Donnerstag, 15. Oktober 2020

Harmodios, Aristogeiton und die Demokratie


Allen Diktatoren, Tyrannen und autoritären Regierungen gewidmet 
- denen vergangener Zeiten und denen von heute!


Selbst demokratische und republikanische Gemeinschaften, deren politisches System auf der Freiheit des Einzelnen bzw. auf der Beteiligung vieler an der Politik fußt, benötigen zuweilen mythologisierte Gründungsakte, die erinnert und rituell erneuert werden, um einen Grundkonsens ihrer Mitglieder und die kollektive Identifikation mit dem politischen System zu gewährleisten.

Häufig bestehen solche Gründungsakte in der Tat einzelner Freiheitshelden, also Menschen, die als Befreier von einer nicht-freiheitlichen Ordnung verehrt werden. Im antiken Athen des 5. Jhs. v. Chr. hat man den Gründungsakt der Demokratie in der Befreiungstat zweier Bürger der Stadt gesehen, der Tyrannentöter Harmodios und Aristogeiton.

Bei der Festprozession der Panathenäischen Spiele des Jahres 514 v. Chr. verübten Harmodios und Aristogeiton ein Attentat auf den Tyrannen Hipparchos und kamen dabei selbst ums Leben. Harmodios, der jüngere der beiden Attentäter, wurde sofort getötet, Aristogeiton verhaftet, gefoltert und hingerichtet. Der Bruder des ermordeten Herrschers, Hippias, setzte die Tyrannis fort und wurde von Mitgliedern der aristokratischen Familie der Alkmaioniden mit spartanischer Hilfe erst 510 v. Chr. vertrieben. Dies bildete den Auftakt der politischen Reformen des Kleisthenes im Jahr 508/7 v. Chr. und führte in den folgenden Jahren zu einer Demokratie, die sich nach Athens Erfolgen in den Perserkriegen zwischen 490/80 und 460 v. Chr. stabilisierte.

Schon aus dem ausgehenden 6. Jh. v. Chr. sind Skolia überliefert - also anlässlich eines Symposions vorgetragene Lieder als Beitrag zur geistigen Erbauung der Teilnehmer -, die die das Attentat als Befreiung Athens und Gründungsakt der sogenannten Isonomie (‚Gleiches Gesetz für alle Bürger‘) rühmten.

In der ersten historischen Darstellung des Geschehens bei Herodot (gegen 440–430 v. Chr.) werden die Alkmaioniden als die eigentlichen Befreier Athens gefeiert. Harmodios und Aristogeiton hätten durch den Mord des Hipparchos lediglich die Familie der Tyrannen in Zorn versetzt und der Gewaltherrschaft keineswegs ein Ende bereitet. Thukydides dagegen liefert eine pikantere Version des Attentats. Hippias sei der tyrannische Herrscher gewesen, während der ermordete Hipparchos sein jüngerer Bruder war. Dieser sei in Liebe zu dem jungen Harmodios entbrannt gewesen, der wiederum der Geliebte des Aristogeiton war. Als Harmodios seine Liebe nicht erwiderte, habe Hipparchos seine Wut über die Zurückweisung an dessen Schwester ausgelassen. So habe Harmodios aus Rache und Aristogeiton aus Eifersucht das Attentat auf Hipparchos verübt, während sie sich an Hippias nicht herangewagt hätten. Dieser habe dann noch drei Jahre eine Schreckensherrschaft über Athen ausgeübt, bis er auf Veranlassung der Spartaner von den verbannten Alkaioniden vertrieben worden sei.

Gleichwohl hat sich schließlich die Erinnerung an die Tat als außerordentlichen Befreiungsakt relativ bald durchgesetzt und die beiden Tyrannentöter wurden als demokratische Gründungsheroen anerkannt.

Es war Platon, der im früheren 4. Jh. v. Chr. die homoerotische Beziehung der Attentäter und ihren Einsatz für die Demokratie miteinander verknüpfte. Im Symposion steht das Paar für die idealistische Kraft homoerotischer Liebe. Auch im pseudoplatonischen Hipparchos konkurrieren die homoerotische und demokratische Motivation der Tötung nicht. 

Im späten 5. Jh. lobten indes athenische Redner wie Andokides in seinem Werk "Über die Mysterien" die beiden Attentäter als beispielhafte Tyrannentöter, und zwar in einer Zeit, wo man die Tyrannis als größte Gefahr für die Demokratie ansah. Im Jahr 343 v. Chr. waren die Frontstellungen in Athen schließlich so geklärt und Personenkulte selbst in der Demokratie so fortgeschritten, dass Demosthenes in seinen Reden vor der Volksversammlung Harmodios ungehindert zur Gruppe derer zählen konnte, die von den Athenern für ihre Wohltaten Statuen, Trankopfer und Hymnen erhielten und von ihnen wie Götter und Heroen verehrt wurden.

Der Diskurs um die Befreier erhielt auch in Athen eine geradezu sakral-religiöse Komponente. In der Nähe der späteren Staatsgrabmäler der Gefallenen lag das vermeintliche Grab des Harmodios und Aristogeiton. Dort wurden Opfer für die Attentäter dargebracht und zwar gleichzeitig mit Opfern für die Bürgersoldaten, die ihr Leben für die Polis gelassen hatten. Die Erinnerung an die im Krieg für Athen gefallenen Bürger wurden also bewusst mit den Befreiungshelden verbunden.

