Donnerstag, 25. Juli 2013

Franz Kafka und die bürokratische Herrschaft

„Dort oben ist die Behörde in ihrer unentwirrbaren Größe – ich glaubte, annähernde Vorstellungen von ihr zu haben, ehe ich hierher kam, wie kindlich war das alles.“ (Kafka, Das Schloss)

Franz Kafka (1883 - 1924)
Die Werke Franz Kafkas gehören zum unbestrittenen Kanon der Weltliteratur mit vielfältigen und bis heute anhaltenden Wirkungen. Von besonderem, weil hochaktuellem  Interesse sind Kafkas Beobachtungen zur Herrschaftsform der Bürokratie, die er aus eigener Berufserfahrung ausgezeichnet kannte.

Nach dem Abschluss seines Jurastudiums arbeitete Kafka von 1908 bis 1922 in der „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen“ (AUVA) in Prag. Die Tätigkeit als Beamter in der halbstaatlichen Institution verlangte von ihm genaue Kenntnisse der industriellen Produktion und der großbetrieblichen Technik. Er begann als „Aushilfsbeamter“ in der Unfallabteilung, wurde dann in die versicherungstechnische Abteilung versetzt und gehörte ab 1910 schließlich zur Betriebsabteilung.

Kafka arbeitete Bescheide aus und brachte sie auf den Weg, wenn es alle fünf Jahre galt, die Betriebe in Gefahrenklassen einzuteilen. Kafka arbeite sich schnell in seine neuen Arbeitsgebiete ein, und wurde in Anerkennung seiner Leistungen viermal befördert.

Gleichwohl klagt er in einem Brief an Milena: „Mein Dienst ist lächerlich und kläglich leicht … ich weiß nicht wofür ich das Geld bekomme“. 1917 erkrankte Kafka an Lungentuberkulose und bat um Pensionierung. Die AUVA sperrte sich und gab ihn erst nach fünf Jahren am 1. Juli 1922 endgültig frei.

Durch seinen Kontakt zu Unfallopfern wusste Kafka nur zu gut um den „Schicksalsaberglauben“, der unweigerlich diejenigen erfasst, die in ihrem täglichen Leben unter die Herrschaft des Zufalls gefallen sind. Dieser Schicksalsaberglaube, in „irgendeine furchtbare, dunkle Notwendigkeit verstrickt zu sein“ bildet die Brücke zu Kafkas Blick auf bürokratische Weltordnung (522).

Wie in einem Albtraum bewegen sich Kafkas Protagonisten durch ein Labyrinth undurchsichtiger Verhältnisse und sind anonymen Mächten ausgeliefert. In besonderem Maße wird dies in den beiden Roman „Der Process“ und „Das Schloß“ sichtbar.

Der Process - Erstausgabe 1925
Im „Process“ wird, Josef K., der Protagonist des Romans, am Morgen seines 30. Geburtstages verhaftet, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. Trotz seiner Festnahme darf sich der Bankprokurist Josef K. noch frei bewegen und weiter seiner Arbeit nachgehen. Vergeblich versucht er herauszufinden, weshalb er angeklagt wurde und wie er sich rechtfertigen könnte. Dabei stößt er auf ein ebenso wenig greifbares Gericht, einem weit verzweigten Gewirr unübersichtlicher Räume, darunter die Kanzleien, die sich auf den Dachböden befinden.

Josef K. versucht verzweifelt, Zugang zum Gericht zu finden, doch auch dies gelingt ihm nicht. Er beschäftigt sich immer öfter mit seinem Prozess, obwohl er anfangs das Gegenteil beabsichtigte. Er gerät dabei immer weiter in ein albtraumhaftes Labyrinth einer surrealen Bürokratie. Immer tiefer dringt er in die Welt des Gerichts ein. Gleichzeitig dringt jedoch auch das Gericht immer mehr in Josef K.s Leben ein. Ob tatsächlich ein irgendwie gearteter Prozess heimlich voranschreitet, bleibt sowohl dem Leser als auch Josef K. verborgen.

Bezeichnenderweise bekommt der Angeklagte Josef K. niemals auch nur die Anklageschrift zu Gesicht. Josef K. fügt sich schließlich einem nicht greifbaren, mysteriösen Urteilsspruch, ohne jemals zu erfahren, weshalb er angeklagt war und ob es tatsächlich dazu das Urteil eines Gerichtes gibt. Am Vorabend seines 31. Geburtstages wird Josef K. von zwei Herren abgeholt und in einem Steinbruch „wie ein Hund“ erstochen.

