Donnerstag, 31. Oktober 2013

Homer und der Ursprung der Troia-Geschichte

In seinem Buch „Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels“ beweist Joachim Latacz, dass die Ilias Homers in der uns vorliegenden Gestalt zwar ein Produkt der zweiten Hälfte des 8. vorchristlichen Jahrhunderts ist, die ganze Geschichte um Troia aber bereits in der mykenischen Epoche der griechischen Geschichte erdacht worden ist.

Auch wenn Homer und seine Adressaten sich in erster Linie für die Probleme ihrer eigenen Zeit interessieren – das Thema der Ilias ist die neue Werteordnung des 8. Jahrhunderts v.Chr. – war Troia und der ganze Krieg um Troia für den Dichter und sein Publikum eine vertraute Kulisse.

Der Brand Troias (Gemälde von Pieter Schoubrouck (1606)

Homer rechnet damit, dass sein Publikum sich im Erzählkomplex der Troia-Geschichte auskennt, und das dichte Netz von Voraussetzungen, Zusammenhängen und Motiven – die ja außerhalb der Ilias liegen – auch versteht. So übernahm der Erzähler die Troia-Geschichte als vorgegebenen Rahmen, in den er seine eigentliche Thematik hineindichtete. „Das bedeutet aber: Die Troia-Gesamtgeschichte muss in Griechenland im Zeitpunkt der Entstehung der Ilias bereits sehr alt gewesen sein“ (265).

Die Frage ist also: „Wenn die Troia-Geschichte tatsächlich schon Jahrhunderte vor dem achten Jahrhundert erdacht wurde, wie kann sie dann durch die `Kulturlücke´ der sogenannten `Dunklen Jahrhunderte´ (etwa 12. bis 8. Jahrhundert) hindurchgewandert sein?“ (319).

In seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses unterscheidet Jan Assmann zwischen zwei unterschiedlichen Gedächtnisformen, einem `kommunikativen´ biographischen Kurzzeitgedächtnis und einem `kulturellen´ kollektiven Langzeitgedächtnis.

Nicht nur beim Kurzzeitgedächtnis, sondern auch bei der längerfristigen Tradierung von kulturellen Erinnerungen muss jedoch damit gerechnet werden, dass beim Weitererzählen von Generation zu Generation viel verändert werden kann und auch wird.

Bei den Griechen können wir jedoch - dank der gräzistischen Mündlichkeitsforschung, der sogenannten oral-poetry-Theorie – einen zweiten Überlieferungsweg beobachten. „Es ist der Überlieferungsweg eben jener gebundenen Form, die für die Bewahrung von Vergangenheit so konstitutiv sein kann. Bei den Griechen stellt sich diese gebundene Form in einer Ausprägung dar, die, soweit wir bisher wissen, in dieser Strenge und damit gedächtnisstrukturierenden Wirkung in keiner anderen Gesellschaft außer eben der griechischen aufzufinden ist: Dichtung in fest normierten, über Jahrhunderte hinweg in ihrer Grundstruktur niemals veränderten Versen, in Hexametern“ (324).


Der griechische Hexameter


Die Ilias besteht aus genau 15693 Hexametern. Erstaunlich ist die Rigorosität, mit der das Versmaß eingehalten wird: „Nicht ein einziger Vers bricht aus dem festen `Meßgefäß´, den dieses Versmaß bildet, aus, besteht also etwa nur aus fünf oder aber auch sieben oder acht Hebungen, nicht ein einziger Vers stellt sich aber auch außerhalb der Regulierungsnormen, die den Hexameter im Innern gliedern und ihn zu einer ästhetisch wohlklingenden Rhythmus-Einheit machen“ (ebd.).

Man kann nun davon ausgehen, dass die Dichtungsweise in Hexametern eine lange Geschichte haben muss und auch schon lange vor Homer geübt und von Dichtergenerationen zu Dichtergeneration weitergegeben worden sein muss. Homer ist daher „nicht ihr Erfinder, sondern ihr Höhepunkt“ (330).

Wenn man also - wie Joachim Latacz – dass es eine Sängerdichtung schon bei den mykenischen Griechen gegeben hatte, dann ist nichts Verwunderliches daran, „dass sie auch nach dem Zusammenbruch der mykenischen Palastkultur weiterlief. Als unabhängig geübte dichterische Technik war sie ja weder an Verwaltungssysteme noch an Schriftlichkeit gebunden. 