Bereits kurz nach der Vertreibung des letzten Tyrannen im Jahre 509 v. Chr. rrichteten die Athener auf der Agora, dem zentralen Platz ihrer Polis, Bronzestatuen des Harmodios und Aristogeiton. Die außerordentliche Symbolik dieser Skultpren des Bildhauers Antenor zeigt sich darin, dass damit erstmals überhaupt Bildnissen von Sterblichen Platz im politischen Raum einer griechischen Polis gegeben wurde. Bedauerlicherweise raubten die Perser die Statuen bei der Brandschatzung Athens im Jahre 480/79 v. Chr., aber bereits 477/6 v. Chr. wurden neue Bronzestatuen der Attentäter am selben Ort, nicht weit von der Stätte des Attentats, errichtet, noch bevor Athen wiederaufgebaut war. Ein Denkmal für die Befreier von der Tyrannis war offensichtlich mittlerweile unverzichtbar geworden.

Die beiden Statuen, von denen Kopien aus späterer Zeit erhalten sind, stammten aus der Werkstatt des Kritios und Nesiotes. 


Harmodios und Aristogeiton
(Römische Marmorkopie, Archäologisches Museum Neapel)



Leicht überlebensgroß stehen Harmodios, der Unbärtige, und Aristogeiton, der Bärtige, beide nackt und im Ausfallschritt vor ihren Betrachtern. Der Jüngere hat das Schwert zum Schlag erhoben. Der Ältere gewährt ihm Deckung und hat die Waffe zum Stoß gezückt. Unterhalb der Statuen las man auf der Steinbasis eines der Preislieder auf die Attentäter, die sie als Licht ihrer Heimat priesen.

Die Gestaltung des Denkmals enthält klare Bezüge, die von den damaligen Betrachtern sofort erkannt wurden: Die an Athletenbilder erinnernde Nacktheit und die dadurch sichtbaren trainierten Körper schrieben den beiden Attentätern die aristokratische kalokagathia - „das Schöne und Gute“ - zu, eine Idee, die physische Qualität mit ethischer Gesinnung verband. Der explizit gemachte Altersunterschied verwies auf ihre homoerotische Beziehung, eröffnete aber auch die Identifikation für alle Altersgruppen der männlichen Bürger; der Jüngere fungiert dabei als Modell des mutig Zuschlagenden, der Ältere als das des besonnen Agierenden.

Mit dem Denkmal wurde die Gemeinschaft und Verbundenheit von zwei Bürgern geehrt, nicht die Leistung eines einzigen. Der Tyrann bleibt unsichtbar. Vielmehr stand der Betrachter an seiner Stelle in der Rolle des angegriffenen Opfers, so dass das Monument jeden Betrachter davor warnte, nach einer Tyrannis zu streben.

Die Statuen hoben die Helden also in zeitloser Form heraus, distanzierten sie ikonographisch vom alltäglichen Bürgerhabitus und ordneten sie – obwohl sie für die Demokratie standen – aristokratischen Idealen zu. Vor allem aber gaben sie ihrem Handeln ein dauerhaftes und mahnendes Beispiel. 

Die Erinnerung an die Tyrannentöter im öffentlichen Raum Athens wurde vom frühen 5. Jh. v. Chr. ergänzt durch die Erinnerung beim semiprivaten Symposion, die die Skolia sprachlich bereits für das späteste 6. Jh. v. Chr. bezeugt hatten. „Den Harmodios singen“ konnte im späten 5. Jh. zum Synonym für ein Gelage werden, so Aristophanes in seinem Werk Acharner. 

Aufgrund seines aristokratischen Charakters versicherte sich beim Gastmahl eine elitäre Gruppe von Bürgern ihrer Überlegenheit und reklamierte die Tyrannenmörder auch für sich. Auf einem Vorratsgefäß für Wein – einem Stamnos – , den man bei einem solchen Gelage benutzte, um Wein und Wasser zu mischen, wurde tatsächlich das Attentat dargestellt: Der bärtige Aristogeiton ersticht Hipparchos, Harmodios holt zum Schlag aus. Alle drei sind durch ihre Mäntel als Bürger gekennzeichnet; der Tyrann ist nur andeutungsweise luxuriöser gekleidet. Im Kontext des Symposions wird der tyrannische Charakter des Opfers so eher heruntergespielt, die Leistung des älteren, also erwachseneren Attentäters wird hervorgehoben. Zudem erinnert man der Tat in einer Form und auf einem Gefäß, wo sonst vielfach die großen Taten mythischer Heroen zur Darstellung kamen.


Harmodios und Aristogeiton ermorden den Tyrannen Hipparchos
(Martin-von-Wagner Museum der Universität Würzburg)



Im Laufe des 5. Jhs. v. Chr. stellte man die Statuen, wie es an der Basis unter ihren Füßen erkennbar ist, als Schildzeichen der Figur der Stadtgöttin Athena auf Ölamphoren dar, die in Athen die Sieger bei den Panathenäenspielen gefüllt als Preise bekamen – genau im Jahr nach einem anti-demokratischen Umsturzversuch, als man die Demokratie wiederhergestellt hatte. Die Statuen der Tyrannenmörder wurden in dieser Krisensituation zum Zeichen der demokratischen Polis, die die Stadtgöttin selbst im Kampf schirmten. 

