Samstag, 31. Dezember 2011

Aristoteles und die Eudaimonia


Brueghels berühmtes Bild „Das Schlaraffenland“ bezieht sich auf das im 16. Jahrhundert entstandene Märchen „Das Schlaraffenland“ - wörtlich „Das Land der faulen Affen“ -, ein fiktiver Ort, in dem alles im Überfluss vorhanden ist: 

Das Schlaraffenland - Pieter Brueghel d.Ä. (1525 - 1569) 

„Da sind die Häuser gedeckt mit Eierfladen, und Türen und Wände sind von Lebkuchen, und die Balken von Schweinebraten. Um jedes Haus steht ein Zaun, der ist von Bratwürsten geflochten. Alle Brunnen sind voll süßer Weine, die rinnen einem nur so in das Maul hinein.“

In den Flüssen fließen Milch, Honig oder Wein statt Wasser. Alle Tiere sind bereits vorgegart und bieten sich mundfertig den Hungrigen an: 

„Die Fische schwimmen in dem Schlaraffenlande oben auf dem Wasser, sind auch schon gebacken oder gesotten, und wenn einer ganz faul ist, der braucht nur rufen – so kommen die Fische auch heraus aufs Land spaziert und hüpfen dem guten Schlaraffen in die Hand. Die Spanferkel geraten dort alle Jahr überaus trefflich; sie laufen gebraten umher und jedes trägt ein Transchiermesser im Rücken, damit, wer da will, sich ein frisches saftiges Stück abschneiden kann.“

Genuss gilt als die größte Tugend der Schlaraffen, harte Arbeit und Fleiß werden dagegen als Sünde betrachtet. Das Schlaraffenland ist das Paradies des Nichtstuns.
Auch für die Schlafsäcke und Schlafpelze, die bei uns von ihrer Faulheit arm werden und betteln gehen müssen, ist jenes Land vortrefflich. Jede Stunde Schlafens bringt dort einen Gulden ein, und jedes Mal Gähnen einen Doppeltaler.

Wer gern arbeitet, Gutes tut und Böses lässt, der wird von jedermann verachtet, und er wird Schlaraffenlandes verwiesen. Wer nichts kann, als schlafen, essen, trinken, tanzen und spielen, der wird zum Grafen ernannt. Dem aber, welchen das allgemeine Stimmrecht als den faulsten und zu allem Guten untauglichsten erkannt, der wird König über das ganze Land, und hat ein großes Einkommen.“

Das Märchen und das Bild Brueghels verweisen auf die Frage, was einen Menschen glücklich macht. In der antiken griechischen Philosophie wurden dazu Ansätze entwickelt, die auch heute noch von Bedeutung sind.

Für den Hedonismus erreicht man das Glück durch die Befriedigung der Bedürfnisse. Der Vertreter des positiven Hedonismus, Aristippos von Kyrene (435 - 355 v. Chr.), fordert daher eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ohne Rücksicht auf einschränkende Vorschriften. Der negative Hedonismus in der Tradition Epikurs (341 - 270 v. Chr.) dagegen sieht Glück eher in der Selbstgenügsamkeit (gr. αὐτάρκεια) und in der vernunftgeleiteten Einschränkung der Bedürfnisse, die letztlich ein höheres Maß an Befriedigung verspricht – ähnlich dem modernen „Weniger ist mehr“.
 
Seine klassische Ausprägung erreicht die antike Glücksethik jedoch in Aristoteles´
Eudaimonismus. Ihm zufolge ist die Glückseligkeit dann erreicht, wenn sich drei Glücksformen bei einem Menschen in einem harmonischen Verhältnis befinden (Nikomachische Ethik, I.3.). 
 
Die erste Form ist ein Leben der Lust und der Vergnügungen, die zweite ein Leben als freier und verantwortungsbewusster Bürger. Diese beiden Formen lassen sich auch als vita activa beschreiben. 
 
Die dritte Form des Glücks besteht in der Lebensform eines Forschers und Philosophen, ein Leben, das ganz der geistigen Schau (gr. Θεωρείν = „das Göttliche betrachten“) und der Erkenntnis, also der vita contemplativa gewidmet ist.
 
Mit diesen Glücksformen verbunden ist im aristotelischen Eudaimonismus
der Begriff der „Mitte“, denn das Bemühen um das rechte Maß bei allen unseren Handlungen, Emotionen und Begierden führt direkt zu einem tugendhaften Leben. 

So ist beispielsweise die Tugend der Tapferkeit eine Mitte zwischen den Lastern Tollkühnheit und Feigheit. Die Mitte findet sich also zwischen den Extremen des Zuviel und Zuwenig. Sie ist jedoch keine mathematisch berechenbare Größe, sondern wird situationsanhängig als Beschreibungsmodus verwendet, als „ein Verhalten der Entscheidung, begründet in der Mitte im Bezug auf uns, einer Mitte, die durch Vernunft bestimmt wird und danach, wie der Kluge bestimmen würde“ (Nikomachische Ethik, II.6.).

Im Schlaraffenland ließe sich nach Aristoteles die Glückseligkeit jedenfalls nicht erreichen, bleibt doch das Leben auf die Glücksform der Lust und des Vergnügens beschränkt. Aber wahrscheinlich ließe sich Aristoteles allein schon von den Einreisebedingungen ins „Land der faulen Affen“ abschrecken: „Um das ganze Land herum ist nämlich eine berghohe Mauer von Reisbrei. Wer hinein oder heraus will, muss sich da erst durchfressen.“

Zitate aus: Ludwig Bechstein: Sämtliche Märchen, Düsseldorf 2011 (Artemis & Winkler), im Projekt Gutenberg unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/4510/22 -- Aristoteles: Ethik, München 1991 (dtv) -- Epikur: Brief an Menoikeus, in: Epikur: Von der Überwindung der Angst, München 1983 (dtv)

Weitere Literatur: Hans Sachs: Das Schlaraffenland, im Projekt Gutenberg unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/5222/3 -- Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Bd. 1, Bücher I-VI, Hamburg 2008 (Meiner) -- Jörg Peters und Bernd Rolf: Ethik im Bild, Bamberg 2003 (C.C: Buchner)


Mittwoch, 28. Dezember 2011

Lukian und die Kritik an den Philosophen


Für Lukian ist die Paideia der Vollzug eines gelungenen Lebens. Sie umfasst gleichermaßen theoretisches Studium wie auch praktische Übung und Aneignung und durchdringt den gesamten Menschen und seinen Charakter wie eine zweite Natur.

Lukian (William Faithorne, 1627–1691)
Vor allem aber ist die Paideia niemals nur Mittel zum Zweck. Gleichwohl wird sie von manchen wie eine Maske benutzt, die man zu bestimmten Gelegenheiten aufsetzen kann oder wie eine Rolle, die man je nach Bedarf spielt. Gegen diese Menschen richtet sich die teilweise bissige Kritik Lukians, die er an verschiedenen Stellen seines Werkes formuliert hat.