Der Zusammenbruch der mykenischen Kulturphase muss also nicht zwangsläufig auch ihren Zusammenbruch bedeuten. Solange es Sänger gab, die die alte Tradition noch kannten und sie weitergaben, und solange es Menschen gab, die diese Sänger singen hören wollten, gab es keinerlei Grund, die Übung aufzugeben“ (337).


Griechische Sängerdichtung: Kitharode beim Spiel

Auf diese Weise konnten die Geschichten, die in mykenischer Zeit erdacht und in die gebundene Form der Hexameterdichtung hineingelangten durchaus die `Dunklen Jahrhunderte´ überdauern. So sei auch die Troia-Geschichte in der mykenischen Zeit erdacht und in einer Rahmenform durch das Medium der griechischen Hexameterdichtung über einen Zeitraum zwischen 1200 und 800 v.Chr. von der mykenischen Zeit bis zu Homer weitergetragen worden.

Die Geschichten, innerhalb derer Homer seine neuen dichterischen Ziele zu verwirklichen sucht, hat er also nicht selbst erfunden. „Sie waren ihm vertraut aus ungezählten, fremden und später dann auch eigenen Darbietungen. Die Troia-Geschichte gehörte dazu“ (353)

Der Krieg um Troia war demnach ein spätbronzezeitliches Ereignis, das „für die griechische Seite außergewöhnlich bedeutsam war, dass Erinnerungen daran in der Sängerdichtung lange haften blieben. Homer nahm sie in sein neues Epos vom Groll des Achilleus teils unbewusst und teils bewusst mit auf“ (367).

Homers wäre damit der letzte Ausläufer einer poetischen Erzähltradition, die mit der wohl zeitnahen Poetisierung des troianischen Krieges begonnen hatte. „Lösen wir sie (die Erzähltradition) vorsichtig heraus und setzen sie zu den `harten´ Quellen der Spätbronzezeit in Beziehung – archäologisch auswertbare Hinterlassenschaften und schriftliche Dokumente …, dann erkennen wir: Homer ist auch historisch ernst zu nehmen“ (ebd.)

Zitate aus: Joachim Latacz: Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels, 6. Aktualisierte und erweiterte Auflage, Leipzig 2010 (Koehler und Amelang)  -  Weitere Literatur: Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2013 (Beck)

Donnerstag, 24. Oktober 2013

Bernulf Kanitscheider und die Freiheit des Individuums


Bernulf Kanitscheider hat sich in seinen zahlreichen Publikationen vornehmlich mit philosophischen Fragen der modernen Physik und Kosmologie auseinander gesetzt. In seinem Buch „Von der mechanischen Welt zum kreativen Universum“ (1993) versucht Kanitscheider, ausgehend von einer Verknüpfung naturwissenschaftlicher und gesellschaftstheoretischer Überlegungen, die Überlegenheit einer liberalen Gesellschaftsordnung zu begründen.

Bernulf Kanitscheider (geb. 1939)
Kanitscheider geht von der Prämisse aus, dass natürliche komplexe Ökosysteme, wie beispielsweise von selbst entstandene Waldgebiete, eine größere innere Stabilität haben als die künstlichen, vom Menschen erzeugten einfachen Ökosysteme wie etwa ein Kornfeld.

Nun lässt sich gut beobachten, dass die Versuche des Menschen, die komplexen Systeme durch gezielte Eingriffe zu verändern, notwendig die Instabilität dieser Systeme erhöhen.

Diese Beobachtung hat Kanitscheider mit einem Experiment überprüft: „Zwölf Versuchspersonen hatten die Aufgabe, das Wohlergehen der Bevölkerung von `Tanaland´ durch gezielte Maßnahmen so zu steuern, dass das Land in jeder Hinsicht, also medizinischer Versorgung, Nahrungsangebot, Kindersterblichkeit, Lebenserwartung usw. optimiert würde.“

Die Ergebnisse der Steuerungen in dieser Modellwelt waren sehr auf aufschlussreich: „Fast alle Versuche sozialer Ingenieurskunst führten zu unerwarteten Katastrophen in ferner liegenden Bereichen.“

So zeigte sich bei der psychologischen Analyse von Handlungen in komplexen Situationen, dass Menschen „schlecht dazu geeignet sind, vernetzte, intransparente und dynamische Systeme zu durchschauen und handzuhaben.“

Gerade wenn bestimmte Zustandsgrößen eines Systems mehrdimensionale Verknüpfungen aufweisen, die zudem noch im Rahmen direkter Beobachtung nicht beobachtbar sind, weil keine sichtbaren Variablen vorhanden sind, dann ist der Mensch hoffnungslos überfordert, eine zielgerichtete Steuerung an einem solchen komplexen System vorzunehmen.