Auch die spätere Geschichte der Stauen auf der Athener Agora wirft ein bezeichnendes Licht auf die Heroisierung der Befreier: Einerseits wurde seit dem 4. Jh. v. Chr. ein Areal um das Statuenpaar von anderen Statuen freigehalten – vor allem kamen ihnen keine anderen Bildnisse nahe, die man für Wohltäter der Polis errichtete. Sie erhielten so auch räumlich einen außeralltäglichen, geradezu sakrosankten Charakter. 

Diese Regel wurde nur durchbrochen, wenn man solche Personen ehren wollte, die ebenfalls als Befreier bezeichnet werden konnten, z.B. nach 307 v. Chr.die hellenistischen Könige Antigonos und Demetrios, aber auch nach 44 v. Chr. die Caesarmörder Marcus Brutus und Gaius Cassius. Allein schon die Nähe zu den Heldendenkmälern konnte der Heroisierung anderer als ‚Befreier‘ dienen, der Platz um die Tyrannenmörder war ein heroisch aufgeladener städtischer Raum.

Auch in Rom im Tempel der Fides (Treue) wurden im 1. Jh. v. Chr. auf dem Kapitol Statuen von Homodios und Aristogeiton aufgestellt, also in einer Zeit der Konflikte um Republik und Herrschaft von Einzelnen in Rom, zu denen auch die Ermordung von Caesar gehörte. 

Die Denkmäler der Tyrannenmörder waren also in Rom und vor allem in Athen langfristig ein sichtbares Zeichen  für die Befreiung von einer Alleinherrschaft und in Athen zudem auch ein Symbol der demokratischen Verfassung. Damit besitzen die Ehrenstatuen, die man ihnen in Athen errichtet hatte, bleibende und zeitlose Bedeutung als Ikonen der Stadt und der politischen Befreiung der Menschen von Unterdrückung und Tyrannei.


Zitate aus: Peter Eich / Ralf von den Hoff / Sitta von Reden: „Freiheitsheld (Antike)“. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 11.06.2019. DOI: 10.6094/heroicum/fhhd1.0 - https://www.compendium-heroicum.de/lemma/freiheitsheld-antike/ (zuletzt eingesehen am 11.10.2020)

Donnerstag, 8. Oktober 2020

Ulrich Sarcinelli und die digitale Gesellschaft im demokratischen Staat (Teil 2)




Im Sekundentakt werden Nachrichten durchs Internet geschleust. Das bringt die Politik mit ihren langsamen Denk- und Entscheidungsprozessen in Zugzwang. Sie muss Lösungen finden, wie sie den "digitalen Menschen" überhaupt noch erreichen kann. Gleichwohl haben sich die ‚Spielregeln‘ des Kommunikationsbetriebs im Zuge der Digitalisierung dramatisch verändert und so stellt Ullrich Sarcinelli in seinem Beitrag für die Reihe SWR2-Wissen die Frage, was der Staat bei der Steuerung und Gestaltung der Kommunikationsverhältnisse heute tun könne.


Ulrich Sarcinelli (* 1949)
„Zunächst einmal unterliegt er Einschränkungen, die sich aus der Verfassung ergeben. Denn Informations- und Meinungsfreiheit, eine staatsunabhängige Presse und alle damit verbundenen institutionellen Voraussetzungen, das alles gehört zur DNA freiheitlicher Gemeinwesen. Der Staat gewährleistet diese verfassungsrechtlichen Grundlagen und schafft presse-rechtliche Rahmenbedingungen. Seine Spielräume, dabei auch die notwendigen ökonomischen Voraussetzungen für eine leistungsfähige Medien-landschaft zu sichern, sind hingegen begrenzt.“

 

Es gehöre daher zur staatlichen Verantwortung, die Voraussetzungen für eine Öffentlichkeit zu schaffen, die freie Meinungsbildung gewährleistet. „Das ist leichter gesagt als getan in einer Zeit, in der sich die Informationsinfrastruktur der alten liberalen Demokratie grundlegend verändert hat: durch digitale Plattformen, durch Medienunternehmen neuen Typs wie Google, Facebook, Youtube u.a.m. Dabei handelt es sich um privatwirtschaftlich organisierte Weltkonzerne, die sich zu international wirkmächtigen Meinungs-maschinen entwickelt haben.“

 

Diese „Suchmaschinen und Internetanbieter agieren nicht wie Post oder Telekom als neutrale Plattformen, sondern als Informationsanbieter, die Öffentlichkeit nach ihren eigenen Regeln und Normen herstellen. Vor allem mit den sogenannten Sozialen Medien sind neue Kommunikationsräume entstanden. Diese stellen eine Art publizistisches Paralleluniversum dar, das der alten – auf den klassischen Journalismus gestützten – Öffentlichkeit immer stärker die Agenda vorgibt. Das bedroht dann nicht nur massiv die ökonomischen Grundlagen der herkömmlichen Medien, sondern berührt auch die Frage nach der politischen Verantwortung für die Gewährleistung transparenter und freiheitlicher Kommunikationsverhältnisse. Vor allem darin liegt die große Herausforderung einer neuen Ordnungspolitik für den digitalen Kapitalismus.“

