Donnerstag, 31. Dezember 2015

Carlo Strenger und die zivilisierte Verachtung (Teil 2)

Die politische Korrektheit

Carlo Strenger (*1958)
Eine ständige Gefährdung für die Prinzipien der Aufklärung und der liberalen Demokratie geht von der Idee der politischen Korrektheit aus. Dies jedenfalls behauptet der schweizerisch-israelische Psycho-loge und Philosoph Carlo Strenger in seiner kleinen Kampfschrift „Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit.“

Die Grundgedanken der politischen Korrektheit beschreibt Strenger hier als die Idee der „Gleichberechtigung aller Kulturen, Glaubenssysteme und Lebensformen sowie das prinzipielle Verbot, andere Kulturen moralisch oder erkenntnistheoretisch zu kritisieren. (…) Kritik ist allenfalls an den eigenen Politikern erlaubt.“

Der Aufstieg der politischen Korrektheit fällt zusammen mit dem Ende der europäischen Selbstzufriedenheit im 20. Jahrhundert im Zuge zweier Weltkriege. Für viele westliche Intellektuelle gab es nach 1945 eigentlich keinen Grund mehr, der westlichen Kultur irgendeinen höheren Wert zuzuschreiben. An die Stelle der Ideale der Aufklärung und der liberalen Demokratie setzten viele nun den Marxismus-Leninismus, der auf diese Weise „zum – in Raymond Arons unsterblicher Formulierung – Opium der westlichen Intellektuellen“ wurde, die „nach dem moralischen Bankrott des Zweiten Weltkrieges krampfhaft nach einer Wahrheit suchten, an die sie glauben konnten.“ 

Arthur Koestler (1905 - 1983)
Auf diese Weise wurde Linke wurde „zur Moralpredigerin des Westens“ und behauptete ein ums andere Mal ein, dass der Westen angesichts der Abgründe des Faschismus der Welt kaum etwas zu bieten hätte. „Das marxistische Opium berauschte einen großen Teil der Links-intellektuellen so stark, dass sie hellsichtigen Denkern wie Arthur Koestler, der schon in den vierziger Jahren das Grauen des Stalinismus angesprochen, und Hannah Arendt, die früh grundlegende Gemeinsamkeiten von Faschismus und Kommunismus herausgearbeitet hatte, kein Gehör schenkten. Die Linke hatte nun einmal das Licht gesehen und sich darauf verlegt, die Korrumpiertheit des Westens aus einer marxistischen Perspektive schonungslos anzuklagen.“ 

Auch wenn es dann ab den den späten siebziger Jahren für viele moralisch integere Linksintellektuelle praktisch nicht mehr möglich war, Kommunisten zu bleiben, hatten viele von ihnen „den Habitus des schonungslosen Kritikers des Westens allerdings derart verinnerlicht, dass sie ihn nicht einfach zusammen mit dem Marxismus über Bord werfen konnten.“ Doch welche Alternative bot sich den Linksintellektuellen an, nachdem auch der Marxismus seine Glaubwürdigkeit und moralische Überlegenheit eingebüßt hatte? Gab es überhaupt noch eine Alternative zur liberalen, kapitalistischen Demokratie? 

Relativismus: Wenn alles richtig ist, ist alles falsch!
„In diesem Vakuum erschien vielen der postmoderne Relativismus als letzte vertretbare Position. Die Systeme hatten allesamt versagt. Das Einzige, was … in der Postmoderne blieb, war die Skepsis gegenüber sämtlichen großen Narrativen. Darunter fiel auch die Erzählung der Aufklärung, die da lautete, die Menschen des Westens seien seit drei Jahrhunderten dabei, sich und alle übrigen Erdenbewohner aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien, und hätten der Welt Fortschritt, Sicherheit und Wohlstand gebracht. All dies galt den Postmodernen nun lediglich als ein weiteres Beispiel für die bequemen Lügen, die man sich im Westen zurechtgebastelt hatte.“ 

Von daher empfanden es nun viele Intellektuelle als ihre „heilige Pflicht, die Aufklärungslüge und den Mythos der universalistischen Vernunft schonungslos zu entlarven“, eine Bewegung, die nicht auf Europa beschränkt blieb, sondern auch die USA erfasste. Das Problem bestand Strenger zufolge jedoch darin, dass diese an sich wertvollen Impulse „von einer vagen, dabei aber mächtigen Ideologie überschattet wurden, die etwas viel Einfacheres und Radikaleres predigte als die differenzierten Werke vieler Vertreterinnen und Vertreter der Postmoderne: 

Wahrheit, so lautete die Maxime, gibt es nicht. Es gibt nur Standpunkte und Perspektiven. Wann immer eine Theorie, Tatsachenbehauptung oder normative Aussage Objektivität für sich beanspruche, sei dies nichts als ein Versuch, die eigene Position im Machtgefüge zu festigen. Überhaupt sei es illegitim zu behaupten, bestimmte Wissensformen wie zum Beispiel die moderne Wissenschaft seien anderen Weltanschauungen überlegen. Alle Weltbilder hätten denselben Anspruch auf Geltung und dürften keinesfalls kritisiert werden – schon gar nicht vom Westen, der andere Völker und Rassen seit Jahrhunderten unterjocht und andere Kulturen systematisch zerstört habe. 

Von nun an gelte es, jedes Glaubens- und Wertsystem zu respektieren, und zwar schon allein deshalb, weil es ein integraler Bestandteil einer Kultur, eines Volkes oder einer Religion und als solcher konstitutiv für die Identität der entsprechenden Gruppe sei.“ 

Für die westlichen Gesellschaften hatten diese Ideen verheerende Folgen. Dies lässt sich gut aufzeigen an einer Reihe von „Ernstfällen, die den Westen vor die Frage stellten, wie und mit welchem Recht er sich, seine Werte und seine Lebensform verteidigen könne.“ Strenger bezieht sich auf die verschiedenen Terroranschläge gegen Symbole des Westens, beginnt mit den Anschlägen auf das World Trade Center (11.09.2001) bis hin zum Attentat auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo (07.01.2015). 