Komplexe Systeme - durch den Menschen nicht steuerbar ...

Nun in den Fällen, bei denen die Variablen bekannt – weil beobachtbar – sind und bei denen die Wechselwirkungen einer expliziten Dynamik folgen, also ein Geschehen darstellen, dessen Ursachen und Bewegungsgesetze bekannt und verständlich sind, ist eine begrenzte Steuerung möglich.

Diese Überlegungen überträgt Kanitscheider nun auf die gesellschaftspolitische Ebene und erläutert sich am Beispiel der Herstellung von Einkommensgleichheit.

„Eine Gesellschaft, die durch Gewalt die Gleichheit der Einkommen erzwingt, erzeugt eine politische und ökonomische Situation der äußersten Ungerechtigkeit und Unfreiheit. Jene Gesellschaft hingegen, die den spontanen Ordnungskräften der Komplexität freies Spiel lässt, somit die Freiheit an die oberste Stelle der Wertehierarchie setzt, erhält als Ergebnis einen höheren Grad an Gleichheit als alle konkurrierenden Gesellschaftsformen.“

Grundlegend dafür ist die Erkenntnis, dass es die Freiheit ist, die die Möglichkeit der Kritik enthält. Das bedeutet, dass alle sozialen und ökonomischen Positionen, die jemand einnimmt, auch angegriffen werden können. Keine noch so starre Institutionalisierung kann Privilegien für alle Zeiten festzurren. In einer komplexen und offenen Gesellschaft ist das Individuum nicht nur freier, sondern auch gleicher als in jeder anderen konkurrierenden Gesellschaftsform, weil jeder immer wieder seine Chance erhält.

All das bedeutet nicht, dass man auf Planung nun ganz verzichten sollte bzw. könnte. Aber neben der geplanten Ordnung und Organisation zur bewussten Koordination von menschlichen Aktivitäten gibt es eben das weite Feld der ungeplanten Ordnung, die nicht vom Menschen entworfen wurde, sondern die aus der Tätigkeit der Individuum resultiert, ohne dass dahinter eine besondere Absicht verborgen liege. Eine ungeplante Ordnung wird nicht hergestellt, sie bildet sich.

Die geplante Ordnung hat also vor allem den Sinn, günstige Bedingungen dafür schaffen, dass eine ungeplante Ordnung entstehen, sich bilden kann. Diese Planung und Organisation betrifft jedoch nur die Rahmenbedingungen. Die soziale Ordnung ist demnach „das Resultat vielfältiger, unübersehbarer, spontaner Kooperationen.“
 
Die vielfältigen Kenntnisse und Fähigkeiten der Menschen brauchen keine zentrale Leitung!

Wir müssen also vor allem dafür sorgen, dass unsere vorliegende komplexe Ordnung nicht unnötigerweise durch Eingriffe destabilisiert wird. „Die Freiheit des Individuums, die minimale Einengung seiner spontanen Entschlüsse und die komplexe Ordnung stehen in einem gegenseitigen Stützungsverhältnis. Ein freies System wird sich für die Bildung der Gesamtordnung auf die spontanen Kräfte verlassen.“

So wird man die Kenntnisse und Fähigkeiten der Mitglieder einer Gesellschaft am besten nutzen können, wenn man sie nicht einer zentralen Leitung unterwirft, die die Entwicklung der Gesellschaft nach einem einheitlichen Zielkatalog steuert – denn nur auf diese Weise wird die Freiheit, d.h. der größtmögliche Handlungsspielraum für alle garantiert.

Einen Kristall – so Kanitscheider – kann man auch nicht herstellen, indem man jedes Molekül an seinen Platz setzt, sondern indem man Kondensationskeime in eine Nährlösung der richtigen Konzentration gibt!