„Der Verklärer der bürokratischen Weltordnung im Prozess ist der Geistliche im Dom, der dem Angeklagten K. ihr Grundprinzip in einem Satz erklärt: „Man muss nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten.“ Woraufhin K. eben meint: Trübselige Meinung. Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht“ (522).

In dieser prägnanten Aussage steckt die gesamte Essenz der Kritik an einer sich verselbstständigen und unmenschlichen Bürokratie  und am Fehlen bürgerlicher  Freiheitsrechte.

Das Schloss - Erstausgabe 1926
Im Zentrum des Romans „Das Schloss“ steht der Protagonist K., der als Landvermesser in ein winterliches Dorf kommt, das zu dem Besitz eines Schlosses gehört. Das Schloss mit seiner Verwaltung scheint durch einen gewaltigen, undurchschaubaren bürokratischen Apparat jeden Einzelnen der Einwohner zu kontrollieren und dabei unnahbar und unerreichbar zu bleiben. Einer nicht greifbaren bedrohlichen Hierarchie ausgesetzt, an deren Spitze sich die Beamten des Schlosses befinden, gestaltet sich das Leben der Dorfbewohner bedrückend. Bei Überschreitung der Vorschriften droht vermeintlich Schlimmes.

Vom Schloss werden aber tatsächlich niemals erkennbare Sanktionen erhoben. K.s ganzes Streben ist darauf gerichtet, sich dem Schloss zu nähern. Doch sämtliche Anstrengungen scheitern. Die Vorgänge zwischen Dorf und Schloss und das untertänige Verhalten der Dorfbewohner bleiben ihm unverständlich.

Nur bruchstückhaft erfährt K. und mit ihm der Leser im Laufe des Romans mehr über die Beamten des Schlosses und ihre Beziehungen zu den Dorfbewohnern. Die allgegenwärtige, aber gleichzeitig unzugängliche, faszinierende und bedrückende Macht des Schlosses über das Dorf und seine Menschen wird dabei immer deutlicher. Trotz all seiner Bemühungen, in dieser Welt heimisch zu werden und seine Situation zu klären, erhält K. keinen Zugang zu den maßgeblichen Stellen in der Schlossverwaltung. Anfangs voll Ehrgeiz und Zuversicht, fühlt sich K. zunehmend ohnmächtig angesichts der Undurchschaubarkeit des Systems, in dem er sich befindet.

So leben die Dorfbewohner im Schloss" unter der Allmacht einer bürokratischen Herrschaft leben, die ihre Geschicke bis in alle privatesten Einzelheiten kontrolliert und ihnen beigebracht hat, dass es eine Frage des Schicksals, dunkler und menschlich unkontrollierbarer Mächte ist, ob einer im Recht oder im Unrecht ist“ (522).

Die zentrale Geschichte des Romans in dieser Hinsicht ist „Amalias Geheimnis“, das darin besteht, dass die ganze Familie dafür bestraft wird, dass einer der hohen Beamten ihr einen obszönen Brief geschrieben hat; das ist nun ihre und nicht des Beamten „Schande“. Dem K. des Romans „scheint das ungerecht und ungeheuerlich, aber das ist eine im Dorf völlig vereinzelte Meinung“, denn „man muss schon ein Fremder in meiner besonderen Lage sein, um sich dem Vorurteil zu entwinden“ und an der unabänderlichen Notwendigkeit dieses „erstaunlich einheitlichen Spiels“ zweifeln zu können“ (522).

Mit der Herrschaftsform der Bürokratie hat sich auch Hannah Arendt in ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ beschäftigt: „Juristisch gesprochen und im Gegensatz zur Gesetzesherrschaft ist Bürokratie das Regime der Verordnungen.“ In der Bürokratie werde die Macht, die in Verfassungsstaaten nur der Ausführung der Gesetze dient, hier wie in einem Befehl, zur direkten Quelle der Anordnung. 

Bürokratische Herrschaft - ein Regime der Verordnungen

„Verordnungen sind ferner immer anonym, während Gesetze immer auf bestimmte Personen oder gesetzgebende Versammlungen zurückgeführt werden können; sie bedürfen weder der Begründung noch der Rechtfertigung im einzelnen Fall – wiewohl die in jedem Ausnahmezustand sich als notwendig erweisenden Notverordnungen insgesamt den Notstand als ihre Rechtfertigung anrufen müssen, der dann aber zeitlich begrenzt, klar als Ausnahme von der Regel erkannt wird. Der Notstand rechtfertigt in der Ausnahme das, was in der Despotie die Regel ist, nämlich die Konzentration und Unbegrenztheit der Macht gegenüber dem Untertan“ (516).