Das Theorem der politischen Korrektheit stellte sich angesichts dieser Ernstfälle zunehmend als ein systematisches Eigentor heraus, „und wir werden Zeugen, wie sie die Linke, aber auch politische Kräfte des Zentrums lähmt, wenn es darum geht, westliche Werte zu verteidigen.“ Die Ideologie der politischen Korrektheit hat also dazu geführt, dass weite Teile der europäischen und amerikanischen Linken diese Grundpfeiler der Aufklärung nicht länger selbstbewusst und voller Stolz verteidigen. „Stattdessen kasteit man sich wegen der Sünden, die der Westen in der Vergangenheit zweifelsohne begangen hat, permanent selbst.“ 

Dabei könne sich, so Strenger, die Ideologie der politischen Korrektheit noch nicht einmal auf das Toleranzprinzips der Aufklärung berufen, denn „dieses zielte darauf ab, das Individuum vor staatlichen oder kirchlichen Eingriffen in ihre Gewissens- oder Religionsfreiheit zu schützen; als Generalabsolution für alle religiösen, weltanschaulichen und kulturellen Praktiken war dieses Prinzip nie gedacht.“ 

Es geht dem Toleranz gerade nicht darum, jeden Glauben und jede Weltanschauung zu respektieren, sondern es will vielmehr das Recht eines jeden Individuums betonen, nach bestem Wissen und Gewissen zu leben und zu glauben. „Geschützt werden sollte also das Individuum, nicht der Glaube, der selbstverständlich als unverständlich, absurd oder gar lächerlich kritisiert werden konnte.“ 

Indem viele Linke dieses Toleranzprinzip verzerrt und zu einem Werterelativismus umgedeutet haben, haben sie sich letztlich selbst entmachtet, „denn: Wenn andere Kulturen nicht kritisiert werden dürfen, kann man die eigene nicht verteidigen.“ Der Glaube, die politische Korrektheit garantiere das harmonische Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen, ist dagegen eine Illusion. „Kein Mensch kann authentisch respektieren, was er in Wahrheit für unmoralisch, irrational oder ganz einfach dumm hält. Das unausweichliche Resultat ist mangelnde Authentizität.“ 

Wenn Glaube fanatisch wird ...
Auf der anderen Seite sind die selbsternannten geistigen Führer in anderen Teilen dieser Welt nicht einmal ansatzweise bereit, sich ihrerseits an die Spielregeln zu halten: „Muslimische Prediger und ultraorthodoxe Rabbiner haben überhaupt kein Problem damit, den säkularen Liberalismus als leere, unmoralische und sinnlose Lebensform zu diffamieren – zeigen sich aber gegenüber Kritik an ihren Dogmen und Lebensformen höchst empfindlich und finden nichts dabei, wenn ihre Anhänger darauf mit Gewalt reagieren. Wir stehen also vor der absurden Situation, dass der vorgeblich tolerante, faire und für kulturelle Unterschiede sensibilisierte Westen selbst zum Opfer jener Intoleranz geworden ist, die mit der Idee der politischen Korrektheit bekämpft werden sollte. Das nenne ich ein phänomenales Eigentor.“ 

Mit dem Prinzip der politischen Korrektheit wurde der zentrale Grundsatz einer offenen Gesellschaft „Nichts und niemand sollte gegen Kritik gefeit sein“ auf den Kopf gestellt: Bis auf die eigenen westlichen Institutionen durfte nun plötzlich gar nichts mehr „zum legitimen Objekt der Kritik werden, schon gar nicht, wenn es einer nichtwestlichen Kultur entstammte.“ 

„Die Vorstellung, Bachs h-Moll-Messe könne wertvoller sein als irgendein Popsong oder die Musik eines afrikanischen Stammes, fiel dem heiligen Zorn der politischen Korrektheit zum Opfer.“ Diese Eisntellung aber führt für Strenger zu einer intellektuellen Lähmung: „Wenn nichts begründet, aber auch nichts kritisiert werden konnte, war jede Meinung legitim.“ Damit wird aber zugleich auch die Forderung nach einer vernünftigen Begründung von Tatsachenbehauptungen mit dem Hinweis über Bord geworfen, niemand habe das Recht, einen anderen Glauben zu kritisieren, „und überhaupt seien solche Begründungsforderungen nur ein Ausdruck der liberalen Hegemonie jener spirituell verarmten Pseudoelite, welche die großen Universitäten an der Ostküste kontrolliere.“ 

Der Westen: Geist der Kritik,
Individuelle Autonomie,
Ablehnung von Autorität
Wenn aber der Westen seine Werte und seine Lebensweise argumentativ verteidigen will, besteht Strenger nach die einzige Möglichkeit in der Rückbesinnung auf die Prinzipien der Aufklärung. „Der Geist der Kritik, das Beharren auf individueller Autonomie, die Ablehnung jeder Autorität, die sich weigert, sich vertraglich zu binden oder diskursiv zu legitimieren, und das Recht auf den `aufrechten Gang´ sind Ideen, die zwar im Westen formuliert wurden, die aber nicht essenziell an bestimmte Ethnien, Hautfarben oder Religionen geknüpft sind.“ 

(Fortsetzung folgt)

Zitate aus: Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, Berlin 2015 (Suhrkamp)


Donnerstag, 24. Dezember 2015

Birger Priddat und die Direkte Demokratie

Ist die Demokratie als Gesellschaftsmodell unmöglich geworden? Diese Frage ist das Thema der kleinen Schrift „Die unmögliche Demokratie: Machtspiele ohne Regeln“ von Birger Priddat.

Demokratie ... unmöglich?