Zitate aus: Bernulf Kanitscheider: Von der mechanischen Welt zum kreativen Universum. Zu einem neuen philosophischen Verständnis der Natur, Darmstadt 1993 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S. 59ff. - Zum Tanaland-Experiment siehe den Artikel von Peter Felixberger auf der Homepage von Advanced Journalism Academy

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Joachim Latacz und der historische Hintergrund der Troia-Geschichte



οτοι π' ρχς πάντα θεο θνητοσ' πέδειξαν,
λλ χρόνωι ζητοντες φευρίσκουσιν μεινον.

„Nicht von Beginn an enthüllten die Götter den Sterblichen alles –
aber im Laufe der Zeit entdeckten sie forschend das Bessere.“
Xenophanes von Kolophon (fr. 18)


Troia und Homer: Zwei Namen und ein großes Rätsel der Weltgeschichte. In seinem Buch „Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels“ führt Joachim Latacz den Leser ein in die Detektivarbeit der archäologischen und sprachwissenschaftlichen Forschung. Seine These lautet: Homers Troia ist historisch!

Latacz geht davon aus, dass die Ilias Homers in der uns vorliegenden Gestalt ein Produkt der zweiten Hälfte des 8. vorchristlichen Jahrhunderts ist. Die ganze Geschichte aber um Troia ist bereits in der mykenischen Epoche der griechischen Geschichte erdacht worden. Der Krieg um Troia musste also, wenn er wirklich stattgefunden haben sollte, etwa 400 Jahre vor der Abfassung der homerischen Ilias stattgefunden haben, also nicht im 8., sondern im 12. vorchristlichen Jahrhundert.

Grundlegend für das Verständnis der Ilias ist „die Einsicht, dass sie nicht den `Krieg um Troia´ erzählt. Troia, die Landschaft um Troia, die Troás, und der Kampf zwischen den griechischen Belagerern und den troischen Verteidigern der Stadt ist nur Handlungsraum des Epos“ (243).

Das eigentliche Thema des Gedichtes, das in 24 Gesängen und insgesamt 15693 Hexametern erzählt wird, ist der Konflikt zwischen zwei Adelsherrn, zwischen Agamemnon, dem Oberbefehlshaber der Angreifer, einerseits und Achilleus aus Phthia in Thessalien, dem Anführer des militärisch effizientesten Teilkontingents der Allianz, der Myrmidonen, andererseits.

Dieser Konflikt bricht im zehnten Kriegsjahr aus, und droht das ganze Unternehmen der Achaier jetzt, nach neun Belagerungsjahren und nachdem man sich dem Ziele schon ganz nahe fühlt, zum Scheitern zu bringen.

Achilleus

In dem Konflikt geht es nicht um „irgendeine Zänkerei“, sondern „es ist ein Grundsatzstreit. Der Streit geht um die Auslegung bis dahin gültiger gesellschaftlicher Werte. Das sind Werte wie Ehre, rang, Einsatzbereitschaft für das Ganze und Führungsstärke. In diesem Grundsatzstreit „kommt es durch emotionale Eskalation zu einer Ehrverletzung und Demütigung des jüngeren der beiden Kontrahenten“ (244)
                                                        
Achilleus verfällt darauf in tiefen Groll – und damit beginnt die Ilias:

"Den Groll singe, Göttin, des Peleiaden Achilleus,
den ganz unsel´gen! – der zahllose Schmerzen den Achaiern brachte
und viele starke Leben dem Gott Hades zuwarf – Leben
von Helden! Und sie selbst zum Fraße wenden ließ für Hunde
und für die Vögel zum Bankett (Zeus´ Wille war´s, der sich darin erfüllt!)
von dem Moment an, da zerstritten auseinandertraten
der Atreide, Herr der Männer, und der göttliche Achilleus!“

Achilleus „sieht durch die Entehrung seiner Person überpersönliche Normen außer Kraft gesetzt, und er will diese Normen wiederhergestellt wissen.“ Er glaubt, dass Agamemnon, die extreme Gefährdung der Allianz vor Augen, Abbitte leisten wird. Dadurch würde dann nicht nur Achilleus selbst rehabilitiert sein, sondern auch die Normen würden wieder in ihre alten Rechte eingesetzt sein.