 

Der Grund dafür, warum sich der liberale Verfassungsstaat mit der Gestaltung der digitalen Kommunikationsverhältnisse so schwertut, liegt Sarcinelli zufolge darin, „dass das freiheitlich verfasste Gemeinwesen auf Machtbegrenzung setzt, auf Verantwortungsteilung und auf die rechtliche Sicherung individueller und kollektiver Freiheiten. Das betrifft nicht nur die Informations- und Meinungsfreiheit, sondern eben auch die Freiheit des Eigentums und der wirtschaftlichen Betätigung. Dies begrenzt ausgreifende Steuerungsfantasien, ersetzt aber nicht die Steuerungsverantwortung der Politik.“

 

„Die literarische Verarbeitung digitaler Horrorvisionen mag von der Wirklichkeit ziemlich weit entfernt liegen“, aber totalitäre Steuerungsfantasien im Stile von George Orwells `1984´ haben jüngst wieder ihren literarischen Ausdruck gefunden in dem dystopischen Digitalalptraum `Der Circle´ von Dave Eggers oder in Martin Burckhardts Roman `Score´, die einen fiktionalen Blick auf den sanften Totalitarismus im digitalen Zeitalter geben.

 

Dave Eggers: The Circle (2013): Totalitäre Steuerungsfantasien ...

Der Blick in die fiktionale Literatur könne also durchaus für politische (Fehl-)Entwicklungen sensibilisieren. Schließlich zeige die Entwicklung in anderen Ländern, dass mit der Digitalisierung nicht unbedingt die Einlösung von Freiheitsversprechen einhergeht. „Denn es gibt bereits exportfähige Alternativen digitaler Herrschaft, die in Konkurrenz zum Modell westlich-liberaler Systeme stehen. Beispiel China.

 

In China wird ein solches Alternativmodell seit einigen Jahren erprobt – unter der verharmlosenden Bezeichnung `Sozialkreditsystem´. Es geht dabei um die Entwicklung von Werkzeugen für eine verbesserte Sozialkontrolle […]. Dahinter steckt eine enzyklopädische Datenerfassungsinfrastruktur, in der mittels künstlicher Intelligenz Informationsquellen (z.B. von Gerichten, Steuerbehörden, Banken, Krankenkassen, Verkehrsbehörden, sozialen online- Netzwerke etc.) bis hin zur Gesichtserkennung im öffentlichen Raum erfasst und zur Grundlage von Sozialbewertungen gemacht werden; etwa, wenn Informationen aus unterschiedlichsten Lebensbereichen – Zahlungsmoral, Einkaufsgewohnheiten, digitale Surf- und Kommunikationsgewohnheiten sowie das Sozialverhalten im Allgemeinen, im Straßenverkehr, bei der Arbeit, in der Schule, in der Freizeit – zu einem Persönlichkeitsprofil zusammengeführt werden. Konformität kann so mit verbesserter Kreditwürdigkeit, beruflichem Aufstieg oder besonderer Anerkennung belohnt und unerwünschtes Verhalten entsprechend sanktioniert werden.“

 

Diese Art von kybernetischer Politik laufe letztlich auf Verhaltenslenkung durch extensive Verwendung von Nutzerdaten hinaus. Die Bürger würden so zu Komplizen der eigenen Überwachung, eine besonders raffinierte Form daten-gestützter totalitärer Herrschaft.

 

Das chinesische Beispiel zeige mit erschreckender Deutlichkeit, dass es alternative und mit unseren Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit unvereinbare Ordnungsvorstellungen zum Verhältnis von Staat und Internet durchaus gibt. „Hier wird die liberale Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Herrschaft und Freiheit aufgelöst, ja umgekehrt. Rechte werden gekoppelt an den im Sozialkreditsystem erwirtschafteten „Wert“ des Menschen. Nicht der Bürger muss dem System vertrauen können, sondern das System muss – möglichst messbar – Vertrauen in den Bürger haben. Die Perfektion dieser Art von digitalem Totalitarismus wäre dann erreicht, wenn durch die staatliche Rundumkontrolle auch noch das Gefühl der individuellen Freiheit vermittelt wird.“

 

Davon sei, so Sarcinelli, das westliche Rechtsverständnis zum Glück dann doch weit entfernt, auch wenn die freiwillige Weitergabe von Daten (z.B. Gesundheitsdaten, Bewegungsdaten, Daten zum Freizeitverhalten etc.) inzwischen auch in Demokratien voranschreite. Aber rechtliche Barrieren wie die europäische Datenschutz-Grundverordnung sind ein wichtiger Schritt, um Informations-gewinnung zum Zwecke der Verhaltenssteuerung bzw. Gratifikation bei Nutzung individueller Daten entgegenzuwirken, denn es geht schließlich darum, das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit in Einklang zu bringen.