Ausgangspunkt von Priddats Überlegungen ist eine allgemeine Verunsicherung in der Politik, eine Verunsicherung, die Politiker und Bürger gleichermaßen ergriffen hat: „Inmitten der ausgerufenen Wissensgesellschaft haben wir in einem Kernbereich der Gesellschaft, in der Politik, ein massives Wissensproblem. Nichtwissen regiert. Die Bürger wollen allerdings vom Staat Lösungen, die ihre Zukunft sichern. Können wir aber noch einer Politik trauen, die nicht mehr versteht, was sie entscheidet, und sich somit vor den Bürgern gar nicht mehr verantworten kann?“

Dem Begriff der „Prolokratie“ von Christian Ortner, in der die verblödeten Bürger sich selbst in ihrem Staat überfordern, ohne zu wissen, wie man das finanziert, will Priddat zwar nicht folgen, wohl aber teilt er die Befürchtung, dass die Bürger „allein ihren Leidenschaften frönen und keine Balance zwischen und allgemeinem Interesse beachten.“ So war auch die Kritik der Konsumgesellschaft immer zugleich eine Kritik des vom Konsum geblendeten Individuums, das sich zur Entpolitisierung verführen ließ.

Mit der Ermüdung der Bürger, die die die Parteien beziehungsweise die Politiker nicht mehr für ausreichend führungs- und politikfähig halten, korrespondiert der Wunsch nach Formen direkterer Demokratie. Diese „erscheinen nicht nur staatsbürgerschaftlich als wünschenswert, sondern als Eintrag von Bürgerkompetenz in den Politikprozess und als Ausdruck höherer Gemeinschaftlichkeit.“

Aber in diesem Anspruch verbirgt sich eine Paradoxie: „Aus dem Vorwurf, die parlamentarisch-repräsentativ delegierten Politiker seien nicht in der Lage, eine Politik zu verfolgen, die die Bürger eigentlich wünschen, wird geschlossen, dass dann, wenn die Bürger die Politik machten, die Wünsche Wirklichkeit würden.“

Ausweg Direkte Demokratie?
Unter direkter Demokratie stellen sich viele einen Prozess vor, in dem die Bürger mehr oder weniger die politischen oder Gesetzesinitiativen extra beschließen oder wählen, etwa im Rahmen einer Volksabstimmung. Auf diese Weise würden die Politiker zu unmittelbaren Volksbeauftragten gemacht. Das Parlament als Instanz der Vermittlung verliert dabei an Bedeutung: „Es geht darum, möglichst viele Mitwirkende in einen Entscheidungsprozess einzubinden. Die große Zahl soll das Gewicht des Ergebnisses vergrößern. Masse mal Organisation gleich Legitimität.“

Diese Ausweitung von Demokratie wird nun zusätzlich als ein Prozess der Kontrolle beschrieben, die Politik nur das ausführen zu lassen, was die Bürger wünschen.“

Dabei wird Priddat zufolge gern übersehen, dass Wünsche aber sind einzelne Wünsche sind, „ohne Reflektion der Vernetzung vieler Wünsche zu einem Nexus von Politik, der aus seiner Komplexion heraus viele Wünsche wiederum korrigieren oder gar fallen lassen muss.“

So würde der Traum „von einer extrem ausgedehnten Mitbestimmung in allen Lebenslagen (Wirtschaft, Banken, Eigentum, Bildung, Politik)“ vermutlich in eine kulturelle Überforderung der Gesellschaft münden: „Wer mag das aushalten, wenn er selber ständig an allen Entscheidungen beteiligt ist? Ist man sich über den political stress im Klaren?“

Die delegativ-repräsentative Form der Demokratie dagegen entlastet die Bürger von der Demokratie: „Je mehr Bürger aber in je mehr Lebenslagen direkt demokratisch mitbestimmen, desto komplexer wird ihre Welt (die sie aktiv ja vordem noch gar so betrachtet hatten) und desto unklarer wird auch ihre Urteilskompetenz, weil sie plötzlich Dinge gegeneinander abwägen müssen, deren Verquickung sie kaum oder gar nicht kennen … Das Konfliktpotential erhöht sich – gegeneinander und in sich selber –, die Diskurse werden nicht klarer, sondern interessenüberfrachteter, so dass sich aus diesem Nexus die Führungsfrage in dem Grade neu stellt, den man abgeschafft sehen wollte.“

Überforderung durch Direkte Demokratie: political stress

Jetzt wird an sich selbst delegiert, was früher ins Parlament delegiert wurde. Oder es wird an – meist populistische - Führungen delegiert, die aber nicht führen, sondern nur moderieren dürfen. Dabei verkennen die Theoretiker direkter Demokratien gern, „dass ihre – zum Teil pathetisch vorgetragenen – egalitaristischen Lösungen selber wieder Eliten herausbilden.“

Demokratie braucht also ein Mindestmaß an Organisation: „Organisation meint hier: Verfahren, die in der Lage sind, die Mehrheiten/Minderheiten zu organisieren, die notwendig auch in direkten Demokratien auftreten, nunmehr aber unsortiert nicht-parteilich und nicht auf Regierung gepolt.“

Von entscheidender Bedeutung für eine funktionierende Demokratie ist für Priddat daher die Übernahme von Verantwortung. Für ihn ist Demokratie „ein Verfahren zur Einrichtung einer repräsentativen Macht, die kollektiv bindende Entscheidungen tätigt.“ Dies aber impliziert, „nur solche Entscheidungen zu fällen, die man verantworten kann. Verantworten heißt, auf die Frage, warum man das so und nicht anders entschieden habe, Gründe nennen zu können, die andere, wenn schon nicht billigen, dann doch respektieren können.“

Das Problem aber ist, dass „Demokratie … im Grunde verantwortungslos [ist]. Verantwortung kann nur übernommen werden, indem jemand sagt, dass er sie übernimmt. Sie gilt ad personam … Wer sie übernimmt, muss seine Entscheidungsposition freigeben, wenn er so versagt, dass andere sich nicht mehr an die Entscheidung gebunden fühlen.“

Wenn Verantwortung also konkret bedeutet, im Falle ihrer Übernahme auch zurückzutreten, dann ergibt sich daraus eine Paradoxie, denn Bürger „können nicht von der Demokratie zurücktreten (beziehungsweise von der Berechtigung, an ihr teilzunehmen). Folglich kann nur jemand, der zurücktreten kann, auch Verantwortung übernehmen, womit sich die verantwortliche oder Entscheidungsposition als elitäre ausweist, die auch – und gerade auch – in Demokratien Geltung hat.“