Zunächst polemisiert Lukian gegen das unproduktive Nachsinnen der Philosophen über irrelevante Fragen. In den „Gesprächen unter Toten“ bittet Diogenes einen Freund, der aus dem Hades wieder in die Welt zurückkehrt, den dortigen Philosophen mitzuteilen, „sie sollen endgültig Schluss damit machen, dummes Zeug zu schwätzen und über das All zu eifern und einander Hörner aufzusetzen und den jungen Leuten beizubringen, solche aussichtslosen Fragen zu stellen“ (83).

In „Das Gastmahl oder die Lapithen“ weitet Lukian seine Kritik an einem falschen Bildungsverständnis auf den bis heute bekannten Typus vom Pseudo-Intellektuellen aus, der zwar viel enzyklopädisches Wissen aus vielen Büchern angesammelt hat, um nach außen gebildet zu erscheinen, der aber in der eigenen Lebenspraxis nichts mit ihnen anfangen kann.

Lukian lässt Lykinos seinem Freund Philon von einem Gastmahl erzählen, zu dem auch einige der bekanntesten Philosophen und Rhetoriklehrer eingeladen waren. Im Laufe des Abends muss Lykinos jedoch enttäuscht feststellen, „dass ein großes Wissen zu überhaupt nichts nutze ist, wenn man nicht auch sein Leben zum Besseren hin ordnet: Jedenfalls musst ich mit ansehen, wie diese Leute, großartig im Formulieren, sich zum Gespött machten, wenn es ans Handeln hing. Dann fragte ich mich, ob vielleicht wahr ist, was viele Leute sagen, dass die Bildung diejenigen, die immer nur in ihre Bücher und auf die Gedanken darin starren, vom Weg der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes abbringt. Jedenfalls waren hier so viele Philosophen versammelt, und das Schicksal wollte es, dass darunter nicht ein einziger ohne Fehl zu sehen war, sondern die einen taten Peinliches, die anderen gaben noch Peinlicheres von sich“ (159).

Die Charaktereigenschaften, die Lukian bei den Philosophen beobachtet, lesen sich wie ein Katalog von Anti-Tugenden: „Prahlerei, Unbildung, Streitsucht, Eitelkeit, absurde Fragen, dornige Argumente, verwickelte Gedanken, aber auch viel Lärm um nichts, einiges an Geschwätz, dummes Gerede, Haarspaltereien, beim Zeus, und andererseits das ganze Geld hier, Genusssucht, Schamlosigkeit, Jähzorn, Luxus und Verweichlichung“ (93 - Gespräche unter Toten).

Ihren Höhepunkt erreicht die Polemik Lukians gegen die falschen Philosophen in der Satire „Der Rhetoriklehrer“, die an Zynismus kaum noch zu überbieten ist. Lukian beschreibt hier die „Ausrüstung“, die sich ein „erfolgreicher“ Philosoph zulegen muss: „Als wichtigstes pack nun Dummheit ein, dann Dreistigkeit und dazu Draufgängerei und Frechheit. Zurückhaltung, Anstand, Bescheidenheit und Scham lass zu Hause, denn sie nützen nichts und schaden nur deinem Zweck.“ (175)

Weiter verspottet Lukian den intellektuellen Schein, mit dem sich die Philosophen umgeben, nur um ihre eigentliche Beschränktheit zu verbergen: „Dann trage einige abseitige und fremdartige Wörter zusammen, die bei den Alten nur selbst belegt sind, und habe sie griffbereit, um sie auf die Anwesenden abzufeuern. Bilde ab und zu auch selbst ein paar neue und merkwürdige Ausdrücke“ (176).

Schließlich attackiert Lukian gleichermaßen die Eitelkeit der Philosophen wie die Leichtgläubigkeit und Manipulierbarkeit des Publikums: „Deine Freunde sollen vor Begeisterung ständig von ihren Sitzen aufspringen und sich so für die vielen Abendesseneinladungen revanchieren, die du ihnen gegeben hast. (…) Es werden nur wenige sein, die dich durchschauen, und die werden meistens aus Gutmütigkeit schweigen“ (178).

So bleibt Lukian schließlich nur die Erkenntnis: „Affe bleibt Affe, auch wenn er Sandalen aus Gold trägt“ (212 – Gegen den ungebildeten Büchernarren).

Zitate aus: Lukian: Gegen den ungebildeten Büchernarren. Ausgewählte Werke, Bibliothek der Alten Welt, Düsseldorf 2006 (Artemis und Winkler)

Donnerstag, 22. Dezember 2011

John Stuart Mill und die Erziehung


J.S. Mill (Foto aus dem Jahre 1865)
In der berühmten Schrift "Über die Freiheit" (1859) von John Stuart Mill findet sich auch folgendes Zitat aus dem Werk "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" (1792) von Wilhelm von Humboldt :

„Der wahre Zweck des Menschen, (…) ist die stetige und harmonische Entwicklung seiner Kräfte zu einem vollkommenen Ganzen. Darum ist ‚das Ziel, wonach jeder Mensch unaufhörlich und mit aller Kraft streben muss (…): Individualität der Kraft und Bildung.’

Dazu aber bedarf es nach Humboldts Ansicht zweier Bedingungen: es erfordert ‚Freiheit’ und ‚Mannifaltigkeit der Situationen’, und daraus entstehen ‚individuelle Kraft’ und ‚mannigfaltige Verschiedenheit’, die sich zu ‚Originalität’ vereinigen“ (94).

Vor dem Hintergrund dieser Gedanken entwirft John Stuart Mill die Idee einer auf Freiheit und Individualität gegründeten Erziehung.

Es ist die Überzeugung Mills, dass der Mensch nur dann ganz Mensch wird, wenn er seine persönliche Natur und Individualität entwickelt und kultiviert.

Mill wendet sich damit grundsätzlich gegen alle gesellschaftlichen Tendenzen, die individuellen Züge des Menschen in Gleichförmigkeit aufgehen zu lassen und die Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen zu behindern.

Der Mensch sei eben keine Maschine, die - nach einem bestimmten Modell gebaut - eine genau vorgeschriebene Arbeit zu verrichten habe. „Sie gleicht vielmehr einem Baum, der wachsen und sich nach allen Seiten ausbreiten möchte, gemäß der Tendenz seiner inneren Kräfte, die ihn zu einem Lebewesen machen“ (97).

Im Hinblick auf die Erziehung kommt dem Staat natürlich eine entscheidende Bedeutung zu. Er kann und soll ein gewisses Maß an Erziehung verlangen und – wenn nötig - auch erzwingen. Dieser Zwang beschränkt sich allerdings lediglich auf die Erfüllung der Schulpflicht, die in England durch William Edward Forsters Elementary Education Act 1870, eingeführt wurde – also 3 Jahre vor dem Tod Mills.

William Edward Forster im Gespräch mit Schulkindern


Die Eltern sind demnach verpflichtet, ihren Kindern eine geistige und körperliche Grundausbildung zu ermöglichen, eine Weigerung gleiche einem „moralischen Verbrechen“ (171).