 

Dennoch „scheint die Verunsicherung auf staatlicher Seite, was den Umgang mit den digitalisierten Kommunikationsräumen anbelangt, ziemlich groß […] Offenbar besteht in der Politik erheblicher Beratungsbedarf.“ Vermutlich wird der Wandel „nicht allein technikdeterminiert sein wird, sondern von vielfältigen institutionellen und politisch-kulturellen Faktoren abhängen. Die Horrorvision, dass die digitale Kommunikationsgesellschaft durch und durch nur noch ein Produkt einer durch Algorithmen definierten Computer-Welt sein werde, ist jedenfalls mit den Vorstellungen einer `offenen Gesellschaft´ (Karl Popper - Link) und einer liberalen Demokratie nicht vereinbar.“

 

Natürlich biete Digitalisierung neue Chancen zur `Selbstorganisationsfähigkeit demokratisch-liberaler Gesellschaften´ […]. Aber gegenüber der allzu euphorischen Vorstellung, die Digitalisierung führe in eine Art Demokratie 4.0, eine „Smart Democracy“, ist jedoch Skepsis angebracht. Die Zeiten, in denen das Hoch-geschwindigkeitsmedium Internet allzu schlichte sozialromantische Vorstellungen von individueller Autonomie und Demokratisierung beflügelt hat, scheinen vorbei zu sein. […]

 

Skepsis gegenüber euphorischen Vorstellungen von Smart Democracy 4.0

Das Netz mag den Glauben nähren, man könne die traditionellen Eliten durch eine neue digitale Polis ersetzen, die ohne die alten Institutionen der Repräsentativ-demokratie auskäme […]. Das Internet erleichtert zwar den Informationszugang, die Erreichbarkeit und den kommunikativen Austausch innerhalb und mit der Politik.“

 

Das Netz werde aber auch zunehmend zu einem Stressfaktor: „Mehr und mehr wird die eher zeitintensive demokratische Willensbildung und Entscheidungs-findung einem medien- und netzgetriebenen Reiz-Reaktions-Druck ausgesetzt, nicht selten im Twitter-Modus. – Von den nationalen und internationalen Verwerfungen infolge der morgendlichen Tweets des amerikanischen Präsidenten ganz zu schweigen.“

 

So könnte sich die Wechselwirkung zwischen `Beschleunigung und Entfremdung´ als Grundphänomen des modernen sozialen Lebens als eine der größten Herausforderungen für Gesellschaft und Demokratie erweisen. So würde gerade die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Dynamisierung in der Moderne zu einer „progressiven Verlangsamung demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung“ führen. „Man kann auch sagen: zu einem rasenden Stillstand. Es passiert scheinbar viel, aber es bewegt sich nichts! Die politische Welt und die technologisch-ökonomische Welt, sie entwickeln sich nicht nur in unterschiedlichem Tempo. Sie bewegen sich auch auseinander.“

 

Sarcinelli gibt zu bedenken, dass die Welt der `Entscheidungspolitik´ und das Bild medien- bzw. internetvermittelter `Kommunikationspolitik´ sich durch die digitale Beschleunigung noch weiter entkoppeln könnten. „Denn offensichtlich ist, dass die `Kultur der Digitalität […] anderen Gesetzen folgt als die politische Kultur im liberalen Rechtsstaat. Wie bei jeder medientechnologischen Revolution bleibt deshalb die Ambivalenz, dass auch die digitale Beschleunigung politische Aufklärung ermöglichen und zugleich die Chancen für kollektive Täuschung erhöhen kann.“

 

Hier gehe es auch um das Informationsverhalten der Bürger, die „sich zunehmend in Teilpublika zerstreut, meinungskonformer Spezialangebote bedienen und in abgeschotteten Kommunikationsräumen die Bestätigung der eigenen Position finden kann – und seien sie noch so absurd. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass sich mit der Digitalisierung, mit den Möglichkeiten, sich überall und jederzeit über alles Informationen zu verschaffen, auch das Gefühl einer gut informierten Orientierungslosigkeit einstellt.“

 

Voraussetzung für demokratische Meinungsbildung aber sei vor allem politische Urteilskraft und diese beruhe nicht allein auf Informationen, „sondern auf der Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen und Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen. Informieren und gewichten, dies vor allem war die Aufgabe von Qualitätsmedien. Ihnen kam als `Informations-Marken´ – bisher zumindest – eine wichtige Orientierungsfunktion zu. Inzwischen sieht sich der professionelle Journalismus seiner Gatekeeper-Rolle, seiner Schleusenwärter-Funktion, beraubt.“

 

Politische Urteilskompetenz: Unterscheiden und gewichten!

Twitter, Facebook und andere social-media-Angebote würde nicht mehr nur als bloße Plattformen genutzt. Für immer mehr Menschen sind sie zur maßgebliche Nachrichtenquelle geworden. Aber: Die Sozialen Netze „befördern die Kommunikation unter Gleichgesinnten und setzen Themen. Erinnert sei nur an die im Netz beflügelten Lügenpresse-Kampagnen, an die unseligen Fake-News-Debatten und an die Verbreitung von sogenannten Social Bots. Das sind algorithmusgesteuerte Meinungsproduzenten, mit denen adressatengenau politischer Einfluss ausgeübt wird.“

 

Gleichwohl ist es in den Augen von Sarcinelli zu alarmistisch, vor einem `Kommunikationsinfarkt“ […] zu warnen und gleich von `Empörungsdemokratie´ oder von einer Entwicklung zur `Erregungsdemokratie´ zu sprechen“, denn solche pauschalen Zeitdiagnosen mögen zwar talkshow-tauglich sein, „doch lenken sie von der großen politischen Aufgabe ab, eine neue Legitimationsarchitektur für die digitale Kommunikationsgesellschaft zu entwerfen.