Vom Standpunkt der bürokratischen Herrschaft erscheinen die verfassungsrechtliche Regierung als unendlich unterlegen und die ihr eigentümlichen Gesetze als „Fallen“, in welchen die Herrschenden sich nur unnötigerweise verstrickten. Auch fühlten die Bürokraten, so Arendt, „wiewohl sie selber doch nur den Willen des Herrschers vollstreckten, sich den gesetzgebenden verfassungsmäßigen Regierungen dadurch überlegen, dass sie durch keine Prinzipien in der Ausübung der Macht eingeschränkt waren, also in ihrem Sinne über eine sehr viel größere Freiheit verfügten“ (517).

So habe der Bürokrat, „wiewohl er nur Verordnungen durchführt, die er selbst nicht erlassen hat“, zum mindesten „die Illusion einer ständigen weitreichenden Tätigkeit und fühlt sich himmelweit den „unpraktischen“ Leuten überlegen, die sich dauernd über legalistische Details den Kopf zerbrechen müssen und daher außerhalb der Machtsphäre bleiben, die für ihn Politik überhaupt verkörpert“ (517).

So wie in den Werken Kafkas deutlich wird, liegen hinter diesen Verordnungen „keine an sich immer einfachen Prinzipien, die jedermann verstehen könnte, sondern sie entspringen einer Reihe oft höchst komplizierter Umstände, die nur der Fachmann übersehen kann. Menschen, die unter dem Regime der Verordnungen leben, wissen niemals, was oder wer sie eigentlich regiert, weil Verordnungen an sich immer unverständlich sind und die Umstände und Absichten, die sie verständlicher machen könnten, von der Bürokratie immer sorgfältig, als handele es sich gerade hier um die höchsten Staatsgeheimnisse, verschwiegen werden“ (518). 

Bürokratische Herrschaft - keine Probleme mit "legalistischen Details" !

So unterscheidet sich auch der Verwaltungsbeamte von allen gesetzgebenden politischen Körperschaften dadurch, dass er unmittelbar handelt, und dies „innerhalb des Rahmens eines von ihm selbst nicht gegebenen und daher von ihm nur als Grenze und Hindernis empfundenen Gesetzes“ (526).

Für die Herrschenden liegen die Vorteile bürokratischer Herrschaft natürlich auf der Hand: „Die Effektivleistung der Verordnung ist durchschlagend, weil sie die vermittelnden Stufen zwischen Gesetzgebung, Veröffentlichung und Exekution vermeidet und dadurch gar keine Gelegenheit zur Diskussion und einer etwaigen Meinungsbildung bietet“ (518).

In einer bürokratischen Herrschaft, wo an die Stelle des Gesetzes die Verordnung getreten ist, wird dauernd gehandelt, bevor Recht gesprochen worden ist, werden dauernd vollendete Tatsachen geschaffen, gegen die es dann einen Einspruch entweder überhaupt nicht gibt oder nur auf einem so komplizierten, eben `bürokratischen´ Wege, dass ihm praktisch keine Bedeutung mehr zukommt: „Willkür und Zufall werden zum Kennzeichen des Wirklichen selbst“ (527).

„Ob es Kontrollbehörden gibt? Es gibt nur Kontrollbehörden. Freilich sie sind nicht dazu bestimmt, Fehler im groben Wortsinn herauszufinden, denn Fehler kommen ja nicht vor, und selbst, wenn einmal ein Fehler vorkommt, wer darf denn endgültig sagen, dass es ein Fehler ist.“ (Franz Kafka, Das Schloss).
  
Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper), v.a. S. 515ff
Weitere Literatur: Franz Kafka: Der Process, als Text bei Gutenberg, als Hörspiel beim BR  -  Franz Kafka: Das Schloss, als Text bei Zeno  

Donnerstag, 18. Juli 2013

Hannah Arendt und die Eroberung des Staates durch die Nation

Der völkische Nationalismus beruht, wie Hannah Arendt in ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) überzeugend dargestellt hat, auf der schlichten Behauptung, dass „das eigene Volk einzigartig und seine Existenz mit der gleichberechtigten Existenz anderer Völker unvereinbar sei.“

Diese Behauptung verbindet sich mit der Idee, „dass das eigene Volk von `einer Welt von Feinden umgeben´, in einer Situation des `einer gegen alle´ sich befindet, und dass es infolgedessen nur einen Unterschied in der Welt gibt, der zählt, den Unterschied zwischen einem selbst und allen anderen“ (482).