Voraussetzung für eine Erziehung unter staatlicher Aufsicht ist natürlich, dass ein Land qualifizierte, d.h. ausgebildete Lehrer habe, die eine Erziehung nach dem Prinzip der Freiheit anleiten können und die dafür auch angemessen vergütet würden.

Eine Gefahr sieht Mill jedoch in dem Versuch des Staates, auch die Inhalte und Werte in der Erziehung zu bestimmen und festsetzen zu wollen. Solch eine Erziehung diene nur dem Ziel, "alle Menschen einander anzugleichen“ je nach Geschmack der jeweiligen Regierung „sei dies ein Monarch, die Priesterschaft, eine Aristokratie oder die Mayorität“ (172).

Hier sieht Mill einen „Despotismus über die Geister“ am Werk, der „naturgemäß auch zu einer Tyrannei des Handelns führt“ (172).

Alle Versuche des Staates, das Denken seiner Bürger in bestimmte Bahnen zu zwingen, sind daher von Übel (siehe dazu unten einen aktuellen Nachtrag). Vielmehr habe der Staat lediglich darauf zu achten, dass jeder Mensch ausreichende Kenntnisse besitzt, um einen gegebenen Gegenstand auch kritisch reflektieren zu können:

„Für einen Schüler der Philosophie wäre es z.B. heilsam, wenn er eine Prüfung über die Systeme von Locke und Kant bestanden hätte – auch wenn er keinem von beiden zustimmen könnte. Es gibt auch keinen vernünftigen Grund, weshalb ein Atheist sich nicht über seine Kenntnisse in der christlichen Dogmatik auswiesen sollte. Nur darf man nicht verlangen, dass er sich auch zu diesen Glaubenssätzen bekenne“ (174).

Die einfachste Möglichkeit, der Gefahr staatlicher Beeinflussung aus dem Wege zu gehen, wären jährlich stattfindende Examen, die allein die Aufgabe hätten, Kenntnisse und Fähigkeiten, Tatsachen und positives Wissen, Mathematik und Sprachen zu überprüfen.

In der Prüfung sollte man strittige religiöse oder politische Themen keinesfalls vermeiden, nur sollte man sich „nicht einlassen auf die Frage nach der Wahrheit und Falschheit bestimmter Ansichten“ (174), sondern deutlich machen, wer diese oder jene Meinung aus diesen oder jenen Gründen vertritt.

Mills Gedanken sind also ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Erziehung, die auf Freiheit, Individualität und eigenständigem Denken und Kritikfreudigkeit beruht. Diese Werte haben ihre Gültigkeit in der Pädagogik bis heute nicht verloren.

Nachtrag vom 17.09.2013: 

"Alle Versuche des Staates, das Denken seiner Bürger in bestimmte Bahnen zu zwingen, sind daher von Übel." Dazu passt das aktuelle Beispiel aus Katalonien, die Region im Norden Spaniens, die sich in der Vergangenheit nicht eben durch den Schutz individueller Freiheitsrechte verdient gemacht hat (s. die Einträge vom 18. Juli 2013, 20. Dezember 2012, 20. Juni 2013): 

Einen Tag, nachdem der staatliche katalanische Fernsehsender TV3 12 Stunden reiner Sendezeit der Menschenkette für die Unabhängigkeit Kataloniens (11. September 2013) widmete, sendete TV3 in seinem Kindersender Super3 eine Reportage über eine katalanische Familie, die an der Menschenkette teilnahm. Hauptdarstellerin ist Berta, ein 9jähriges Mädchen, das gemeinsam mit ihren Eltern und den zwei Brüdern für die Unabhängigkeit Kataloniens auf die Straße geht. Mehrere andere Kinder kommen ebenfalls zu Wort. Sergi (14 Jahre) bekräftigt: "Wir kommen hierher um eine Menschenkette für die Unabhängigkeit zu bilden. Um zu fordern, dass sie (gemeint ist die spanische Regierung) uns unabhängig werden lassen." Estel (13 Jahre) erzählt: Ich bin gekommen, um für die Unabhängigkeit zu kämpfen, hier in Katalonien. Wir Katalanen wollen letztlich, dass Spanien sich zurückzieht und uns unabhängig werden lässt." Anna (12 Jahre) behauptet: "1714 hörten wir Katalanen auf, unabhängig zu sein."

Der Nationalismus der katalanischen Regierung ist also ein "gutes" aktuelles Beispiel für den staatlichen Despotismus, der nicht vor der Indoktrination von Kindern und ihrem Missbrauch für politische Zwecke zurückschreckt. Mill hat diesen Missbrauch der Erziehung vor über 150 Jahren eindeutig entlarvt.

Zitate aus: J. S. Mill, Über die Freiheit, Köln 2009 (Anaconda)
Weitere Literatur: Wilhelm Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Stuttgart 1986 (Reclam)

Sonntag, 18. Dezember 2011

Europa und die Erfindung der Volksnationen


In seinem berühmten Vortrag „Was ist eine Nation?“ (1882) formulierte Ernest Renan folgenden Gedanken: „Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eins davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben. (…) Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem fasst sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen.“ (Renan, 34)

Renans Gedanken haben ihre Gültigkeit nicht eingebüßt. Nationen sind geistige Wesen, Gemeinschaften, die in den Köpfen und Herzen der Menschen existieren. Nationen hören auf zu existieren, wenn sie nicht mehr gedacht und gewollt werden. Nationen und Nationalbewusstsein entstehen aus einer gemeinsamen Geschichte, stützen sich auf gemeinsamen Ruhm und gemeinsame Opfer.

Das Nibelungenlied - die teutsche Ilias (Schnorr v. Carolsfeld, Siegfrieds Tod, 1845)

Die Geschichte einer Nation ist zwar entscheidend für ihre Legitimation, allerdings ist diese gemeinsame Geschichte in aller Regel von begrenzter Realität und vielfach „mehr erträumt und konstruiert als wirklich“ (111).

Parallel zur Industrialisierung und damit parallel zur Zerstörung alter Lebensmilieus wuchs im 19. Jahrhundert das Bedürfnis, die Gegenwart aus ihren geschichtlichen Wurzeln abzuleiten: „Alle Lebensbereiche wurden von einer romantischen Vergangenheitssehnsucht überwuchert“ (178). Dieser romantische Geist ergriff ganz Europa und suchte einen neuen kollektiven Lebenssinn, der als Fortführung der „alten Zeiten“ verstanden wurde. Dazu musste die jeweilige nationale Geschichte notwendig standardisiert und damit auch vereinfacht werden.

Vor allem die deutsche Nation wurde im 19. Jahrhundert „aus der Geschichte in Form einer utopischen Projektion begründet“ (179), gerade weil es in der Gegenwart keinerlei Anzeichen für eine nationale Einheit gab.

Dazu wurde sogar eine Wesensähnlichkeit zwischen deutscher Gegenwart und griechischer Antike behauptet. In der Ode „Gesang des Deutschen“ proklamiert Hölderlin: „Noch lebt´s! Noch waltet der Athener Seele, die göttliche, still bei den Menschen“ – gemeint sind die Deutschen.