Zwei Seiten der Medaille: Übernahme von Verantwortung
und die Bereitschaft zum Rücktritt

Aus diesem Grunde kann – so Priddat – eine Demokratie nur repräsentativ gestaltet sein, nicht direktdemokratisch: „Denn nur dann, wenn Politiker als gewählte Repräsentanten Verantwortung in der Form übernehmen, dass sie für Fehler die Verantwortung übernehmen und zurücktreten oder abgewählt werden, können sie Verantwortung übernehmen. Jemand, der nicht zurücktreten oder abgewählt werden kann, kann nicht verantwortlich handeln, wenn wir Verantwortung institutionell definieren: dass jemand sich vor anderen rechtfertigen muss für sein Tun.“

Die Formen der direkten Demokratie aber, die die Verantwortung so teilen, dass niemand mehr sie übernimmt, sind dann eben „Strukturen ohne Governance“, die keinen Diskurs über die Geltung bzw. Nichtgeltung von Entscheidungen forcieren. Im verantwortungsvollen Diskurs dagegen gibt es Repräsentanten, „die aus Verantwortung eine Governance entfalten, die im nicht-verantwortungsvollen Diskurs nur kontingent und nicht-stringent erfolgt. Indem sie auf Interessen ausgerichtet sind, sind sie haftbar für deren Verfolgung.“



Zitate aus: Birger Priddat: Die unmögliche Demokratie: Machtspiele ohne Regeln, Frankfurt a.M. 2013 (Campus)

Donnerstag, 17. Dezember 2015

Carlo Strenger und die zivilisierte Verachtung (Teil 1)

Die Aufklärung und das Toleranzprinzip 

Die kleine Kampfschrift „Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit“ des schweizerisch-israelischen Psychologen und Philosophen Carlo Strenger wird von der Motivation getragen, „der relativistischen Tendenz der politischen Korrektheit, die glaubt, alle Positionen, Glaubenssätze und Lebensformen hätten den gleichen Respekt verdient, entgegenzuwirken."

Strenger zufolge haben viele liberal eingestellte Menschen – vor allem auf der linken Seite des Spektrums – nicht genügend Mut, „offensiv für die fundamentalen Werte der offenen Gesellschaft – Freiheit, Kritik und offene Diskussion – einzutreten.“ Wenn aber die Fähigkeit verloren geht, „die eigene Lebensform und ihre Werte argumentativ zu verteidigen, ist der Weg frei für rückwärtsgewandte Rechtsparteien, die die freigewordene Rolle als Verteidiger der freien Welt übernehmen, dabei aber „die zu verteidigenden Werte der Aufklärung, die unsere Gesellschaften im Lauf der letzten Jahrhunderte humanisiert haben, durch Fremdenhass und das Schüren von Ängsten untergraben“ und deren Programm darauf hinauslaufen, dass Deutschland den Deutschen gehört, Frankreich den Franzosen und die Schweiz den Schweizern.

Das Ende des Kalten Krieges bei vielen Menschen die Hoffnung darauf geweckt, die liberale Demokratie stünde nun kurz davor, den Globus gewaltlos zu erobern. Aber „das menschliche Bedürfnis nach klaren Identitäten und absoluten Wahrheiten spülte die Hoffnung auf ein neues, kosmopolitisches Zeitalter hinweg. Die Religionen erlebten ihre Rückkehr auf die Bühne der Weltgeschichte“. Es scheint, dass die Prognose vom Kampf der Kulturen des Politologen Samuel Huntington, wesentlich realitätsnaher ausfällt, als die These, um einiges realistischer als Francis Fukuyamas These, die Geschichte der politischen Ideen sei an ihr Ende gelangt und die liberale Demokratie, der Inbegriff menschlicher Vernunft, habe triumphiert. 

Strenger fordert daher im Anschluss an Ernst Bloch eine Rückbesinnung auf das Wesen der Aufklärung, also auf „einen Prozess, in welchem der Mensch die Angst vor und die Abhängigkeit von äußeren Autoritäten, ob religiös oder politisch, hinter sich ließ, seine Autonomie proklamierte und zum `aufrechten Gang´ fand: Die Mentalität der Unterwerfung wurde durch den Geist der Kritik abgelöst.“

Baruch de Spinoza (1632-1677)
Vor allem Spinoza habe mit seinem Tractatus theologico-politicus aus dem Jahr 1670 deutlich gemacht, dass die Bibel ein Text ist, der mit Hilfe der Vernunft durchleuchtet und analysiert werden müssen, denn „kein Staat habe das Recht, seinen Bürgern einen religiösen Glauben aufzuzwingen, da dieser Privatsache sei. Grundlage jedes Staates sei dabei ein Gesellschaftsvertrag, durch den souveräne Bürger der Exekutive (ob es sich dabei nun um einen Monarchen oder eine andere Regierung handelt) das Recht und die Pflicht übertragen, ihre Sicherheit, Freiheit und ihr Eigentum zu verteidigen – ein Gedanke, den Spinoza von seinem großen Vorgänger Thomas Hobbes übernommen hatte.“ 

Das Prinzip der Toleranz in Glaubensfragen wurde gleichwohl erst möglich durch das „kulturelle Erdbeben der wissenschaftlichen Revolution“, denn hier zeichnete sich immer deutlicher ab, dass es sich bei „Glauben und Wissen um zwei vollkommen unterschiedliche Erkenntnisformen handelte (…) Wo es um historische Tatsachen oder Aussagen zur Schöpfungs- bzw. Naturgeschichte ging, zeichnete sich bald ab, dass man die Bibel nicht wörtlich nehmen durfte.“ 

Insgesamt steht das Toleranzprinzip der Aufklärung auf drei Säulen: dem Machtverlust religiöser bzw. kirchlicher Autoritäten in weltlichen Fragen, dem Prinzip der Freiheit und der Autonomie des Individuums – darin auch der Schutz aller Individuen vor staatlicher oder kirchlicher Willkür – und der Idee der freien Meinungsäußerung, nach der jede Form Kritik nicht durch Repressalien zum Schweigen gebracht werden durfte. 