Letztlich geht Achilleus´ Kalkül tatsächlich, aber erst, nachdem sowohl beide Kontrahenten als auch „die gesamte Allianz schwere äußere und innere Verluste hinnehmen mussten, Verluste an Ansehen, Verluste an Menschen, Verluste auch an Unbefangenheit des Weltverständnisses.“

Die Allianz der Achaier ist durch „diese Auseinandersetzung zwischen ihren Führungspersönlichkeiten aus manchen Illusionen über die besondere Qualität von Spitzenleuten herausgerissen worden, sie ist ernüchtert und bedrückt – und dadurch geschwächt. Sie wird zwar weiterkämpfen, aber ihre alte Schlagkraft ist dahin“ (244).

Nicht den Krieg um Troia will Homer also erzählen, sondern die Ilias soll einen Beitrag leisten zur Diskussion über die Werteordnung seiner Zeit. Dazu ein kurzer Blick in die Situation des 8. Jahrhundert:

Frauenkopf aus Mykene
Nach ihrer Einwanderung auf der südlichen Balkanhalbinsel hatten die Griechen eine ab dem 17. Jahrhundert v. Chr  eine blühende Hochkultur, die mykenische, aufgebaut, hatten aber etwa 1200 den totalen Zusammenbruch dieser Kultur erleben müssen.

Es begann das sogenannte „Dunkle Zeitalter“ in der Geschichte Griechenlands, das ungefähr 400 Jahre dauerte, aber seit etwa 800 war es soweit.

Das 8. Jahrhundert v. Chr  in Griechenland war also eine Zeit des Aufbruchs – des Aufbruchs nach einer langen Stagnation. „Jetzt knüpften die Griechen intensive neue Außenkontakte an, übernahmen eine Reihe kultureller Errungenschaften von Nachbarvölkern und verbesserten sie. Darunter waren, wie wir sahen, das Alphabet und der Fernhandel zur See. Danach begann die größte Kolonisation der Weltgeschichte vor Beginn der Neuzeit: Die Griechen gründeten eine gewaltige Zahl von neuen Städten an sämtlichen Küsten des Mittelmeers“ (246)

Die Führung in diesem Prozess übernahm eine neue Oberschicht, die sich zu einem Teil noch von den Resten jener Oberschicht herleitet, die vor der Katastrophe regiert hatte. „Diese neue Oberschicht des 8. Jahrhunderts, der neue Adel, war einerseits der Motor der neuen Aufwärtsentwicklung, andererseits sah er sich aber durch die rasante Entwicklung, die er selbst vorantrieb, auch gefährdet“ (247).

Karte des Burghügels (Hisarlık) von Troja
Durch Seefahrt, Kolonisation, Warenproduktion und Handel kamen neue Schichten auf, die ebenfalls nach Einfluss strebten und den Adel in seiner Monopolstellung bedrohten. „Die Folge war eine Verunsicherung des Adels: Wie sollte man auf die neuen Entwicklungen reagieren? Sollte man die alten Wert-Ordnungen lockern, an die man unverbrüchlich geglaubt hatte? Sollte man sich anpassen? Sollte man Werte wie Ehre, Würde, Wahrhaftigkeit, Verlässlichkeit gewissermaßen etwas `lockerer sehen´ als bisher und sich der neuen Wendigkeit der Zeit anbequemen – oder sollte alles beim alten verharren? Falls letzteres, dann musste man zusammenhalten, da durfte keiner ausscheren, da musste die Gemeinschaftsraison über dem Einzelinteresse stehen!" (ebd.).

Es sind diese aktuellen Fragen des achten Jahrhunderts, die in der Ilias zur Diskussion gestellt werden. Homer greift sie auf und macht sie zu seinem Thema:

„Homers Achilleus-Epos, die später so genannte Ilias, stellt einen Versuch dar, auf die neue und noch ungeklärte Problematik einer zeitgemäßen Selbstdefinition des Adels eine Antwort zu geben. Diese Antwort formt sich als Vorführung und Diskussion verschiedener Reaktionsmöglichkeiten durch den Mund der Hauptfiguren – Achilleus, Agamemnon, Nestor, Odysseus, Aias, Diomedes und anderer“ (ebd.).