Daneben erschien das deutsche als „in direkter Nachfolge des germanischen Volks, und alle guten Eigenschaften, die Tacitus bei den Nordvölkern gefunden haben wollte, fanden sich jetzt bei den Deutsch wieder: Treue, Sittsamkeit, Enthaltsamkeit, Tapferkeit, Einfachheit, alles das im Kontrast du den verdorbenen Sitten der französischen Nachbarn“ (181).

Schließlich wurde auch die Geschichte des Mittelalters zur nationalen Leidenschaft: Das Nibelungenlied ging als die „teutsche Ilias“ in die deutsche Kulturlandschaft ein und man träumte offen von der Wiederauferstehung eines deutschen Kaiserreiches voller Glanz und Macht.

Die Geschichte der europäischen Nationen - nicht nur die der Deutschen - wurde letztlich also eher konstruiert als rekonstruiert - vor allem genau dort, wo die historische Kontinuität besonders fragwürdig und zweifelhaft war.

Aber diese historische Selbstvergewisserung hatte nicht nur nationale Integration zum Ziel, sie diente auch zur Legitimation weitreichender Herrschaftsansprüche – und dies gilt bis heute. Man braucht sich nur die politischen und territorialen Ansprüche innerhalb Europas anschauen, um gewahr zu werden, dass das „historische Gedächtnis der Völker oft mörderische Lehren“ (189) erteilt.

Zitate aus: Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 2004 (C.H. Beck) 
Weitere Literatur: Ernest Renan: Was ist eine Nation?, Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne. Reihe EVA Reden, Bd. 20, Hamburg 1996 (Europäische Verlagsanstalt)  ---  Friedrich Hölderlin: "Gesang des Deutschen", in: Gesammelte Werke, Gütersloh 1955 (Bertelsmann), S. 135 

Donnerstag, 15. Dezember 2011

Isaiah Berlin und die Kritik an den Igeln


Unter den Fragmenten des antiken griechischen Dichters Archilochus (ca. 680 – 645) findet sich auch der folgende Vers: πόλλ᾽ οἶδ᾽ ἀλώπηξ, ἀλλ᾽ ἐχῖνος ἕν μέγα (Diehl fr. 103). „Viele Dinge weiß der Fuchs, aber der Igel weiß nur eine große Sache.“

Über den genauen Zusammenhang dieses Verses sind wir immer noch im Unklaren, aber das Fragment dient Isaiah Berlin, dem bedeutenden Vertreter des Liberalismus im 20. Jahrhundert, zur Beschreibung „der tiefsten Unterschiede zwischen Schriftstellern und Denkern und vielleicht zwischen Menschen überhaupt“ (7).

Der Igel weiß nur eine große Sache!
Für Berlin sind Igel Systemdenker, die nur eine große Sache wissen, also „die alles auf eine einzige Einheit beziehen“ (7) auf ein einziges allumfassendes philosophisches System, das mehr oder weniger kohärent ist, „im Rahmen dessen sie verstehen, denken und fühlen“ (7). Für sie existiert nur ein „ein einziges, universales, gestaltendes Prinzip, das allein allem, was sie sind und sagen, Bedeutung verleiht“ (7) und mit Hilfe dessen sie die gesamte Wirklichkeit deuten und verstehen zu glauben.

Platon, Lukrez, Pascal, Hegel, Dostojewski, Nietzsche, Ibsen, Proust und Dante sind für Berlin in unterschiedlichem Maße typische Igel.

Viele Dinge weiß der Fuchs!
Füchse dagegen wissen vieles, sie fühlen sich von einer unendlichen Vielfalt von Dingen angezogen. Sie sind Vielwisser, die „viele, oft unzusammenhängende und sogar widersprüchliche Ziele verfolgen“ (7). Füchse sind in ihrem Denken durch kein monistisches Prinzip, sei es moralisch, ästhetisch oder politisch, gebunden.

„Diese Menschen leben, handeln und denken in einer Weise, die eher zentrifugal als zentripetal zu nennen ist. Ihr Denken ist sprunghaft oder verschwommen, bewegt sich auf vielen Ebenen, und ergreift das Wesen einer großen Vielfalt von Erlebnissen und Gegenständen um ihrer selbst willen, ohne bewusst oder unbewusst den Versuch zumachen, sie mit irgendeiner unabänderlichen, allumfassenden … einheitlichen inneren Einsicht in Einklang zu bringen“ (7f).

Typische Füchse sind nach Berlin Shakespeare, Herodot, Aristoteles, Montaigne, Erasmus, Moliére, Goethe, Puschkin, Balzac und Joyce.

Die Unterscheidung zwischen Füchsen und Igeln dient aber nicht nur zur Differenzierung von Theoretikern, sondern führt direkt zu Berlins Verständnis des Wertepluralismus.

Berlin geht davon aus, dass es zwar bestimmte universelle Werte gibt, die jedoch nicht von universeller Gültigkeit sind, weil sie beispielsweise untereinander nicht kompatibel sind oder häufig auch in direktem Widerspruch zueinander stehen. Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Mitleid, Fairness oder auch Schönheit lassen sich daher nicht in einem geschlossenes Theoriegebäude objektiv anordnen, was aber die Igel stets versuchen.

Jedes Individuum wird daher seine eigene Wertehierarchie erstellen und im Konfliktfall sich für einen Wert entscheiden müssen, abhängig vielleicht von der konkreten Situation, den genauen Umständen und den beteiligten Personen.

Anstatt also nach einem all umfassenden Erklärungsurgrund der Realität zu suchen, sollten wir uns eher an den Füchsen orientieren und die Welt in ihrer ganzen Vielfalt (und Widersprüchlichkeit) erkennen und schätzen lernen.

Nur in einer Welt, in der den Menschen verschiedene und vielfältige Denk- und Handlungsoptionen offen stehen, können Freiheit und Wahlmöglichkeiten der Bürger garantiert und bewahrt werden.

Zitate aus: Isaiah Berlin: Der Igel und der Fuchs. Essay über Tolstojs Geschichtsverständnis, Frankfurt am Main 2009 (suhrkamp)

Weitere Literatur: Isaiah Berlin: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt am Main 2006 (fischer) -- Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit, Frankfurt am Main 2004 (fischer) – Ernst Diehl: Anthologia Lyrica Graeca. 2 Bände., Leipzig 2. Ausgabe 1934–1942 (Teubner)

Siehe zuletzt auch: Amartya Sen in "Die Idee der Gerechtigkeit": "Es gibt tatsächlich Denkschulen, die ausdrücklich oder implizit drauf bestehen, dass alle verschiedenen Werte am Ende auf eine einzige Bedeutungsquelle reduziert werden müssen. Dieses Bestreben speist sich bis zu einem gewissen Grad aus panischer Angst vor `Unvereinbarkeit´ - das heißt irreduzibler Verschiedenartigkeit mehrer Objekte von Wert" (422).