Vor dem Hintergrund der religiös motivierten Attentate vor allem (aber nicht nur) moslemischer Fundamentalisten müsse immer wieder darauf verwiesen werden, dass die „Idee der liberalen Demokratie und die Grundwerte der Aufklärung … von dem Recht, intellektuelle Kritik zu üben und Satire zu veröffentlichen, nicht getrennt werden [können]; dass dabei mitunter die Gefühle der Kritisierten verletzt werden, lässt sich nun mal nicht vermeiden, ändert aber an dem Recht selbst nichts, ja ist gewissermaßen sogar ein Teil davon.“ 

Die Geschichte der Aufklärung ist gleichwohl keinesfalls frei von Rückschritten und inneren Widersprüchen. So wandelte sich die Französische Revolution recht zügig „von einem Fest der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in eine Tyrannei – es war Robespierre, der das moderne Verständnis des Begriffs »Terror« prägte und diesen systematisch als Herrschaftsmittel einsetzte.“ 

Französische Revolution: Der Terror als Herrschaftsmittel

Aber auch die industrielle Revolution führte gerade zu einer Hochkonjunktur der Menschenrechte. Die schwerste „Sünde des sich als aufgeklärt und zivilisiert gebenden Westens bestand jedoch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein darin, die Vorzüge der Freiheit und der Menschenrechte äußerst ungleich über den Globus zu verteilen.“ In seinem berühmten Gedicht von der „Bürde des weißen Mannes“ sprach Rudyard Kipling von der Verpflichtung des Westens – gemeint war natürlich das britische Empire -, „dem Rest der Welt die Segnungen der Zivilisation zu bringen – eine Vorstellung, die alle europäischen Kolonialmächte teilten.“ 

Dennoch: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnte der Westen voller Stolz zu dem Schluss kommen, „dass er nicht nur das unangreifbare Machtzentrum der Welt darstellte, sondern auch die am weitesten entwickelte Zivilisation in der Geschichte der Menschheit: der Inbegriff jenes Fortschritts, den die Denker der Aufklärungszeit vorhergesagt hatten.“ In den meisten westlichen Staaten hatte das Bürgertum nach und nach vom Adel nicht nur die politische und ökonomische Macht, sondern auch die kulturelle Dominanz erobert. 

Diese europäische Selbstzufriedenheit fiel jedoch im 20. Jahrhundert im Zuge zweier Weltkriege in sich zusammen: „Der Kontinent insgesamt war mit einer grundsätzlichen Frage konfrontiert: Wenn Kant, Goethe, Schiller und Beethoven Deutschland nicht vor dem Naziregime hatten bewahren können und SS-Offiziere sich zu Bach-Fugen entspannten; wenn Descartes, Racine, Voltaire und Victor Hugo Vichy nicht hatten verhindern können; und wenn es möglich gewesen war, dass Dante, Michelangelo, Monteverdi und Puccini mit Mussolini koexistierten, gab es eigentlich keinen Grund mehr, der westlichen Kultur irgendeinen höheren Wert zuzuschreiben.“


Gräberfeld (1. Weltkrieg)

Mit diesem Gedanken begann dann nach 1945 ein Prozess der Selbstkasteiung, bei dem der universalistische Anspruch der Aufklärung „als grundlegende Kulturlüge diffamiert“ wurde. Es war die Geburtsstunde der politischen Korrektheit …

(Fortsetzung folgt)

Zitate aus: Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, Berlin 2015 (Suhrkamp)

Donnerstag, 10. Dezember 2015

Anthony Ashley Cooper - Third Earl of Shaftesbury - und die Probe des Lächerlichen


„Gravitätischer Ernst ist recht eigentlich 
das Wesen des Betrugs und der Heuchelei. 
Er läßt uns nicht nur andere Dinge mißverstehen, 
sondern ist fast stets in Gefahr, sich selbst zu verfehlen.“
(Shaftesbury, A letter concerning enthusiasm)


Es gehört zu den Grundüberzeugungen der Aufklärung, dass jeder Mensch selbst denken kann. Das Problem beginnt jedoch bei denen, die nicht selbst denken oder unabhängig handeln, sondern schlicht das nachmachen und nachsprechen wollen, was man ihnen vorgibt – oder wie Manfred Geier es ausdrückt: „Vormächte lassen sich nicht gern auf offene Gespräche ein, Vorbeter mögen keine Widerrede, und fundamentalistisch stabilisierte Vorurteile haben meist ein stärkeres Beharrungsvermögen als der stets auch riskante Gebrauch des eigenen Verstandes, dessen Urteilsfähigkeit angesichts vielfältiger Problemsituationen immer wieder aufs Neue herausgefordert wird.“

Philosophen lachen in der Regel nicht ...
Wie also soll man mit Menschen vernünftig diskutieren, die nicht bereit sind, sich durch die Kraft der besseren Argumente überzeugen zu lassen, sondern hartnäckig auf ihren vorfabrizierten Urteilen beharren? Wer sich selbst in die Tradition der Aufklärung stellt, kann sie ja nicht überreden und auch nicht gewaltsam gegen sie vorgehen.

Eine Möglichkeit des Umgangs mit „Verbohrten“, bei denen eine freie Denkbewegung offensichtlich nicht mehr möglich oder gewollt ist, bietet das befreiende Lachen: „Es richtet sich gegen die geistigen, religiösen und staatlichen Vormünder, die sich der freien Diskussion und vernünftigen Argumentation entziehen. Es entschärft die Gewalt, die von ihnen ausgeht, und demonstriert, dass man ihnen die geforderte Achtung versagt. Wer über eine Sache lacht, verweigert ihr den nötigen Respekt. Zugleich zeigt dieses Lachen den Nachbetern und unselbständigen Nachfolgern, dass ihr Verhalten lächerlich ist, gemessen an den Möglichkeiten des eigenen Verstandesgebrauchs, der ihnen als Menschenrecht zusteht.“

Nun hat das Lachen in der Philosophie keinen besonders guten Ruf, weil Philosophen in der Regel nicht lachen, sondern mit großer Ernsthaftigkeit dem anstrengenden Geschäft des Denkens widmen. Vielmehr werden Philosophen selbst zum Gespött der Leute, wie in der berühmten Anekdote über Thales von Milet, der beim Anschauen des Kosmos in einen Brunnen fiel. „Du willst ein Philosoph sein?“, fragt Epiktet in seinem „Buch vom glücklichen Leben“. „Dann macht dich darauf gefasst, dass man dich auslacht!“

Anthony Ashley Cooper
Third Earl of Shaftesbury
(
1671 - 1713)
Es war Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, der – als Schüler John Lockes - mit aufgeklärtem Verstand, geistreichem Witz und guter Laune die Vormächte seiner Zeit attackierte und sie einer „Probe des Lächerlichen“ unterzog.