In diesem Kontext vertraten vor allem die Ideologen der Panbewegungen im 18. Jahrhundert die These vom göttlichen Ursprung der Völker. Demnach ist die „nationale Zugehörigkeit eine von Gott selbst geschaffene ewige Eigenschaft des Menschen.“ Wird eine solche Nationalität noch dazu als eine Auserwähltheit gedeutet, „so wird das gesamte Volk aus dem Verdikt nachprüfbarer Geschichte erlöst, da nun nichts, was ihm im Rahmen seiner geschichtlichen Realität widerfahren ist – Eroberung, Wanderungen, Zerstreuungen –, etwas an seiner geschichtlichen `Sendung´ ändern kann“ (496)

Ausgehend von dieser pseudotheologischen Prämisse tritt im völkischen Denken an die Stelle „der individualistisch verstandenen Menschenwürde“ nun die Vorstellung, „dass alle, die in dasselbe Volk geboren sind, auf eine naturhafte Weise miteinander verbunden sind und, ähnlich wie die Mitglieder der gleichen Familie, aufeinander sich verlassen können.“ Arendt gibt sogar zu, dass die mit solchen Vorstellungen verbundene Wärme und Sicherheit in der Tat sehr geeignet war, „die berechtigten Ängste moderner Menschen in dem Dschungel einer atomisierten Gesellschaft zu beschwichtigen, gerade weil diese Bewegung „durch Uniformierung und massenhafte Zusammenfassung von Menschen eine Art Ersatz für gesellschaftliche Heimat und Sicherheitsgefühl zu geben vermag“ (499).

Arendt lässt keinen Zweifel daran, dass die Frage, „ob Gott den Menschen oder die Völker schuf“, in der Tat für jede politische Philosophie von grundsätzlicher Bedeutung ist. Gleichwohl ist für sie klar, dass alle Völker „offenkundig das Resultat menschlicher Organisation“ sind (497).

Der Ruf nach "Deutschlands Wiedergeburt": Das Hambacher Fest (1832:)

So entstehen Arendt zufolge Nationen überall da, „wo Völker begannen, sich als geschichtliche und kulturelle Einheiten zu verstehen, die auf einem bestimmten, ihnen zugewiesenen Siedlungsgebiet beheimatet und verwurzelt sind, weil auf ihm die Geschichte ihre für alle sichtbaren Spuren hinterlassen hatte, so dass die Erde selbst, so wie sie in Feld und Acker und Landschaft von menschlicher Bestellung erzeugt wurde, auf die gemeinsame Arbeit der Vorfahren und das gemeinsame, an diesen Boden gebundene Schicksal der Nachfahren verwies“ (487).

Entscheidend ist für Arendt, dass der Nationalstaat seit den Tagen der Französischen Revolution den Anspruch vertrat, „das Volk im Ganzen zu repräsentieren“, so dass auf diese Weise zwei Faktoren, „nämlich nationale Zugehörigkeit und Staatsapparat, miteinander verschmolzen und im nationalen Denken miteinander identifiziert wurden.“ So bestand die höchste Funktion des Staates darin, den gesetzlichen Schutz „aller Einwohner des Territoriums ist, ohne Rücksicht auf deren nationale Zugehörigkeit“ (487f)

Für Arendt besteht die Tragödie des Nationalstaates darin, „dass das Nationalbewusstsein der Völker gerade mit dieser höchsten Funktion des Staates in Konflikt geriet, insofern als es im Namen des Volkswillens verlangte, dass nur diejenigen als vollgültige Bürger in den Staatsverband aufgenommen werden sollten, die durch Abstammung und Geburt dem als wesentlich homogen angenommenen Körper der Nation zugehörten.“

Dadurch wurde der Staat “aus einem gesetzgebundenen und Gesetzlichkeit schützenden Apparat zu einem Instrument der Nation. Die Nation setzte sich an die Stelle des Gesetzes“ (488).