Achilleus und Agamemnon (Römisches Mosaik, Neapel)

Als Rahmen für seinen Diskussionsbeitrag wählt Homer die Troia-Geschichte, eine Inszenierung, „die durch Konfliktzuspitzung jedes Ausweichen vor der Wertedebatte, wie es in der Realität vermutlich häufig war, unmöglich macht und die Argumente in einer Klarheit und Kompromisslosigkeit auszuformulieren erlaubt, wie sie sich in der Zufallskonstellation realer Diskussionen nie ergeben konnte“ (248)

„Homer und seine Adressaten interessierten sich in erster Linie für die Probleme ihrer eigenen Zeit. Troia und der ganze Krieg um Troia – das war für den Dichter und sein Publikum nichts anderes als Kulisse – gleichwohl eine vertraute Kulisse.

Denn Homer rechnet damit, dass sein Publikum sich im Erzählkomplex der Troia-Geschichte auskennt, und das dichte Netz von Voraussetzungen, Zusammenhängen und Motiven – die ja außerhalb der Ilias liegen – auch versteht. So übernahm der Erzähler die Troia-Geschichte als vorgegebenen Rahmen, in den er seine eigentliche Thematik hineindichtete. „Das bedeutet aber: Die Troia-Gesamtgeschichte muss in Griechenland im Zeitpunkt der Entstehung der Ilias bereits sehr alt gewesen sein“ (265).

Zitate aus: Joachim Latacz: Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels, 6. Aktualisierte und erweiterte Auflage, Leipzig 2010 (Koehler und Amelang)

Donnerstag, 10. Oktober 2013

Platon und die Idee des Schönen


Platons Ideenlehre: der Weg führt nach oben ...
Platon ist einer der einflussreichsten Denker der Philosophie. So ist beispielsweise der philosophische Idealismus ohne Platons Ideenlehre, nach der die sinnlich wahrnehmbare Welt lediglich ein Abbild einer unveränderlichen geistigen Welt der idealen Formen – den Ideen – nicht denkbar. In der politischen Philosophie betritt Platon mit seinem Werk Politeia, in der er einen auf der Idee der Gerechtigkeit beruhenden idealen Staat entwirft, den gefährlichen Boden politischer Utopien

In dem Werk „Das Gastmahl“ oder „Symposion“ dreht sich alles um die Ideen der Liebe und Schönheit. Verschiedene Sprecher halten eine Rede über den Gott Eros, den Gott der Liebe. Die wichtigste Rede ist die von Platons Lehrer Sokrates, in der er ein Gespräch wiedergibt, das er mit der Seherin Diotima geführt hatte und in dem es um das wahre Wesen der höheren Liebe geht.

Diotima beginnt ihren Weg zur Erkenntnis der Idee des Schönen mit der Aufforderung, „von Jugend an damit zu beginnen, sich den schönen Körpern zuzuwenden.“ In der Liebe zu einem solchen Menschen entstünde nun langsam der Gedanke, dass die Schönheit des einen mit der Schönheit des anderen Körpers verschwistert ist. Daraus wiederum wachse die Einsicht, „dass die Schönheit in allen Körpern ein und dieselbe ist.“ So werde der Mensch zum Liebhaber aller schönen Körper.

Auf der nächsten Stufe kommt es zu der Scheidung zwischen der Schönheit des Körpers und der Schönheit der Seele. So wird der Erkennende „die Schönheit der Seele weit höher achten als die der körperlichen Formen, sodass, wenn einer nur eine liebenswürdige Seele besitzt, mag auch die Blüte des Körpers gering sein, er mit dieser zufrieden ist, sie liebt und umsorgt.

Daraus aber folgt automatisch, das Schöne in verschiedenen Handlungen der Menschen, in den Sitten und Gesetzen zu betrachten und so „zur Erkenntnis zu gelangen, dass dies alles miteinander verwandt ist.“ Auf dieser Stufe wird er die Schönheit der äußeren Formen – also die erste Erkenntnisstufe – bereits als etwas ganz Geringes beurteilen.
 
