Donnerstag, 12. Januar 2012

Amartya Sen und die Gerechtigkeit

Amartya Sen 2007 (Bild: Elke Wetzig)
Amartya Sen (* 03.11.1933) gehört zu den wichtigsten Wirtschaftswissenschaftlern und -philosophen der Gegenwart. Zu seinen Forschungsschwerpunkten an der Harvard University in Cambridge (Massachusetts) gehören die Problematik der Armut und die Wohlfahrtsökonomie. 1998 erhielt Sen den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Arbeiten zur Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung und zum Lebensstandard.

Drei Kinder streiten darüber, wem eine Flöte gehören soll. Mit diesem konkreten Problem eröffnet Amartya Sen sein Buch über „Die Idee der Gerechtigkeit“, das er seinem Lehrer John Rawls widmet, von dem er sich gleichwohl kritisch absetzt.

Das erste Kind, Anne, verlangt die Flöte für sich, weil sie die Einzige von den Dreien ist, die Flöte spielen kann.

Nun meldet sich das zweite Kind, Bob, und fordert für sich die Flöte, weil er als Einziger von den Dreien so arm ist, dass er keine eigenen Spielsachen besitzt. Die Flöte wäre also sein erstes eigenes Spielzeug.

Schließlich erklärt Clara, das dritte Kind, dass sie viele Monate mit Fleiß und Ausdauer gearbeitet hat, um die Flöte selbst herzustellen.


Zwei Beobachtungen sind wichtig: Alle Argumente werden von den jeweils anderen beiden Kindern nicht bestritten. Wenn wir nur die Argumente eines Kindes gehört hätten, hätten wir gute Gründe, die Flöte diesem Kind zu geben.

In der Praxis müssten wir also eine schwere Entscheidung treffen, bei der wir uns an Theoretikern wie Utilitaristen, Verteidiger eines ökonomischen Egalitarismus oder Vertreter des Liberalismus orientieren könnten. Jeder von ihnen wäre der Ansicht, „dass es eine eindeutige Lösung gibt und dass sie auf der Hand liegt, also mühelos zu finden ist. Aber fast mit Sicherheit würden sie jeweils völlig verschiedene Lösungen für offensichtlich halten.

Der Egalitarier würde am ehesten Bob, das ärmste Kind, in seinem Bemühen unterstützen, Ungleichheiten in den ökonomischen Ressourcen der Menschen zu beseitigen. Carla würde deutlich vom Vertreter des Liberalismus unterstützt werden, weil das Recht auf die Flöte auf der eigenen Arbeit und Produktivität gründet. Der Utilitarist würde argumentieren, dass Annes Vergnügen und Nutzen offensichtlich größer ist, als bei den anderen, weil nur sie Flöte spielen kann.

Es ist also alles andere als leicht, auch nur einen der Ansprüche, die entweder mit der Beseitigung von Armut oder dem Recht, die Produkte eigener Arbeit zu genießen, oder dem Streben nach einem erfüllten Leben begründet sind, beiseite zu schieben.

Es kann also sein - und nicht nur in diesem Fall-, dass es tatsächlich keine erkennbare vollkommen gerechte soziale Regelung gibt, aus der eine unparteiische Einigung hervorgehen kann.

Der Kern dieses Problems liegt für Sen darin, dass alle Theorien der Gerechtigkeit, die gegenwärtig in der politischen Philosophie das Feld beherrschen, das Ziel verfolgen, anschließende Antworten auf die Frage „nach dem Wesen vollkommener Gerechtigkeit zu bieten“ (9).




Das Interesse von Sen dagegen ist ein anderes. Statt eine perfekte Gesellschaft philosophisch auszuformulieren, will er mit seiner Gerechtigkeitstheorie vor allem „klären, wie wir verfahren können, wenn wir Fragen der Erweiterung von Gerechtigkeit und Beseitigung von Ungerechtigkeit in Angriff nehmen wollen“ (ebd.).

Erstens müsse eine Theorie der Gerechtigkeit, „die als Basis für den Gebrauch der praktischen Vernunft dienen kann“ (ebd), vor allem zeigen, wie die realen Versuche zur Beseitigung von Ungerechtigkeit und Förderung von Gerechtigkeit zu bewerten sind. Das schließt auch Urteile über das Verhalten von Institutionen und Individuen ein.

Zweitens geht Sen davon aus, dass „mehrere verschiedene Gründe der Gerechtigkeit nebeneinander bestehen können, die alle kritischer Überprüfung standhalten, aber zu unterschiedlichen Folgerungen führen“ (10), wie im obigen Beispiel mit der Flöte deutlich wurde.

Die Pluralität von Wertvorstellungen innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft (oder auch innerhalb einer Person) ist nicht nur ein signifikantes Problem jeder Entscheidungssituation, sondern zugleich auch das Kennzeichen einer auf Freiheit beruhenden Gesellschaft, wie schon Isaiah Berlin deutlich gemacht hat.

Drittens ist Sen überzeugt, dass Gerechtigkeit in einer Gesellschaft letzten Endes verbunden ist mit der konkreten Lebensführung von Menschen „und nicht nur mit der Eigenart der Institutionen in ihrer Umgebung“ (11). Sen kritisiert, dass sich viele der wichtigsten Gerechtigkeitstheorien übermäßig auf die Frage konzentrieren, wie gerechte Institutionen geschaffen werden können und damit die konkreten Verhaltensmuster der Individuen vernachlässigen.

Dieser letzte Aspekt hängt stark mit Sens Auffassung von Demokratie
zusammen. In seinem Buch „wird Demokratie am öffentlichen Vernunftgebrauch gemessen, das heißt, als „Regierung durch Diskussion“ verstanden (eine Vorstellung, die John Stuart Mill sehr gefördert hat)“ (13). Danach wird Demokratie sehr weit und allgemein gefasst, und zwar im Rahmen ihrer Fähigkeit, „durchdachtes Engagement zu fördern, indem sie für mehr Informationen sorgt und interaktive Diskussionen möglich macht. Demokratie ist nicht nur anhand formal existierender Institutionen zu beurteilen, sondern ihr Maß ist die Vielfalt der Stimmen aus unterschiedlichen Bereichen, die tatsächlich gehört werden können“ (ebd.)

Die Vernunft sucht die Wahrheit, wo immer sie sich finden lässt …



Zitate aus: Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 (C.H.Beck)


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