 

Es geht um Politik im Netz und für das Netz; eine Politik, welche die Grundlagen der `offenen Gesellschaft´ (Popper) schützt und liberale Verfassungsstaatlichkeit nicht gegen, sondern in und mit der digitalen Welt sichert.“

 

 

Zitate aus: Ullrich Sarcinelli: „Der demokratische Staat und die digitale Gesellschaft“, SWR2-Wissen, Sendung vom 17. Februar 2019

Donnerstag, 1. Oktober 2020

Ulrich Sarcinelli und die digitale Gesellschaft im demokratischen Staat (Teil 1)


Im Sekundentakt werden Nachrichten durchs Internet geschleust. Das bringt die Politik mit ihren langsamen Denk- und Entscheidungsprozessen in Zugzwang. Sie muss Lösungen finden, wie sie den "digitalen Menschen" überhaupt noch erreichen kann.

 

Ulrich Sarcinelli (* 1946)
Wir leben in einer Zeit, in der zwei politische Kommunikationskulturen miteinander – besser nebeneinander – existieren: Die traditionelle Diskussionskultur der Parlamente, der TV-Talkshows oder auch des direkten Gespräches zwischen Politikern und Bürgern. Daneben gibt es die digitale Kommunikation, meist in Form einer rasanten, auf Schwarz-Weiß-Malerei basierten und unkontrollierbaren Empörungskultur in den Sozialen Medien. Und genau diese neue digitale Kultur könnte den demokratischen Staat gefährden, weil sie völlig andere Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen etabliert, so die These von Ulrich Sarcinelli in seinem Beitrag für die Reihe SWR Wissen.

 

Für Sarcinelli scheint die Diagnose klar, zumindest aus juristischer Sicht: „In Zeiten des Internets, dieser geographisch und sozial grenzenlosen Universalplattform, hat der Staat, der Nationalstaat zumal, an Macht eingebüßt. Das gilt für seine drei Kernelemente: für das Staatsgebiet, das Staatsvolk und für seine Staatsgewalt. Von Kontrollverlusten und Staatsversagen ist deshalb allenthalben die Rede, von Souveränitätseinbußen und Legitimitätsdefiziten.“

 

So entsteht zwangsläufig die Frage, ob der Staat in Zeiten des digitalen Wandels zum Auslaufmodell, zu einem „postfaktischen“ Phänomen wird. Die Vorstellung vom Staat als Auslaufmodell ist in historischer Sicht keineswegs neu! So haben Fichte, Marx und Engels, Nietzsche und vor allem Carl Schmitt den Untergang des Staats prognostiziert. Für Schmitt beispielsweise sei der Staat im Übergang zur liberalen Massendemokratie „als Träger der souveränen Staatsgewalt einem Ansturm vieler Kräfte und Mächte ausgesetzt. Im gesellschaftlichen Pluralismus schwinde der Dualismus von Staat und Gesellschaft und damit ein zentrales Unterscheidungsmerkmal des Politischen […]. Schmitts Befund, dass das Politische weit mehr ist als das Staatliche, gilt heute – und zwar mit Blick auf innerstaatliche wie auf zwischenstaatliche und multilaterale Politikverflechtungen – als eine Binsenweisheit.“

 

Für die belgische Politiktheoretikerin Chantal Mouffe dagegen ist der Staat kein postnationales Auslaufmodell. Sie fordert „die Schaffung einer lebendigen Sphäre des öffentlichen Streits“ und wendet sich „damit gegen den Traum progressiver Gesellschaftswissenschaftler (z.B. Ulrich Beck, Antony Giddens, Collin Crouch, Jürgen Habermas u.a.) von einer versöhnten Welt, in der Macht, Souveränität und Hegemonie als überwunden gelten. In ihrer jüngsten Streitschrift spricht sie sich sogar `Für einen linken Populismus´ […] aus, mit klaren Frontlinien und Polarisierung. Chantal Mouffe stellt damit den linken Populismus auf rechte Füße und bringt den Nationalstaat gegen Brüssel in Stellung.“

 

Die Frage ist nach Sarcinelli durchaus berechtigt, ob wir inzwischen den „Leviathan“ – hier verstanden als Staat als durchsetzungsfähige Ordnungsmacht mit Gewaltmonopol – nicht doch vermissen. „Nicht nur die anhaltende Debatte über die Flüchtlingsfrage gibt der Diskussion über Staatsversagen und Steuerungsverlust immer wieder Nahrung. Gleiches gilt für die Unfähigkeit zur Regulierung der internationalen Finanzmärkte, für die Klimapolitik und viele andere Politikfelder. Hier werden nicht nur die Grenzen rein staatlicher Handlungs-kompetenz deutlich, sondern auch die Grenzen im Rahmen europäischer und multilateraler Regelungen.“