Schönheit in der Antike: Aphrodite und Eros

Jetzt kommt Platon zufolge der Moment der Wissenschaft, damit der Mensch nicht mehr im Einzelschönen haften bleibt, sondern „von höherer Warte aus auf das Schöne in seiner Fülle blickt und … diese aus hoher Warte überschauend in unerschöpflichem Weisheitstrieb viele und schöne und erhabene Reden und Gedanken erzeugt, bis er dadurch gestärkt und bereichert ist und sich ihm diese Schau in der einzig umfassenden Erkenntnis des Schönen enthüllt.“

So beschreibt Diotima schließlich das Wesen der Schönheit im Einklang mit Platon Lehre von den unveränderlichen Ideen als etwas „ewig Seiendes und Unveränderliches, das weder wächst noch hinscheidet.“

So kann das Schöne eben nicht als Einzelschönes erscheinen, etwa als Gesicht oder auch als Rede, sondern der Erkennende wird das Schöne selbst schauen als etwas, „was rein und absolut in sich selbst ruht, für sich existiert und ewig in sich selbst gleich ist, während alles andere sichtbare Schöne an dieser Idee des Schönen Anteil hat.“
  
Zitate aus: Platon: Das Gastmahl (Symposion), München 1966 (Goldmann)


Donnerstag, 3. Oktober 2013

Emile Cioran und der Skandal der Schöpfung

Emile Michel Cioran ist einer der wichtigsten philosophischen Essayisten des 20. Jahrhunderts. Seine zahlreichen Bücher enthalten locker zusammengestellte Aphorismen, Kurzprosa und Essays, in denen er seine deutlich pessimistische und skeptische Weltsicht darlegt.

In seinem Buch „Die verfehlte Schöpfung“ wendet sich Cioran gegen die christliche Vorstellung, die Welt sei die Schöpfung eines guten und weisen Gottes. Sein Essay dazu trägt den bezeichnenden Titel „Der böse Demiurg“.

Cioran geht von der anthropologischen Prämisse aus, dass der Mensch – mit Ausnahme einiger Sonderfälle – nicht zum Guten neigt. Versucht der Mensch aber, das Gute zu tun, dann „muss er sich überwinden, sich Gewalt antun.“ Viel lieber dagegen sucht der Mensch nach Möglichkeiten, seinen Schöpfer zu provozieren oder zu demütigen.

So ist es schwer bis unmöglich, „zu glauben, dass der gute Gott, der `Vater´, mit dem Skandal der Schöpfung etwas zu tun hatte.“ Vielmehr muss man davon ausgehen, dass dieser Gott nichts für diese Schöpfung kann, sondern, dass sie auf einen „skrupellosen“ und „korrumpierten“ Gott weist:

Die klassische Sicht: Der gute Schöpfergott (Holzschnitt von Melchior Schwarzenberg - 1535)

„Die Güte schafft nicht, ihr mangelt es an Phantasie; deren bedarf es aber, um eine Welt herzustellen, wie hingepatzt sie auch sei. Notfalls mag eine Tat oder ein Werk aus der Mischung von Güte und Bosheit entstehen. Oder ein Weltall. Vom unsrigen aus ist es jedenfalls bedeutend leichter, auf einen anrüchigen als auf einen ehrenwerten Gott zu tippen.

So strampelt sich das Christentum seit Jahrhunderten damit ab, der Welt die Evidenz eines allmächtigen, allwissenden, allbarmherzigen und allgütigen Gottes aufzuzwingen – eine Evidenz, die letztlich keine ist.

„Wir können nicht umhin zu denken, dass die im Zustand des Entwurfes gebliebene Schöpfung nicht abgeschlossen werden konnte und es auch nicht verdiente und dass sie insgesamt ein Fehler  ist.“

Der berühmte Fehltritt des Menschen – das Naschen am Baum der Erkenntnis – erscheint also eher als „die verkleinerte Fassung einer weit schwereren Untat.“

Wenn die Genesis verkündet „Seid fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1,28), dann sei dies letztlich eine kriminelle Aufforderung, die unmöglich aus dem Munde eines guten Gottes gekommen sein konnte. Wenn er sich wirklich seiner Schöpfungstat bewusst gewesen wäre, hatte er vermutlich befohlen „Seid selten“. Und niemals hätte er hinzugefügt: „Und macht euch die Erde untertan!“

Worin liegt also die Schuld des Menschen? Allein darin, „dass wir mehr oder weniger dienstfertig dem Beispiel des Schöpfers gefolgt sind“ – als Geschöpfe aus „den Händen eines unglücklichen und bösen Gottes, eines verfluchten Gottes.“
   
Zitate aus: Emile Michel Cioran: Die verfehlte Schöpfung, Frankfurt a.M.1979 (Suhrkamp), hier: S. 7ff