und dem Sensenmann
ängstigen soll.“ Vielleicht kann man Kinder durch solche Geschichten in
seltenen Föllen von kleinen Vergehen abhalten, aber das Heilmittel des
Schreckens ist doch weit schlimmer als die Krankheit. „Wenn das zarte
Kindergemüt einmal solche Schreckvorstellungen aufgenommen hat und von dem
starken Eindruck der Furcht, die solche Vorstellungen begleitet, angegriffen
worden ist, dann sinken diese tief ein und setzen sich so fest, daß sie, wenn
überhaupt, nur schwer wieder getilgt werden können; und solange sie vorhanden
sind, suchen sie die Kinder häufig mit seltsamen Hirngespinsten heim und machen
sie zu Feiglingen, wenn sie allein sind, und jagen ihnen für ihr ganzes
späteres Leben Angst vor ihrem Schatten und der Dunkelheit ein.“
Lebensklugheit und Lektüre |
Nach der Tugend ist es die Lebensklugheit (wisdom), die es beim heranwachsenden
Gentleman zu formen gilt. Er soll lernen, seine Geschäfte in dieser Welt
geschickt und mit Umsicht zu führen. Das mag den Horizont von Kindern zunächst
übersteigen. Doch man kann ihnen schon früh beibringen, nicht listig zu sein,
sondern wahrhaftig und aufrichtig. Denn zur Lebensweisheit gehören für Locke
vor allem Offenheit und Fairness, die gesellschaftlich von einem wesentlich
höheren und dauerhafteren Nutzen sind als die List (cunning), dieser „Affe der Weisheit“, der von ihr äußerst weit
entfernt ist.
Die dritte Eigenschaft, die zu einem
Gentleman gehört, ist eine gute Lebensart (good
breeding), deren Hauptregel lautet „nicht zu gering von sich selbst und
nicht zu gering von anderen denken“. Es handelt sich dabei um eine gesellige
Tugend der Achtung und gegenseitigen Wertschätzung; um „eine Geisteshaltung,
die sich im Benehmen zeigt und durch die man vermeidet, daß der andere sich im
geselligen Umgang unbehaglich fühlt“.“
Vermeiden sollte man deshalb die
ungeschliffene Rohheit eines Grobians ebenso wie die Missachtung und
Geringschätzung des anderen, ein ständiges Widersprechen aus bloßer Lust am
Widerspruch, rechthaberisches Behaupten, schulmeisterliches Auftreten und unversöhnliche
Streitlust.
Lockes Erziehung ist auf eine gesellige
Kultur gegenseitiger Achtung gerichtet. Doch diese Kultur ist für ihn nicht
denkbar ohne eine tiefere Begründung. Sie basiert auf dem „richtigen Gebrauch
des Verstandes“, ohne den sie nur eine gewohnheitsmäßig eingeübte Lebensform
wäre.
Anleitung zur Vernünftigkeit im Gespräch |
Locke ist grundsätzlich davon überzeugt, dass
der Mensch zur Vernünftigkeit angeleitet werden muss. Das erklärt die große
Rolle, die er dem Gespräch (reasoning)
zwischen Erzieher und Zögling zuschreibt, in dem das Kind lernt, seine
Verstandeskräfte auszubilden. „Man wird sich vielleicht darüber wundern, daß
ich von vernünftigem Gespräch mit Kindern rede; und doch kann ich nicht umhin,
dies als die rechte Art des Umgangs mit ihnen anzusehen. Sie verstehen es so
früh, wie sie die Sprache verstehen; und wenn ich recht sehe, wollen sie gern
als vernunftbegabte Wesen behandelt werden, und zwar früher, als man denkt. Es
ist dies ein Stolz, den man in ihnen nähren und, soweit es geht, zum
wichtigsten Werkzeug ihrer Bildung machen sollte.“
Ein vernünftiges Gespräch ist keine
Indoktrination. Das Kind soll nicht nachplappern, was ihm vorgesagt wird.
Lockes sprachlich vermittelte Erziehung des Verstandes ist Anleitung zum
eigenen Verstandesgebrauch. Er will den jungen Gentleman nicht abrichten, ihm
blind zu folgen, sondern dazu bringen, als ein vernünftiger Mensch nur dem
zuzustimmen, was er selbst für vernünftig hält.
Lockes Gedanken haben einen konkreten
biographischen Hintergrund. Er war der Erzieher von Anthony Ashley Cooper, dem 3. Earl of Shaftesbury. Der kleine Ashley hat
am eigenen Leib erfahren können, was es bedeutet, einen gesunden Körper auszubilden.
So achtete Locke sehr sorgfältig auf Maßnahmen, die er für vernünftig und
leicht zu befolgen hält: Das Kind soll nicht zu warm angezogen sein, jeden Tag
seine Füße mit kaltem Wasser waschen, ausreichend schlafen, weite Kinderkleider
tragen, die es nicht einengen, sich viel in frischer Luft aufhalten und
körperlich bewegen, eine naturgemäße einfache Nahrung mit wenig Fleisch zu sich
nehmen und auf alkoholische Getränke, auch unnötige Medikamente, möglichst
verzichten.
Aber Locke achtet auch darauf, den Geist (mind) „in die richtige Verfassung zu
bringen, so daß er bei allen Anlässen geneigt ist, nur dem zuzustimmen, was der
Würde und dem hohen Rang eines vernunftbegabten Wesens angemessen ist.“
Anthony Ashley Cooper Third Earl of Shaftesbury (1671 - 1713) |
So kann Locke direkt beobachten und
verwirklichen, was er zur gleichen Zeit in seinen erkentnistheoretischen
Skizzen festhält: „Was ich über den menschlichen Verstand denke“, dass er
nämlich anfänglich wie eine „leere Tafel“ sei, die nach und nach beschrieben
werde, scheint sich unmittelbar vor seinen Augen biographisch zu bestätigen.
Ashles bleibt seinem Lehrer ein Leben lang
verbunden. Selbst während Lockes langjährigem Exil in Holland (1683 bis Anfang
1689) bricht der Kontakt nicht völlig ab. Auf seiner großen Reise über
Frankreich bis nach Italien nutzt der junge Gentleman die Gelegenheit, Locke in
Amsterdam zu besuchen, und kaum hat er ihn verlassen, schreibt er ihm am 22. Dezember
1687 aus Paris: „Um Ihnen für all die Ratschläge zu danken, die ich durch Ihre
Briefe ebenso wie mündlich von Ihnen erhalten habe, reicht nicht nur das Papier
nicht aus. Ich werde es niemals versuchen oder gar beanspruchen, so davon zu
sprechen, wie sie es verdienen.“
Zitate aus: John Locke: Gedanken
über Erziehung. Stuttgart 2007 (Reclam), online bei Gutenberg - Weitere Literatur: Manfred Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt, Hamburg 2012
(Rowohlt)
Ja, WAHRnehmen und WAHR handeln und sich treu bleiben entsprechend seinen Erkenntnissen.
AntwortenLöschenUnd man geht schon mit dem guten Bild dessen, was man erleben möchte ins Leben hinein.