 

Thomas Hobbes: Der Leviathan (Titelbild der Erstausgabe 1651) 


Dennoch hält Sarcinelli am Staat als der zentralen demokratischen Legitimationsinstanz fest. Obwohl wir in einem Zeitalter hoher Unsicherheit leben, „in einer Zeit, in der Rechtsstaatlichkeit nur in einem Geflecht von nationalen und suprainternationalen Regelungen geschützt werden kann, wo die Kontrolle der Staaten über ihre Ressourcen trotz Steuerhoheit und Gewaltmonopol zunehmend eingeschränkt wird, in einer Zeit aber auch, in der die Widerstände gegen Souveränitätsverluste national und international zunehmen“, erfolge demo-kratische Legitimation immer noch weitgehend auf nationaler Ebene. „Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die politische Architektur von Staatlichkeit verändert hat.“

 

Das sei übrigens kein Phänomen der Gegenwart. „Die Unterscheidung zwischen Staatlichkeit und Souveränität begleitet die deutsche Geschichte seit der Reichs-gründung. Neben der gesamtstaatlichen Souveränität des Bundes haben die Glieder, die Bundesländer in Deutschland, ihre Staatlichkeit behalten, bis heute. Das zeigt der deutsche Föderalismus mit seinen bisweilen mühsamen Kooperations- und Entscheidungsmechanismen.

 

Wenn es um staatliche Ordnungen geht, sind wir vielfach mit einem `komplexen Patchwork´ […] von Verträgen und Mitgliedschaften konfrontiert, mit jeweils eigenen Normen und Regeln. Von der engen Einbindung Deutschlands in den europäischen Staatenverbund ganz zu schweigen. Es gibt also viel mehr und ganz andere Arrangements hoheitlicher Herrschaft als den Nationalstaat.“

 

Dies führt verfassungsrechtlich zwangsläufig zu einer gewissen „Verantwortungs-diffusion“, die nicht selten als politisches Verantwortlichkeits-durcheinander wahrgenommen werde. „Das ist alles andere als trivial. Denn die Zuschreibung von Verdiensten wird ebenso erschwert wie die gezielte politische Sanktionierung im Wege demokratischer Wahlen. Letztlich geht es um eine veränderte „Architektur moderner politischer Ordnungen.“

 

Folglich gibt es heute eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Staatsauffassungen und Souveränitätskonzepten. „Sie reichen von Versuchen, den Staat als Ort des Politischen zu reanimieren bis hin zu postnationalen Abgesängen auf den Staat. Und dazwischen steht ein ‚bunter Strauß‘ mit differenzierten Arrangements hoheitlicher Herrschaftsausübung. Das alles gilt es in den Blick zu nehmen, wenn über die Rolle des Staates im Internetzeitalter nachgedacht wird. Halten wir zunächst einmal fest: Staatlichkeit verändert sich. Der moderne Staat ist Teil eines multinationalen, verflochtenen Systems. Aber der Staat verschwindet nicht einfach.“

 

Die Frage ist nun, welche Bedeutung diese staats- und politiktheoretischen Entwicklungen für die Gestaltung eines Gemeinwesens in Zeiten der Digitalisierung besitzen. Die These Sarcinellis lautet: „Auch in der globalisierten und digitalisierten Welt löst sich die politische Geographie nicht auf. Der Staat bleibt die zentrale Legitimationsinstanz.

 

"Der Staat bleibt die zentrale Legitimationsinstanz."

Trotz Transnationalisierung bleibt der Staat auch in Zeiten der geographisch unbegrenzten medialen Universalplattform Internet der maßgebliche kommu-nikative Bezugsrahmen für politische Akteure ebenso wie für uns Bürger. Denn öffentliche Diskurse über politische Themen finden ganz überwiegend innerhalb nationaler Gemeinschaften statt. Selbst in der Europäischen Union kann von einer entwickelten europäischen Öffentlichkeit keine Rede sein.“

 

So könne es auf nicht absehbare Zeit nur im staatlichen Kontext gelingen, gleichermaßen eine für die solidarische Produktion kollektiver Güter notwendige Sozialintegration und eine für die Durchsetzung bindender Entscheidungen erforderliche Systemintegration zu erreichen. „Bei allen Integrationserfolgen gilt dies sogar für die Staaten der Europäischen Union.“

 

„Trotz internationaler Kooperation, Verflechtung und Verantwortungsteilung unterliegt demokratische Politik in letzter politischer Konsequenz nur im staatlichen Kontext dem Gebot von Zustimmungsabhängigkeit und Begründungspflicht. Beides ist Grundlage von `Legitimation durch Kommunikation´ […]. Und hier stehen die Medien mit ihrem Auftrag zu informieren, zu orientieren und zu bewerten in einer besonderen Verantwortung.“

 

Allerdings verlange die Pflicht, Öffentlichkeit herzustellen und damit die Grundlage für den freien Austausch von Informationen und Meinungen zu schaffen, mehr als die „Bewirtschaftung von Aufmerksamkeit“ […], nämlich die Wahrnehmung von öffentlicher Verantwortung.