Montag, 12. Dezember 2011

Adamántios Koraís und die Erfindung der Sprache

Ein wichtiges Element einer Nation ist die Sprache. Die Mehrheit der heutigen Nationalsprachen in Europa sind jedoch keinesfalls „aus den uralten Tiefen der Volksseele“ emporgestiegen, sondern waren meist das Ergebnis der Arbeit einiger weniger Intellektueller. Die Entwicklung der griechischen Hochsprache durch Adamántios Koraís ist dafür ein gutes Beispiel.

Adamántios Koraís (1748-1833)
Nach einer kaufmännischen Ausbildung in Holland und Frankreich ließ sich Koraís im Jahre 1788 in Paris nieder. Er wollte sich nun ganz der Literatur widmen und beschäftigte sich mit Themen der Kirche, Schule, Wissenschaft und Politik.

Trotz der Annahme der französischen Staatsbürgerschaft, blieb er seiner griechischen Herkunft treu. Sein Traum war die geistige Wiedergeburt Griechenlands auf der Grundlage einer gemeinsamen Sprache. Schon Ernest Renan hatte in seinem Vortrag „Was ist eine Nation?“ (1882) festgestellt, dass eine Sprache dazu einlädt, sich zu vereinigen (27). 

Koraís ahnte, dass das geschichtliche Bewusstsein der Griechen, ihr hellenistischer Ursprung nur geweckt werden könne, wenn es gelingt, aus der der gesprochenen Volkssprache (gr. δημοτική - Dimotiki) auch eine nationale Schriftsprache abzuleiten. Um dies zu erreichen, fügte Koraís einfach Elemente des klassischen Altgriechisch zur Dimotiki hinzu und entwickelt daraus die „reine“ griechische Hochsprache (gr. καθαρεύουσα  - Katharevousa).

Gleiches lässt sich auch anderen Ländern Europas beobachten. So waren Barbu Paris Mumuleanu (1794-1836) für das Rumänsiche, Ivar Aasen (1813-1896) für das Norwegische, Vuk Stefanovic Karadzic (1787-1864) für das Serbische oder auch Anton Bernolák (1762-1813) für das Slowakische maßgebend bei der Ausbildung der jeweiligen Hochsprache. Die Liste ließe sich verlängern.

Die Mehrheit der Nationalsprachen, die heute so dauerhaft und festverwurzelt in den Kulturen der europäischen Völker erscheinen, entstanden also erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Sie wurden „aus den vagen Regionen der volkstümlichen Umgangssprachen geschöpft und in die strenge Form grammatikalisch standardisierter Schriftsprache gegossen, ja teilweise überhaupt erst erfunden. Und was die Philologen nicht schufen, das stifteten die Dichter …“ (176)

Sicherlich ist jede Sprache ein unersetzbarer Bestandteil des kulturellen Reichtums der Menschheit. Gleichwohl hat eine zu starke Betonung einer Sprache und ihre ausschließliche Berücksichtigung auch ihre Gefahren - wie man gut an dem Streit um die Durchsetzung der Regionalsprachen in Spanien beobachten kann. Hier betreiben die Regionalregierungen mit fragwürdigen Mitteln eine ausschließende Sprachpolitik, die mit formalen rechtsstaatlichen Gleichheitsgrundsätzen nicht mehr viel zu tun hat.

Dazu noch einmal Ernest Renan: „Wenn man zuviel Wert auf die Sprache legt, schließt man sich in einer bestimmten, für national gehaltenen Kultur ein. Man begrenzt sich, ... man verlässt die freie Luft, die man in der Weite der Menschheit atmet, um sich in die Konventikel seiner Mitbürger zurückzuziehen. Nichts ist schlimmer für den Geist, nichts schlimmer für die Zivilisation“ (29).

Zitate aus: Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 2004 (C.H. Beck) --- Ernest Renan: Was ist eine Nation?, Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne. Reihe EVA Reden, Bd. 20, Hamburg 1996 (Europäische Verlagsanstalt) 

Sonntag, 4. Dezember 2011

Phidias und die Harmonie

Der Parthenon ist eines der berühmtesten noch existierenden Baudenkmäler des antiken Griechenlands und eines der bekanntesten Gebäude weltweit. Der Tempel für die Stadtgöttin Pallas Arthene beherrscht als zentraler Bau seit fast 2.500 Jahren die Athener Akropolis.

Die Bauzeit des Parthenon betrug nur 9 Jahre, war also für damalige Verhältnisse ungewöhnlich kurz. Die Arbeiten begannen auf Initiative des  Perikles im Jahre 447 v. Chr. und endeten 438 v. Chr., die Baudekoration aber wurde erst 433 v. Chr. fertig gestellt.

Plutarch vermittelt uns ein eindrucksvolles Bild von der Bandbreite der Fachkräfte, die benötigt wurden, um den Tempel in so kurzer Zeit zu errichten: Zimmermänner, Schmiede, Steinmetze, Vergolder, Weichmacher des Elfenbeins, Maler, Stucker, Dreher, Gehilfen, Vorarbeiter, Kauf- und Seeleute und Steuermänner, Fuhrleute und Pferdezüchter, Seil- und Tuchmacher, Lederarbeiter, Straßenbauer und Minenarbeiter (Plutarch, Perikles, 12f).

Die besten Künstler der Zeit waren in den Bau des Parthenon involviert. Die Bauaufsicht führte Phidias, der wohl berühmteste Bildhauer der Antike. Er überwachte die bildhauerischen Arbeiten und führte sie zum Teil selbst aus. Die Architekten des Tempels waren Iktinos, der auch den Apollontempel von Bassae errichtete, und Kallikrates, der später den Tempel der Nike auf der Akropolis erbaute.

Für die Maßstäbe der Athener war der Parthenon ein riesiges Gebäude, für uns heute ist er vielleicht nur ein mittelgroßes.

Was ihn aber einmalig macht, ist die Qualität seiner Konstruktion und nicht seine Dimension. Dabei sind es noch nicht einmal die Statuen, die den Parthenon ursprünglich schmückten, die seine Einzigartigkeit ausmachen.

Restaurationsarbeiten am Parthenon

Man begreift seine Qualität, wenn man die Fugen betrachtet, die sich zu vielen tausend Quadratmetern perfekt zusammengefügten Marmors addieren.

An den Stellen, an denen der Marmor abgesplittert ist, kann man heutzutage etwas tiefer unter der Oberfläche die Fugen entdecken, die noch immer perfekt sind. Früher waren sie für das Auge unsichtbar.

Die Ἁρμονία, also die Harmonie, wie man sie nannte, bedeutete die gute Fügung des Marmors. Das war die erste Bedeutung des Wortes. Erst später bekam das Wort Harmonie eine Bedeutung auch für die Musik. Hier bezeichnet Harmonie auch die gute Fügung - nun von Musiktönen.

Heute sind die Fugen sichtbar und das ist hauptsächlich auf die Korrosion der Oberfläche zurückzuführen.

Die Verkehrsbelastung in Athen hat zwar in den letzten Jahren abgenommen, auch der früher tägliche Smog im Sommer ist seltener geworden. Trotzdem ist die Konservierung des Parthenon längst nicht abgeschlossen, sondern wird wohl noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen.