In seinem Letter concerning Enthusiasm (1707) setzt sich Shaftesbury mit dem schwärmerischen Fanatismus der „Kamisarden“ auseinander. Diese französischen Protestanten waren im Winter 1706/07 nach London geflüchtet, wo sie jenen `Geist des Märtyrertums´ verbreiten, mit dem sie auch im katholischen Frankreich ihre Religion praktiziert und damit, so Shaftesbury, `den Geist der Liebe und Menschlichkeit verworfen haben zugunsten eines prophetischen Enthusiasmus, der alles in Flammen zu setzen droht.´

Wie soll man sich nun, so fragt Shaftesbury, gegenüber diesen leidenden Rechtgläubigen verhalten? Soll man sich ernsthaft auf ihren Fanatismus einlassen, mit dem Risiko, auch von ihm angesteckt zu werden? Oder empfiehlt es sich, dem römischen Dichter Horaz zu folgen, dessen Parole Shaftesbury seinem Brief über den Enthusiasmus als Motto voranstellt: „Ridentem dicere verum – Quid vetat? – Lachend die Wahrheit sagen. Wer verwehrt es?“

Die aus den Cevennen stammenden Kamisarden - deren Aufstand nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) zu einem latenten Partisanenkrieg führte und der sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts im sogenannten Cevennenkrieg blutig entlud - halten ganz England mit ihren Eingebungen und prophetischen Ankündigungen eines Tausendjährigen Reichs in Atem. Der Kamisardenführer Elie Marion und seine Glaubensbrüder „verkünden die Zerstörung Londons, predigen Endzeitvisionen, fallen in Trance, sprechen in Engelszungen und geraten in konvulsivische Zuckungen, wobei sie manchmal auch auf den Händen laufen.“ Sie finden immer mehr neue Anhänger, die zu ihrem Glauben konvertieren. Wie soll man mit ihnen umgehen?


Das Kriegsgeschehen in den Cevennen
(C. Dankckerts, Amsterdam 1703)

Man könnte, gibt Shaftesbury ironisch zu bedenken, ihr Märtyrertum verstärken und ihnen die Gunst erweisen, `sie zu hängen oder einzukerkern; wenn wir nur so liebenswürdig sein wollen, ihnen die Gebeine, gemäß ihrer Landessitte, zu brechen, ihren Eifer zu steigern und von neuem die Kohle der Verfolgung aufzurühren.´ Aber diese Blöße will sich kein toleranter Engländer in seinem eigenen Land geben.

Für Shaftesbury gibt es eine viel effizientere Alternative - den Spott. Er erfährt, dass die Komödianten auf dem Jahrmarkt bereits angefangen haben, die Glaubenseiferer als Marionetten zu karikieren: „So weiß ich aus sicheren Quellen, daß sie eben jetzt Gegenstand eines vorzüglichen Possen- oder Puppenspiels auf dem Bartholomäusmarkt sind. Zweifelsohne sind dort ihre fremdartigen Stimmen und unfreiwilligen Bewegungen bewundernswert gut durch die Bewegung von Drähten oder das Blasen von Pfeifen in Szene gesetzt. Denn da die Körper der Propheten, wenn sie sich im Zustande des Weissagens befinden, nicht in ihrer Gewalt sind, sondern (wie sie selbst sagen) rein passive Organe sind, die von einer äußeren Kraft in Bewegung gesetzt werden, haben sie überhaupt nichts Natürliches oder dem wirklichen Leben Ähnliches in ihren Stimmen und Bewegungen.“

Diese spöttische Haltung kann auch in vielen anderen Fällen hilfreich sein. „Denn jeder Mensch, der seinen Verstand richtig und selbständig zu gebrauchen weiß, kann doch erkennen, dass es in der Welt recht närrisch zugeht und vieles lächerlich ist. Shaftesbury überträgt das komödiantische Spiel auf dem Jahrmarkt in den Geist der Aufklärung. Lernen wir lachen. Es gibt kein besseres Heilmittel in moralischen Krisen.“

Damit behauptet Shaftesbury natürlich nicht, dass alles lächerlich ist. Shaftesbury will kein Zyniker sein und er ist auch kein Nihilist. „Für ihn besteht ein großer Unterschied zwischen der Absicht, aus jeder Sache ein Lachen zu pressen, und dem Anspruch, an jeder Sache das zurecht Belachenswerte herauszustellen.“

Aber genau dafür soll der Test of Ridicule - die „Probe des Lächerlichen“ – dienen, denn was wirklich wertvoll und sinnvoll ist, wird sich nicht als lächerlich erweisen lassen; und was man als wirklich lächerlich nachweisen kann, wird gerade viel von dem Wert verlieren, den man ihm irrtümlich zugeschrieben hat, auch, weil man es viel zu lange zu ernst genommen hat.

"Habe Mut, dich selbst der Probe des Lächerlichen zu stellen!"

So richtet sich der Test of Ridicule als kritisches Unterscheidungsmittel „nicht nur gegen einen übersteigerten Enthusiasmus in religiösen Dingen, gegen blinden Glaubenseifer, Schwärmerei außer Sinnen und Verzückung ohne Unterlass. Er lässt sich auch selbstreflexiv auf jeden Menschen anwenden, der seine eigene Urteilskraft oder sein eigenes Naturell einer kritischen Prüfung unterziehen will. Gerade im Hinblick auf das eigene Selbst gibt es noch viel zu tun. Nehmen wir nicht das eigene vernünftige Denken manchmal viel zu ernst und täuschen uns über uns selbst? Habe Mut, dich selbst der Probe des Lächerlichen zu stellen!"