Moderner völkischer Nationalismus in Katalonien

Auf dem Spiel steht nicht mehr und nicht weniger das politische Verständnis von Gleichheit der Menschen: Für Arendt sind „Menschen ungleich, was ihren menschlich-natürlichen Ursprung angeht, so wie die Völker sich wesentlich voneinander durch verschiedene Organisationen und geschichtliche Schicksale unterscheiden. Ihre Gleichheit ist nur eine Gleichberechtigung, und diese kann sich nur dort verwirklichen, wo Menschen sich so miteinander verständigen und einrichten, dass sie sich solche Gleichberechtigung garantieren“ (497).

Genau diese Gleichberechtigung bzw. ihre rechtliche Garantie durch die staatlichen Institutionen geht in der `Eroberung des Staates durch die Nation´ unwiderruflich verloren, weil „das einzig verbliebene Band zwischen den Bürgern eines Nationalstaates … nun das Nationale, die gemeinsame Abstammung“ war:

„In einem Jahrhundert, in dem jede Schicht der Bevölkerung von ihren partikularen Klassen- und Gruppeninteressen beherrscht war und Politik sich in der tat in dem Widerstreit solcher Interessen erschöpfte, erschien daher das gemeinsam nationale Interessen nirgends garantiert zu sein außer in der gemeinsamen Abstammung, dem der Nationalismus als eine bestimmte, allen Klassen und Gruppierungen gemeinsame Gesinnung entsprach“ (489).

Als die Nation schließlich den Staat erobert hatte, wurde offensichtlich, dass nationale Interessen allen Erwägungen juridischer Art überzuordnen waren, dass mit anderen Worten `Recht ist, was dem eigenen Volke nützt´. „Die Sprache des Mobs drückte hier wie auch sonst nur das in brutaler Offenheit aus, wovon die öffentliche Meinung ohnehin überzeugt war und dem die öffentliche Politik, wenn auch mit Zurückhaltung, ohnehin Rechnung trug“ (575)

Das Ergebnis dieses historischen Prozesses ist bekannt: „Sobald das immer prekäre Gleichgewicht zwischen Nation und Staat, zwischen Volkswillen und Gesetz, zwischen nationalem Interesse und legalen Institutionen verlorenging zugunsten einer immer chauvinistischer werdenden Nation und von Interessen, die oft nicht einmal mehr im wahren Interesse der Nation lagen, erfolgte die innere Zersetzung des Nationalstaates mit großer Geschwindigkeit, wobei man sich klar sein muss, dass Geschwindigkeit historisch nach Jahrzehnten und nicht nach Jahren oder Monaten zu berechnen ist. Und diese Zersetzung begann in genau dem historischen Augenblick, als zum ersten Mal das Recht zur nationalen Selbstbestimmung in ganz Europa anerkannt worden war. Dies hieß eben auch, dass der Vorrang des nationalen Volkswillens von allen legalen Institutionen und `abstrakten´ Maßstäben in ganz Europa akzeptiert worden war“ (575).

Selbstinszenierung des Völkischen Nationalismus: Lichtdom auf dem Reichsparteitag der NSdAP, "Parteitag der Ehre" (eröffnet am 8.9.1936 in Nürnberg)

Nachtrag vom 13.09.2013:
Für die Europäische Komission ist Katalonien nicht nur die korrupteste Region Spaniens, sondern nimmt unter den 172 Regionen Europas den 130. Rang ein. Wen wundert es?
  
Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper), v.a. S. 482ff

Donnerstag, 11. Juli 2013

Rudyard Kipling die imperialistische Legende Englands

Joseph Rudyard Kipling (1865-1936)
Als Rudyard Kipling 1907 den Nobelpreis für Literatur erhielt, war er nicht nur der erste britische Schriftsteller, sondern auch der bis dahin jüngste Autor, dem diese Ehrung zuteil wurde. Kipling erwarb seinen Ruhm vor allem als hervorragender Erzähler und Verfasser von Kurzgeschichten. Seine Kinderbücher – u.a. Das Dschungelbuch – gehören zu den Klassikern des Genres.

Obwohl er zu den populärsten englischen Schriftstellern zählte, nahmen seine Popularität und auch sein literarischer Erfolg nach dem Ersten Weltkrieg stark ab. Das hatte einen einfachen Grund, wie Jorge Luis Borges im Vorwort zum Sammelband „Das Haus der Wünsche“ schreibt: „Kipling wurde als der kritische Barde des Britischen Weltreichs katalogisiert. Das hat an sich nichts Unehrenhaftes, aber es genügte, um seinen Namen zu schmälern, vor allem in England. Seine Landsleute haben ihm niemals ganz seine ständigen Bezugnahmen auf das Imperium verziehen.“

In diesem Kontext geht auch Hannah Arendt in ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) auf Kipling ein, den sie als „Schöpfer der imperialistischen Legende“ bezeichnet.