Quelle: Schauplätze der Weltkulturen - Athen, Ursprung der Demokratie, Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks, München o.J. (Komplett Media)
Weitere Literatur: Plutarch: Große Griechen und Römer. Ausgewählte Lebensbilder, hg. und übersetzt von Dagobert von Mikusch, Köln 2009 (Anaconda)

Sonntag, 27. November 2011

Lukian und die Paideia


„Lukians Traum“ gehört ohne Zweifel zu den schönsten Erzählungen des Altertums. Sie wurde von Lukian aus Samosata im 2. Jh. verfasst und trägt eindeutig autobiographische Züge. 

Lukians Traum (Druck Valentin Curio, Basel 1522)

Lukian erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der als Lehrling in eine Bildhauerwerkstatt eintritt, aber schon am ersten Tag eine Steinplatte zerbricht und dafür furchtbar verprügelt wird.

In der folgenden Nacht hat er einen Traum, in dem ihm zwei göttlich anmutende Frauen erscheinen: Die eine der beiden, die Bildhauerkunst, verspricht dem jungen Mann ein Leben häuslicher Redlichkeit, das zu einem guten Auskommen und Verehrung durch die Menschen führe. Die andere Frau, die Bildung (Paideia), lockt den Mann mit folgenden Worten:

„Ich, mein Sohn, bin die Bildung. (…) Folgst du mir, so werde ich dich vor allen Dingen mit allem, was die edelsten Menschen der Vorwelt Bewundernswürdiges gesprochen, getan und geschrieben haben, und überhaupt mit allem, was wissenswert ist, bekannt machen.

Dein edelstes Teil, dein Herz, werde ich mit Mäßigung, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Sanftmut, Billigkeit, Klugheit und Standhaftigkeit, mit der Liebe zum Schönen und mit dem Streben nach jeder Vollkommenheit zieren; denn diese Tugenden sind der Seele wahrer, unvergänglicher Schmuck. (…) mit einem Worte, ich will dich in allen göttlichen und menschlichen Dingen, und zwar in kurzer Zeit, vollständig unterrichten.“ (19)

„Lukians Traum“ ist der berühmten Erzählung „Herkules am Scheideweg“ des Sophisten Prodikos von Keos (5. Jh. v. Chr.) nachgebildet, die Xenophon in seinen „Erinnerung an Sokrates“ überliefert hat. Während Herkules jedoch zwischen der Tugend und der Lust wählen muss, steht der junge Mann hier vor der Entscheidung, sein weiteres Leben einem ehrlichen Handwerk oder der Bildung zu widmen.

Nur: Worin besteht diese Bildung, von der Lukian hier spricht?

Zum einen handelt es sich ein Wissen, das durch Lektüre und Studium der literarischen Werke der „Vergangenheit“ erworben wird. Dieser rhetorische Unterricht gehörte in der Antike zur ganz normalen schulischen Grundausbildung.

Zum anderen zielt Paideia auf eine ethische Bildung, auf die Aneignung eines an Werten orientierten Denkens und Handelns. Dies geschah meist unter der Anleitung eines Philosophielehrers, der nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch durch seine Persönlichkeit und Autorität, durch Glaubwürdigkeit und Charisma auf seinen Schüler und dessen Lebensführung einwirken sollte.

Paideia beruht also gleichermaßen auf theoretischem Studium wie auf praktischer Übung und Aneignung - und sie ist niemals nur Mittel zum Zweck. Sie ist weder eine Rolle, die man je nach Bedarf spielt, noch eine Maske, die man zu bestimmten Gelegenheiten aufsetzen kann.

Paideia ist vor allem gelungenes Leben, sie ist das Ideal einer Bildung, die den gesamten Menschen und seinen Charakter durchdringt wie eine zweite Natur. Die Hingabe an dieses Ideal aber erfordert eigene Urteilskraft ebenso wie die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen.

An diesem Grundgedanken der Bildung hat sich bis heute nicht viel verändert.

P.S. Der junge Mann entschied sich natürlich ebenso wie Lukian für die Paideia.


Zitate aus: Lukian: Der Lügenfreund und andere phantastische Erzählungen. Bibliothek der Antike, München 1990 (dtv)

Weitere Literatur: Lukian: Gegen den ungebildeten Büchernarren. Ausgewählte Werke, Bibliothek der Alten Welt, Düsseldorf 2006 (Artemis und Winkler) --- Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Düsseldorf 2003 (Artemis und Winkler)

Montag, 21. November 2011

Hellas und die Kulturbildung aus Freiheit


Immer wieder wird in wichtigen politischen Debatten die Frage nach der kulturellen Identität Europas aufgeworfen. Darin eingeschlossen ist die Frage, welchen Anteil die antike Tradition an der kulturellen Identität Europas besitzt und worin das Eigene und Unverwechselbare in der kulturellen Innovation der Griechen bestand.

Für Christian Meier steht fest, dass das Neue, das mit den Griechen in die Welt kam, eine „Kulturbildung aus Freiheit statt aus Herrschaft" (97) war.

Akropolis und Areopag in Athen (Leo von Klenze - 1846)

Nicht die Durchsetzung einer starken nationalen Herrschaft prägte die politische Kultur der Griechen, sondern die Aufrechterhaltung vieler kleiner, selbstständiger politischer Einheiten, den Poleis. Die Folge davon war, dass viele Aufgaben, die in anderen Staaten an entsprechende zentrale Organe oder Institutionen delegiert wurden, nun von den Bürgern der Polis selbst erledigt werden mussten.

Kulturbildung bedeutet hier zunächst, die Lebensverhältnisse in jeder dieser weitgehend eigenständigen Städte zu verbessern, und das hieß folglich, die Menschen mit immer mehr Kenntnissen, Fähigkeiten auszustatten und eine entsprechende Ordnung zu schaffen, die diese Ziele möglich machte.

Folglich brauchten die Mitglieder dieser Gemeinwesen bei allem Individualismus einen hohen Grad an Verantwortung für das Gemeinsame.

Getragen wurde diese Verantwortungsbereitschaft von einem „Können-Bewusstsein“ (Meier, Entstehung, 469), dem Bewusstsein der ungeheuren Möglichkeiten des menschlichen Geistes und der menschlichen Handlungsfähigkeit. Im Wesentlichen handelte es sich um eine Zunahme des technischen Könnens, der téchnē. Durch téchnē wird der Mensch „Herr über die Dinge.“

Dies galt größtenteils auch in der Politik: In einer demokratischen Ordnung hatten die Bürger ebenfalls „die Dinge in der Hand.“ Es wurde offen diskutiert, beschlossen und ausgeführt.

So entwickelte sich eine Kultur des rationalen Argumentierens - die Voraussetzung schlechthin für die Fähigkeit, die Herausforderungen der Polis gemeinsam zu bewältigen und die Gegensätze zu regulieren, die in einer auf Freiheit beruhenden Gesellschaft unweigerlich auftreten.

Mit der Poliskultur war also die Entfaltung einer Lebensform verbunden, die in zunehmendem Maße individuelle Eigenständigkeit und Unabhängigkeit erforderte und auch ermöglichte.