Noch einmal: Es geht Shaftesbury überhaupt nicht darum religiöse Glaubenswahrheiten dem Lächerlichen preiszugeben. Er entwickelt vielmehr ein Verfahren, um die Glaubwürdigkeit von Heilslehren und religiösen Leitfiguren überprüfen zu können. „Der Test of Ridicule dient der kritischen Unterscheidung zwischen den Menschen, denen etwas wahrhaftig wichtig ist, und den bewussten oder unbewussten Betrügern, deren Ernst ihre Unaufrichtigkeit maskiert. Sie gilt es zu entlarven. Gegen sie richtet Shaftesbury die Waffe des spöttischen Lachens, die er für wirksamer hält als den Gegenangriff mit gleichen Mitteln: `Denn ist es nicht verwunderlich, daß Heuchelei und Verstellung es wagen würden, dem Treffen mit einem gewichtigen Feind standzuhalten. Ein ernsthaft und feierlich vorgetragener Angriff, das wissen sie, bedeutet für sie keine so große Gefahr. Nichts verabscheuen und fürchten sie mehr als Heiterkeit und Humor´“
 
Humor und Religion - ein nicht immer einfaches Verhältnis ...

Das aber – und hier sind Shaftesbury von außerordentlicher Aktualität - betrifft vor allem die religiösen Fanatiker, „die vom Geist der Frömmelei erfüllt sind, die ihre scheinoffenbarten Glaubensgewissheiten mit falschem Ernst und Eifer im Volk verbreiten und es dadurch ganz außer Sinnen bringen können. Gegen sie ist der spöttische Scherz das beste Heilmittel.“

"Lachen wir. Ach, wie viele Scheiterhaufen wären erloschen und wie viele entsetzliche Tragödien in der Welt hätten nicht stattgefunden, wenn man bei allen religiösen Streitigkeiten nicht das Lachen und den Humor verloren hätte."


Zitate aus: Manfred Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt, Hamburg 2012 (Rowohlt)   -   Weitere Literatur:  Anthony Ashley Cooper (Earl of Shaftesbury): Ein Brief über den Enthusiamus, Hamburg 1980 (Meiner)

Donnerstag, 3. Dezember 2015

Kant und der Glaube

Kants Religionsschrift
(1795)
Etwa um das Jahr 1792 beginnt Kant die natürliche Religion und den christlichen Glauben „vor dem Gerichtshof der praktischen Vernunft zu verhandeln.“ In kurzer Folge erscheinen „Über das radikal Böse in der menschlichen Natur“ und, ein Jahr später, „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.“

Es ist vielfach behauptet worden, dass Kants Religionsschrift ein Höhepunkt der europäischen Aufklärung ist. Das ist richtig: „Keine andere Schrift zeigt so deutlich, worin ihr kritisches Geschäft besteht. Mit seiner geistigen Kraft, seiner moralischen Gesinnung und seinem sokratisch geschulten Agnostizismus, dass Gottes Existenz weder zu beweisen noch zu widerlegen ist, wendet sich Kant der christlichen Glaubenslehre zu.“

Dabei bedient sich Kant jenes Bildes der Grenze unserer Erkenntnisfähigkeit, das ihm bereits in der Auseinandersetzung mit dem Geisterseher Swedenborg und in der Kritik der reinen Vernunft zur Klärung des Verstandesgebrauchs gedient hat.“

Nun will er die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft philosophisch untersuchen. Dabei geht es ihm nicht darum, die Religion „aus bloßer Vernunft (also ohne Offenbarung)“ abzuleiten. Kant will lediglich das deutlich machen und philosophisch prüfen, „was im Text der für geoffenbart geglaubten Religion, der Bibel, auch durch bloße Vernunft erkannt werden kann.“

Und genau das ist die „revolutionäre Kehre, die den religionskritischen Diskurs der Moderne einleitet und gegen jeden denkbaren Fundamentalismus profiliert. Die Heilige Schrift ist kein göttliches Dogma, dem man bedingungslos zu folgen hat. Sie ist ein Text, der an den Maßstäben der theoretischen und praktischen Vernunft gemessen werden kann.“

Auch die Heilige Schrift muss sich an den Maßstäben
der theoretischen und praktischen Vernunft messen lassen!

Vor diesem Hintergrund analysiert Kant die theologischen Pfeiler wie die Lehre von der Erbsünde und die Erlösungsvorstellungen im Christentum. Er untersucht weiterhin die Kirche als Glaubensinstitution und schließlich die religiösen Rituale (wie Beten, Kirchgang, Opfern, Kasteien, Wallfahrten), „die er mit dem provokanten, gesperrt gedruckten Grundsatz in ihre Grenzen weist: „Alles, was, außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.“

„Wo nicht Prinzipien der Sittlichkeit, sondern statutarische Gebote, Glaubensregeln und Observanzen die Grundlage und das Wesentliche des Glaubens ausmachen“, dort ist der Pfarrdienst ebenfalls nur ein „Fetischdienst.“

Kant lässt keinen Zweifel daran, dass seine kritischen Religionsphilosophie und Moraltheologie im Dienst der Aufklärung steht: In der Vorrede zur Ersten Auflage der „Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft“ plädiert er noch einmal entschieden für den öffentlichen Vernunftgebrauch: „Der Geistliche, der für das Seelenheil seiner Gemeindemitglieder zu sorgen hat, unterliegt zwar kirchlichen Vorschriften, die er nicht verletzen darf. Aber als Gelehrter und philosophierender Theologe, der vor einem Publikum von seinem wissenschaftlich geschulten Verstand öffentlichen Gebrauch macht, muss er volle Freiheit haben. Die Zensur darf keine Zerstörung auf dem Feld der Wissenschaften anrichten.“