Legendäre Darstellungen der Geschichte haben Arendt zufolge schon immer den Zweck, „an Tatsachen und Ereignissen nachträglich Korrekturen vorzunehmen, welche die Geschehenskette, in deren Verantwortlichkeit der Mensch unabhängig von bewusster Tat oder voraussehbarer Konsequenz eingespannt ist, menschlich erträglicher machten“.

Das Wasser (Vor Anker liegende englische Schiffe)

Denn die Wahrheit dieser alten Legenden liegt in dieser „von Menschen gestiftete Helle, in der allein die Völker es ertragen können, vergangenes Geschehen als ihre Vergangenheit anzuerkennen, in der sie Herren wurden über das, was sie nicht getan hatten, oder fertig wurden mit dem, was sie nicht ungeschehen machen konnten.“

Legenden gehören nicht nur zu den frühesten Erinnerungen des Menschengeschlechts, sondern sind geradezu der Beginn der menschlichen Geschichte. Eine besondere Blüte erlebte die Legende im Rahmen der national gebundenen Gründungslegenden im 19. Jahrhundert. Für Arendt ist Kipling der Schöpfer der imperialistischen Legende Englands, „ihr Thema ist das englische Weltreich; und ihr Resultat ist der imperialistische Charakter.“

Im Falle des imperialistischen Charakters Englands zeichnet sich dieser durch ein Verantwortungsbewusstsein aus, „das aus der Überzeugung entsprang, dass man mit prinzipiell unterlegenen Völkern zu tun hatte, die man einerseits zu schützen in gewissem Sinne die Pflicht hatte, für die aber andererseits niemals die gleichen Gesetze gelten können wie für das Volk, das man selbst in dieser Herrschaft vertrat.“ – eine Beobachtung, die eine erstaunliche Nähe aufweisen zu den Anmerkungen von Karl Marx über die britische Herrschaft in Indien.

Der Wind (Englisches Kriegsschiff Great Harry)

Die Gründungslegende des englischen Weltreiches, wie Kipling sie in der Erzählung „The First Sailor“ präsentiert, beginnt mit den natürlichen Grundbedingungen des britischen Volkes. „Umgeben vom Meer, bedürfen sie des Beistandes der drei Elemente: des Wassers, des Windes und der Sonne; und sie verbünden sich mit diesen Elementen durch die Erfindung des Schiffes. Das Schiff trägt das gefährliche Bündnis mit den Elementen und macht die Engländer zu den Herren der Welt.“

„You’ll win the world without anyone caring how you did it: you’ll keep the world without anyone knowing how you did it: and you’ll carry the world on your backs without anyone seeing how you did it. But neither you nor your sons will get anything out of that little job except Four Gifts—one for the Sea, one for the Wind, one for the Sun, and one for the Ship that carries you …

For, winning the world, and keeping the world, and carrying the world on their backs—on land, or on sea, or in the air—your sons will always have the Four Gifts. Long-headed and slow-spoken and heavy—damned heavy—in the hand, will they be; and always and always a little bit to windward of every enemy—that they may be a safeguard to all who pass on the seas on their lawful occasions.” (Kipling, The First Sailor)

Die Sonne (Zwei Kriegsschiffe und kleinere Küstenfahrzeuge vor Anker auf der Themse bei Greenwich)

Die Erzählung – aufgrund ihrer Verspieltheit in eigentümlicher Nähe zu antiken Gründungslegenden – stellt den Engländer als das einzige politisch erwachsene Volk dar, „dem darum die Sorge um das Wohlergehen der Welt zur Last gelegt werden kann, während die übrigen Völker offenbar so schwach sind, dass sie eines Beschützers bedürfen, oder so barbarisch, dass sie die großen Kommunikationswege der Erde nur stören und gefährden können. Politisch jedenfalls sind sie alle so unerfahren, dass sie weder wissen, was die Welt zusammenhält, noch sich darum scheren.“

Das Problem dieser mythischen Verklärung war, das ihm wohl der Schein einer echten Legende eigen war und dennoch der Trug allzu offensichtlich wurde, denn „die Welt wusste und sah genau, „wie sie es machten“, und die schönste Sage hätte ihr nicht weismachen können, dass die Engländer aus diesem `little job´ nichts für sich selbst herausholten.“
  