Die weitere Entwicklung der Polis – vor allem im 5. Jahrhundert – führte dazu, eine Ordnung in der Polis zu etablieren, die „sich selbst trägt – im Zusammenspiel der Bürger.“ (104) Diese Ordnung musste den Bürger notwendigerweise auch rational vermittelt werden, denn „zu diesem Gemeinwesen gehörte ein Menschenschlag, der frei sein und seine Antriebe frei ausleben wollte“ (101) und der letztlich auch überzeugt werden wollte.

Alle diese Entwicklungen führten also zur Entdeckung des Bürgers, zu seiner politischen Gleichheit und zu seiner bürgerlichen Verantwortung.

Sicher gab es eine Fülle von Fragen. Aber Kunst und Literatur, Geschichtsschreibung, Wissenschaft und philosophischer Diskurs nahmen sie auf und bemühten sich, kreative Antworten zu finden. Oft genug bestanden die Fragen weiter, ja es „ist geradezu eine Leidenschaft des Fragens am Werk.“ (109)

Letztlich handelt es sich bei dem Erbe der griechischen Antike also um die erste „große kulturelle Manifestation eines sehr freien, sehr unabhängigen, sehr offenen und daher sich selbst in Frage stellenden Menschentums.“ (112)

Diese Kultur der Freiheit, der Verantwortung und der Offenheit sowie der konsequente Gebrauch der Vernunft hat Europas Kultur zweifellos stark geprägt.

Zitate aus: Christian Meier: Die griechisch-römische Tradition, in: Hans Joas und Klaus Wiegandt (Hgg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main 2005 (Fischer)
Weitere Literatur: Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 1980 (Suhrkamp)

Dienstag, 15. November 2011

Karl Raimund Popper und die Kritik an der utopischen Sozialtechnik


Brecht (1954)
Im Jahre 1930 erscheint das Lehrstück „Die Maßnahme“ von Bertholt Brecht. Darin treten vier kommunistische Agitatoren vor das Parteigericht (den "Kontrollchor"), um sich für die Ermorderung ihres jüngsten Genossen zu rechtfertigen. Ihre Mission hatte darin bestanden, in China Propaganda zu betreiben:

„In der Stadt Mukden halfen wir den chinesischen Genossen und trieben Propaganda unter den Arbeitern. Wir hatten kein Brot für den Hungrigen, sondern nur Wissen für den Unwissenden, darum sprachen wir von dem Urgrund des Elends, merzten das Elend nicht aus, sondern sprachen von der Ausmerzung des Urgrunds.“ (259)

Sie gewinnen schnell Anhänger unter den chinesischen Arbeitern. Der junge Genosse ist jedoch nicht in der Lage, sich im Sinne der Revolution taktisch richtig zu verhalten, sondern zeigt immer wieder Mitleid:

„Hört, was ich sage: mit meinen zwei Augen sehe ich, dass das Elend nicht warten kann. Darum widersetze ich mich eurem Beschluß zu warten.“ (265)

Weil er dadurch die Arbeit der Gruppe gefährdet, beschließen die Agitatoren, den jungen Genossen zu ermorden, um nicht selbst von den Chinesen getötet zu werden.

„Also beschlossen wir: jetzt
abzuschneiden den eigenen Fuß vom Körper.
Furchtbar ist es, zu töten.
Aber nicht andere nur, auch uns töten wir,
wenn es nottut
Da doch nur mit Gewalt diese tötende
Welt zu ändern ist, wie
jeder Lebende weiß.
Noch ist es uns, sagten wir
nicht vergönnt, nicht zu töten. Einzig mit dem
unbeugbaren Willen, die Welt zu verändern begründeten wir
die Maßnahme.“ (267)

Daraufhin setzen sie erfolgreich ihre Arbeit fort. Zurück in Russland müssen sie sich vor einem Parteigericht für die Tötung des jungen Genossen verantworten, werden aber freigesprochen:

„Welche Niedrigkeit begingst du nicht, um
die Niedrigkeit auszutilgen?
Könntest du die Welt endlich verändern, wofür
wärest du dir zu gut?
Wer bist du?
Versinke in Schmutz
Umarme den Schlächter, aber
ändere die Welt: sie braucht es!“ (263f)

In diesem Stück Bertolt Brechts geht es letztlich um die Tatsache, dass eine revolutionäre und utopische Politik notwendig moralische Grundsätze verletzen muss, um Ausbeutung und Unterdrückung wirksam zu bekämpfen. Viele sahen in „Der Maßnahme“ daher auch eine Rechtfertigung der stalinistischen „Säuberungen“ in der Sowjetunion.

In jedem Fall offenbart sich im Stück von Brecht eine Gesinnung, die Popper zu seinem Werk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" veranlasste und in dem er die utopische Technik der Planung und des Umbaus der Gesellschaftsordnung einer fundamentalen Kritik unterzog.


Die utopische Technik ist zunächst deshalb so gefährlich, weil sie jenen Historizismus beinhaltet, nach dem sich jede praktische politische Handlung ausschließlich an einem – bereits endgültig definierten -  historischen Endziel ausrichten muss.

Das Problem dabei ist, dass es unendlich schwierig ist, über einen in der fernen Zukunft liegenden Idealstaat zu reden. „Das soziale Leben ist so kompliziert, dass wahrscheinlich überhaupt niemand fähig ist, den Wert eines Bauplans für soziale Maßnahmen im großen Maßstab richtig einzuschätzen; ob er praktisch ist; ob er zu einer wirklichen Verbesserung führt; welche Leiden aller Wahrscheinlichkeit nach mit verbunden sind.“ (189).

Popper hält dagegen, das dass „jede Generation, also auch die jetzt lebende, ihre berechtigten Ansprüche hat … Den Leidenden steht ein Recht auf alle nur erdenkliche Hilfe zu.“ (188)

Anstatt zu versuchen, die dringlichsten Übel in der Gesellschaft auszumachen und sie zu beseitigen  - „Mit meinen zwei Augen sehe ich, dass das Elend nicht warten kann“, sagt der Genosse -, verschiebt der utopische Sozialtechniker das notwendige Handeln auf einen späteren Zeitpunkt.

Weiter verlangt der utopische Versuch der Verwirklichung eines idealen Staates „eine streng zentralisierte Herrschaft einiger weniger; und er führt daher mit aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Diktatur.“ (190) Die komplette Um- und Neugestaltung einer Gesellschaftsordnung wird vielen Menschen über eine sehr lange Zeit nicht nur Unannehmlichkeiten, sondern wirkliches Leiden bereiten wird. Der utopische Sozialtechniker wird seine Ohren gegen Klagen verschließen müssen, er wird aber auch vernünftige Einwände unterdrücken: „Er wird wie Lenin sagen: ‚Man kann kein Omlett machen, ohne Eier zu zerbrechen.’“ 

Dazu noch einmal das Zitat aus „Der Maßnahme“:
„Furchtbar ist es, zu töten.
Aber nicht andere nur, auch uns töten wir,
wenn es nottut
Da doch nur mit Gewalt diese tötende
Welt zu ändern ist, wie
Jeder Lebende weiß.“

Für Popper ist die utopischen Sozialtechnik der Versuch, jegliche Vernunft in der Politik über Bord zu werfen. Das vorrangige Ziel, Ungerechtigkeit systematisch zu bekämpfen, wird „durch eine verzweifelte Hoffnung auf politische Wunder“ (200) ersetzt. In dieser irrationalen Einstellung, „die sich an Träumen von einer schönen Welt berauscht“, zeigt sich ein Romantizismus, der einen himmlischen Staat in der Vergangenheit oder in der Zukunft suchen mag, der sich dabei aber immer an unsere Gefühle, niemals an die Vernunft wendet.