Hier taucht wieder der zentrale Gedanke Kants auf, dass nämlich die Moralität der Theologie vorangehen muss. Erst auf der Grundlage der Moral kann sich dann der Glaube entwickeln, „der erst so zu einer echten Religiosität führt, die nicht im ritualisierten Afterdienst erstarrt.“

Der Glauben muss auf der Moralität gründen!
(Marx Chagall: Hiob in der Verzweiflung)
An dieser Stelle findet sich Kants revolutionärer Schiedsspruch zum Hiob-Problem: „Mit dieser Gesinnung bewies er, dass er nicht seine Moralität auf dem Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität gründete: in welchem Falle dieser, so schwach er auch sein mag, doch allein lauter und echter Art, d. i. von derjenigen Art ist, welche eine Religion, nicht der Gunstbewerbung, sondern des guten Lebenswandels, gründet.“

Wenn dagegen die Religion der Moral vorhergeht, wird sie immer nur eine herrschaftliche Position einnehmen und als ein Instrument der Staatsgewalt unter Glaubensdespoten instrumentalisiert werden.

Die Reaktion des Staates ließ nicht lange auf sich warten. Vielleicht hat der 70-jährige Kant den Konflikt mit der Zensur auch bewusst provoziert. „Schon seit einiger Zeit ist ihm bewusst gewesen, dass das Berliner Religionstribunal gegen seine Lehre alle Mittel einzusetzen bereit ist und ihm sogar das öffentliche Schreiben verboten werden soll. Auch der König höchstpersönlich ist daran interessiert, dass dem Treiben des Königsberger Philosophen ein Ende bereitet wird.

Einen letzten Anlass bietet Kants Aufsatz “Das Ende aller Dinge“, der im Juni 1794 in der Berlinischen Monatsschrift erscheint. Nachdem Kant zunächst dogmatische und mystische Lehren von den „letzten Dingen“ wie Ewigkeit, Weltende, Jüngstes Gericht und ewige Ruhe ironisch aufgeklärt hat, „wendet er sich am Schluss gegen die Torheiten des neuen religionspolitischen Kurses. Wenn durch Autorität und Gebote das Christentum als Volksreligion durchgesetzt wird, dann muss es seine „moralische Liebenswürdigkeit“ endgültig verlieren.

Das Preussische Zensuredikt
(1788)
Die Zensurbehörde handelt unverzüglich: Am 1. Oktober ergeht eine Kabinettsorder in Form eines „Königlichen Reskripts“ an Kant, das ihm am 12. Oktober zugestellt wird. Kant darf sich in Zukunft nichts mehr in Religionsdingen zu Schulden kommen lassen. Der König habe schon seit einiger Zeit mit großem Missfallen beobachtet, wie Kant seine Philosophie „zu Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christentums missbraucht“. Das sei unverantwortlich und „gegen Unsere, Euch sehr wohl bekannte, landesväterlichen Absichten“ gehandelt. Nach dieser Ermahnung folgt dann die unverhohlene Drohung: „Wir verlangen des ehsten Eure gewissenhafteste Verantwortung, und gewärtigen Uns von Euch, bei Vermeidung Unserer höchsten Ungnade, daß Ihr Euch künftighin nichts dergleichen werdet zu Schulden kommen lassen, sondern vielmehr, Eurer Pflicht gemäß, Euer Ansehen und Eure Talente dazu anwenden, daß Unsere landesväterliche Intention je mehr und mehr erreicht werde; widrigenfalls Ihr Euch, bei fortgesetzter Renitenz, unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen habt. Sind Euch mit Gnade gewogen.“

In seinem Antwortschreiben, das er vier Jahre später in der Vorrede zum „Streit der Fakultäten“ öffentlich machen wird, setzt sich Kant selbstbewusst gegen die königliche Order zur Wehr. Er ist absolut nicht dazu bereit, die Maxime der Aufklärung aufzugeben. Als Gelehrter unterwirft er sich allein den Regeln der wissenschaftlichen Vernunft.

Nur ihnen ist er bei seiner kritischen Überprüfung der Religion gefolgt. Er hat durchaus „große Hochachtung für die biblische Glaubenslehre im Christentum“, aber nur, sofern diese Lehre mit dem reinsten moralischen Vernunftglauben zusammenstimmt und so „zur Gründung und Erhaltung einer wahrhaftig seelenbessernden Landesreligion“ taugt.

Für Kant ist bewiesen, dass Offenbarungen und historisch überlieferte Beweisgründe nur "zufällig" sind und für eine aufrichtige und ernsthafte Religiosität nicht wesentlich. „Denn nur aus der praktischen Vernunft und ihren sittlichen Maximen kann Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit der Glaubenslehre hervorgehen, „die das Wesentliche einer Religion überhaupt ausmachen, welches im Moralisch-Praktischen (dem, was wir tun sollen) besteht.“

Die Religion vor dem Gerichtshof
der Vernunft verhandeln ...
So schreibt Kant in aller Klarheit: „Allein das selbst gemachte moralische Gesetz in mir ist die Quelle eines Glaubens, der nur aus ihr seine Kraft und Würde beziehen kann.“ So weist der den königlich-ministeriellen Vorwurf, verantwortungslos gehandelt zu haben, mit dem leicht ironischen Hinweis zurück, „weshalb ich auch jetzt in meinem 71sten Lebensjahre, wo der Gedanke leicht aufsteigt, es könne wohl sein, daß ich für alles dieses in kurzem einem Weltrichter als Herzenskündiger Rechenschaft geben müsse, die gegenwärtige, mir wegen meiner Lehre abgeforderte, Verantwortung, als mit völliger Gewissenhaftigkeit abgefaßt freimütig einreichen kann.“


Wir können uns vorstellen, dass Kant der Begegnung mit Gott in dieser Hinsicht gelassen entgegen sah. Allerdings sollte es noch einige Jahre dauern, bis der Höchste Gelegenheit haben sollte, sich von Angesicht zu Angesicht mit Kant über das Verhältnis von Glaube und Moral auseinanderzusetzen.

Zitate aus: Manfred Geier: Kants Welt. Eine Biographie, Hamburg 2004 (Rowohlt)