Zitate aus: : Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper), v.a. S. 443ff  -  Rudyard Kipling: The First Sailor, in: A Book of Words. For my friends known and unknown. Selections from speeches and addresses.  Delivered between 1906 and 1927 (1928)

Weitere Literatur: Rudyard Kipling: Das Haus der Wünsche. Eine Sammlung phantastischer Literatur. Erzählungen. Vorwort von Jorge L. Borges, in: Die Bibliothek von Babel, Bd.13, Frankfurt 2007 (Edition Büchergilde)


Donnerstag, 4. Juli 2013

Richard Herzinger und die Illusion einer direkten Demokratie

Dass Bürger mit einzelnen Maßnahmen oder mit der gesamten Politik ihrer Regierung unzufrieden sind, ist eine alltägliche, in allen Ländern der Welt zu beobachtende Gegebenheit.

Wenn Menschen also nach der Rechtfertigung konkreter politischer Entscheidungen fragen oder gar den Sinn einer staatlichen Ordnung überhaupt in Zweifel ziehen, dann geschieht das vor der schlichten historischen Tatsache, dass politische Herrschaft einerseits der Gefahr der Korruption ausgesetzt ist, andererseits auch zu Zwecken der Unterdrückung benutzt werden kann. 
  
Legitimation politischer Herrschaft über den Gesellschaftsvertrag
(Titelbild des "Leviathan" von Thomas Hobbes´ - 1651)

In der Philosophie führen diese Gedanken in  das Zentrum des Legitimationsproblems politischer Herrschaft. Neben den klassischen Legitimationsmodellen stellt sich heute vielerorts die Frage, ob sich ein Staat seine Legitimation immer wieder durch die aktive Zustimmung seiner Bürger bestätigen lassen muss – auch und gerade durch neue Formen der Zivilgesellschaft, die meist unter dem Begriff „direkte Demokratie“ gehandelt werden.

In seinem ZEIT-Artikel „Die wirklichere Wirklichkeit. Auf dem Weg in eine Gesellschaft ohne Institutionen?“ (erschienen im Mai 2000) hat der Literaturwissenschaftler, Journalist und Publizist Richard Herzinger die westliche Demokratie mit ihrem Liberalismus, Individualismus und den Institutionen der parlamentarischen und repräsentativen Demokratie verteidigt. Im gleichen Zug kritisiert er Formen einer direkten, nicht durch Institutionen vermittelten Demokratie, weil in ihnen – so seine durchaus provokante These – vormoderne und autoritäre Vorstellungen einer `Volksgemeinschaft´ zum Ausdruck kämen.

Herzinger geht davon aus, das „Direkte Demokratie“ mittlerweile in der Politik zum Zauberwort aufgestiegen ist: „Mehr Bürgerbeteiligung soll die Entfremdung der politischen Klasse vom obersten Souverän, dem Volk, aufheben. Vorwahlen, Urabstimmungen, Volksentscheide sollen den entscheidungsschwachen Politikern Beine machen, die parlamentarische Kandidatenauswahl transparenter werden lassen und die Gesetzgebungsprozeduren beschleunigen.“

Dabei ginge man davon aus, dass sich unser Land im rasanten Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft die unflexible politische Apparatur des institutionellen Parlamentarismus nicht mehr leisten kann. Wenn dann aber gefragt würde, wer mit „Klüngelwirtschaft und Selbstbedienungsmentalität der Volksvertreter und Parteifunktionäre“ aufräumen solle, dass hieße es: "`Das Volk´ - `Der Bürger´ Denn der, so tönt es, weiß am besten, was gut für alle ist. Und soll die politische Profikaste jetzt unmittelbar anweisen, was sie zu tun oder zu lassen hat.“

Die Prämisse direkter Demokratie: "Systemfehler - Bitte neustarten!"

Es scheint also, dass mittlerweile nicht nur linksutopische Basisdemokraten oder rechte Populisten vereint nach der herrschaftsfreien Demokratie rufen würden, sondern auch führende Vertreter der staatstragenden Parteien.