Es ist eben diese Gesinnung - die auch in dem Stück Bertolt Brechts deutlich wird -, die auch mit der besten Absicht, den Himmel auf der Erde einzurichten unweigerlich dazu führt, "diese Welt in eine Hölle zu verwandeln – eine jener Höllen, die Menschen für ihre Mitmenschen bereiten.“ (200)

Alle Zitate aus: Bertolt Brecht: Die Stücke in einem Band, Frankfurt am Mein 1982 (Suhrkamp) --- Karl Raimund Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 1992 (Mohr / Siebeck)  ---  Eine utopiefreundliche Position vertritt Oskar Negt im Philosophischen Radio (WDR 5) vom 22.03.2013

Freitag, 11. November 2011

Noberto Bobbio und die Menschenrechte


Gedenkbriefmarke zum 100. Geburtstag Bobbios
Für Ralf Dahrendorf ist Noberto Bobbio ein “öffentlicher Intellektueller”, also jemand, der seinen Beruf darin sieht, nicht nur an den vorherrschenden öffentlichen Diskussionen der Zeit teilzunehmen, sondern auch deren Thematik zu bestimmen und ihre Richtung zu prägen.

Bobbio zufolge ist jeder Fortschritt der Menschheit stets damit verbunden, die Menschenwürde unter den jeweils sich verändernden Bedingungen institutionell zu schützen und jede Bedrohung der individuellen Freiheit abzuwehren. 

Von dieser Feststellung geht Bobbio aus, um seine Position in der Frage der Menschenrechte zu beschreiben. Entscheidend sei der aus dem naturrechtlichen Denken stammende Gedanke, demzufolge das Individuum und auf keinen Fall das Kollektiv der Ausgangspunkt der Rechtslehre ist. 

John Locke wird hier zur wichtigsten Quelle auch für die ersten Gesetzgeber, die sich an den Menschenrechten orientierten. Im Gegensatz zur Wolfsnatur des Menschen in der Konzeption des Naturzustandes bei Hobbes, geht John Locke davon aus, dass der Naturzustand ein „Zustand vollkommener Freiheit“ ist, in dem die Menschen innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes frei handeln können, „ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.“ (Locke, Zweite Abhandlung, §4).

Lockes naturrechtlicher Ansatz ist Bobbio zufolge die Voraussetzung für eine „individualistische Konzeption der Gesellschaft“ und damit auch des Staates, im Gegensatz zu einer „organizistischen Auffassung, nach der das Ganze höher steht als die einzelnen Teile“ (51).

Die organizistische Auffassung des Staates sieht Bobbio schon in den antiken Werken der Staatsphilosopie: Sowohl in Platons „Nomoi“, als auch in Cicero „De legibus“ besteht „die vorrangige Aufgabe des Gesetzes, zu begrenzen, nicht zu befreien, die Freiheitsräume zu beschränken, nicht sie auszuweiten, den krummen Baum geradezurichten, nicht ihn wild wachsen zu lassen“ (48). Unter Androhung irdischer und himmlischer Strafen soll erwünschtes Verhalten erreicht und unerwünschtes Verhalten vermieden werden. „Gerecht“ ist ein Staat erst dann, wenn „Jeder das Seine“ tut, wenn jeder Teil des Staatsorganismus die ihm naturgemäß zugewiesene Aufgabe erfüllt.

Die individualistische Auffassung des Staates dagegen hat sich nur sehr allmählich durchgesetzt, „denn sie wurde meist als Quell von Unordnung, Zwietracht und Bruch mit der bestehenden Ordnung angesehen“ (51f)

Für Bobbio bedeutet „Individualismus“, dass an erster Stelle das Individuum steht, das schon für sich genommen einen Wert darstellt - erst dann kommt der Staat. In der Folge bedeutet dies, dass der Staat für das Individuum gemacht ist und nicht umgekehrt.

Unter dieser Perspektive muss auch das Verhältnis von Rechten und Pflichten definiert werden: „Für die Individuen kommen von nun an die Rechte an erster Stelle und erst dann die Pflichten, für den Staat hingegen zuerst die Pflichten und dann die Rechte.“ (53)

Der Begriff „Individualismus“ beschreibt also vor allem die von äußerer Beeinflussung freie Entfaltung des Individuums. Als „gerecht“ kann ein Staat gelten, wenn jeder Mensch seine Bedürfnisse befriedigen und seine selbstgewählten Ziele im Leben einschließlich des Wunsches, glücklich zu sein, verfolgen kann.

Der Gedanke, dass jedes Individuum als autonomes und prinzipiell gleichwertiges Wesen mit allen anderen Individuen auf der gleichen Ebene steht, bildet auch die Grundlage des demokratischen Prinzips "one man, one vote."

Demokratie aber ist jene Herrschaftsform, in der alle Bürger die Freiheit haben, über ihre Angelegenheiten selbst zu entscheiden, verbunden mit der Macht, dies auch durchzusetzen.

Menschenrechte sind damit genau die fundamentalen, unveräußerlichen und unverletzlichen Rechte, die diese individuelle Freiheit und Macht garantieren und schützen.

Die Anerkennung der Individuen als Rechtssubjekte, das Primat des Rechts über die Pflicht führt nun letztlich dazu, auch die einzelnen Menschenrechte nicht nur als noble Wunschvorstellungen zu begreifen, sondern als positives Recht.

In dem Maße, wie die Menschenrechte ins positive Recht integriert werden, werden sie zu tatsächlichen und angewandten Rechten - deren Geltung gleichwohl nur auf der Ebene des Einzelstaates garantiert werden kann. 

Dabei handelt es nicht nur um die Rechte, die dem Individuum als ökonomischem Subjekt zustehen - etwa als Inhaber von Rechten über Dinge und als Träger von Fähigkeiten, nicht nur um die Freiheitsrechte, sondern auch um die sogenannten öffentlichen Rechte, die charakteristisch für den Rechtsstaat sind.

In diesen Gedanken zeigt sich der liberale Geist Bobbios, dem jenes Verständnis von Freiheit zugrunde liegt, nach dem die Menschen ihr Leben eigenständig und selbstverantwortlich führen wollen – und der Staat die Aufgabe habe, eben dies zu garantieren.

Zitate aus: Noberto Bobbio: Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, Berlin 2007 (Wagenbach)
Weitere Literatur: Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2008 (C.H. Beck) --- John Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, Frankfurt am Main 2007 (Suhrkamp Studienbibliothek)