Das Problem jedoch sei, dass die „Verwischung der Grenzen zwischen institutionell getrennten Sphären“ nicht Öffentlichkeit und damit die Transparenz der Macht fördere, sondern sie zerstöre. „Just aber, da die Basisdemokraten das einzusehen beginnen, schlagen die alten Parteien diese Erfahrung rhetorisch in den Wind.“

Gegenüber den „Segnungen der direkten Demokratie skeptisch zu sein“ bedeutet in einem recht einfachen Sinne zuzugestehen, dass es `das Volk´ als eine Einheit in Wirklichkeit gar nicht gibt, „weder als unverdorbene authentische Substanz der Nation noch als unmündigen, maßlosen `Pöbel´ oder als Summe konsumhöriger `Herdentiere´, wie es die kulturpessimistischen Kritiker der Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts an die Wand gemalt haben.“ In der Tradition der liberalen Auffassung vom Rechtsstaat  existiert `das Volk´ dagegen „nur als ein gedachtes Ganzes und nur im Augenblick des Wahlakts. In dieser Situation bildet die Summe aller Wahlberechtigten ein ideelles Subjekt als oberster Souverän.“

Wahlen

Zwischen den Wahlen aber sei `das Volk´ ein fiktiver Begriff, denn nun  könne man nur `den Bürgern´ sprechen mit all ihren gegensätzlichen Interessen und Bedürfnissen: „Individuen also, die nicht mehr oder weniger prinzipienfest oder korrupt sind als die Personen, die von ihnen in öffentliche Ämter gewählt werden.“

Gerade weil es einen unmittelbar feststellbaren Willen des Volkes nicht gibt, „schaffen die Institutionen der repräsentativen Demokratie öffentliche Räume, in denen sich die diffusen Einzelinteressen und subjektive Meinungen zu objektivierbaren politischen Argumenten umbilden können. Erst wo ein solcher Raum entsteht, kann in Umrissen so etwas wie ein Gesamtwille sichtbar werden.“

Herzinger lässt hier keinen Zweifel: Nicht die repräsentativen Institutionen seien eine Abstraktion vom konkreten Willen des Volkes, sondern umgekehrt: Erst die institutionalisierte Demokratie verwandelt die Abstraktion `Volk´ in ein sichtbares, der Überprüfung unterworfenes Gebilde.

Sicher, wo immer plebiszitäre Formen die Räume verstärken und vergrößern können, in denen sich die Einzelnen im eigenen Namen artikulieren können, mögen sie willkommen sein. „Der Glaube aber, die unmittelbare Artikulation von Überzeugungen könnte politische Entscheidungsprozeduren beschleunigen oder gar ersetzen, ist naiv. In diesem Glauben spricht sich die Illusion aus, Beschlussbeschleunigung bedeute automatisch auch Verfahrensbeschleunigung.“

Abstimmungsverhalten bei der spanischen Bewegung "15-M": "Hände hoch!!!"

Für Herzinger wird diese Täuschung durch die neuen technischen Möglichkeiten, über die jeder Einzelne heute verfügt, noch verstärkt. Die neuesten Verheißungen von Internet-Demokratie und Kampagnen in Sozialen Netzen bleibt letztlich eine Illusion. „Nehmen wir an, es wäre möglich, über alle großen politischen Fragen unverzüglich übers Netz abzustimmen. Dann müsste konsequenterweise auch die potenzielle Möglichkeit für alle gegeben sein, sich über das gleiche Medium schon im Vorfeld in die Diskussion um die Formulierung von Entscheidungsvorlagen und in die Umsetzungsprozeduren gefasster Beschlüsse einzuschalten. Das würde die Komplexität von kollektiven politischen Willensbildungsprozessen ins Ungeahnte steigern und sie keineswegs vereinfachen.“

Die Konsequenz aus diesen Überlegungen ist überraschend einfach: Politik müsse sich wieder schärfer als das Feld eines geregelten öffentlichen Wettbewerbs der Ideen und Handlungsvorschläge ins Spiel bringen. Dabei ginge es weder um „das zwanghafte Streben nach `Glaubwürdigkeit´“ noch um „die Beteuerung, es handele sich bei Politik um eine simple Angelegenheit des gesunden Menschenverstands.“

Vielmehr müsse es in der Politik wieder mehr darauf ankommen, dass auf die argumentative Überzeugungskraft öffentlicher Personen und Zusammenschlüsse gesetzt wird, „die es wagen, sich für fehlbare, aber gleichwohl deutlich formulierte Zielvorstellungen in den komplizierten, endlosen Konflikt der Interessen und Werte zu begeben, der eine offene Gesellschaft prägt.“

Zitate aus: Richard Herzinger: Die wirklichere Wirklichkeit. Auf dem Weg in eine Gesellschaft ohne Institutionen?, in: Die Zeit, 18. Mai 2000