 

Gleichwohl haben sich die ‚Spielregeln‘ des Kommunikationsbetriebs im Zuge der Digitalisierung dramatisch verändert und so stellt sich die Frage, was der Staat bei der Steuerung und Gestaltung der Kommunikationsverhältnisse heute tun könne.


(Fortsetzung folgt)



Zitate aus: Ullrich Sarcinelli: „Der demokratische Staat und die digitale Gesellschaft“, SWR2-Wissen, Sendung vom 17. Februar 2019



Donnerstag, 24. September 2020

Euripides und die Troerinnen


Die Eroberung von der Kykladeninsel Melos wäre ein Randereignis des Peloponnesischen Krieges geblieben, hätte der griechische Historiker Thukydides nicht die Verhandlungen zwischen Athenern und Meliern in Form eines Dialogs wiedergegeben, der – in seinen Zentralaussagen bis heute gültig – das Wesen von Machtpolitik bloßlegt.

 

„Die Verhandlungen […] scheiterten, und so begann im Sommer 416 die Belagerung. Im folgenden Winter zwangen Hunger und Verrat die Melier schließlich zur bedingungslosen Kapitulation. Die Athener töteten alle erwachsenen Männer, verkauften Kinder und Frauen in die Sklaverei und schickten später 500 Siedler auf die entvölkerte Insel."

 

Euripides (ca. 484 - 406 v. Chr.)


Bei Thukydides sind die Athener der festen Überzeugung, dass  „allein die Macht [zähle]. Der Überlegene setze durch, was ihm beliebe, Recht sei eine Konvention, die nur dort greife, wo sich gleich starke Kräfte neutralisierten und auf einen Kompromiss einigen müßten."


Thukydides schrieb sein Werk bekanntlich nach der Beendigung des Peloponnesischen Krieges, d.h. nach der völligen Niederlage Athens. „Er bietet […] weit mehr als nur eine Analyse der athenischen Expansionspolitik. Der Historiker sucht das Wesen der Macht zu ergründen, der Dialog handelt scheinbar vom Peloponnesischen Krieg, tatsächlich aber von allen Kriegen."

 

Für Thukydides ist eines klar: „Alle sind dem Nómos unterworfen, der sie nicht anders handeln läßt, als sie handeln. Deswegen verzichten die thukydideischen Athener auf schöne Worte, um das zu sagen, was diese verbrämen.“ Thukydides zieht hier […] allgemeine Lehren vom Wesen des Krieges überhaupt: „Im Melier-Dialog sind die Athener nur noch eine Chiffre. Sie stehen für die Tragik der Großmächte. Um nicht zu kollabieren, müssen diese sich ausdehnen. Nur Ausgreifen sichert das Überleben, dem Ende der Expansion aber folgt der Zusammenbruch. Thukydides hat so etwas wie Mitleid mit den Großmächten: Ihre Verbrechen sind vergebens, denn ihr Untergang ist so zwangsläufig wie der von Melos."

 

Welche Resonanz die Ereignisse von Melos in der athenischen Gesellschaft fanden, ist natürlich heute schwer zu sagen. Es gibt gleichwohl ein zeitgenössisches Zeugnis, das deutlich macht, daß nicht alle Athener die Eroberung von Melos als Sieg verstanden: Die Tragödie Die Troerinnen von Euripides.

 

Euripides, der bis weit über den Sizilienfeldzug hinaus loyal zu seiner Heimatstadt Athen stand, nahm Stellung an dem Ort, den er beherrschte, d.h. auf der attischen Bühne. Auch wenn der Name Melos an keiner Stelle des Stückes genannt wird, so ist der Bezug allen Zuschauern mehr als klar gewesen.

 

Die Troerinnen ist das Schlussstück einer Tetralogie, deren andere Teile - Alexandros und Palamedes sowie das Satyrspiel Sisyphos – verloren gegangen sind. Sie wurde im Frühjahr 415 aufgeführt. „Die attische Flotte war siegreich von Melos zurückgekehrt, Athen schickte sich an, gegen Sizilien zu segeln, alle Gespräche drehten sich nur noch um die Reichtümer der großen Insel.

 

Dieser Euphorie stellt Euripides seine Tetralogie entgegen: Troia als Beispiel einer Stadt, die auf der Höhe ihrer Macht stürzt. Das Ausschlagen einer göttlichen Warnung, die Hybris der Menschen, führt Troia in den Untergang."

 

Die Troerinnen in der Verfilmung von Michalis Cacoyiannis
(mit Audrey Hepburn und Vanessa Redgrave)

Die Troerinnen setzen zu einem Zeitpunkt ein, an dem die Kampf um Troia bereits beendet ist. Die Stadt steht in Flammen, „es ist nicht mehr die mächtige Stadt am Ausgang des Hellespont, sondern eine entvölkerte Ruine. Die Sieger haben ihr Zeltlager bereits verlassen, die Besiegten sind dort eingezogen und warten auf ihr weiteres Schicksal, auf die Deportation.

 

Es sind nur mehr Frauen, die troianischen Männer sind gefallen, in den Tod geflüchtet. Sie haben mehr Glück gehabt, das Los der Sklavinnen ist schlimmer: `Doch Sterben ist besser noch als Leben voller Jammer. Den Toten kümmert’s nicht, wenn er ein Leid erfuhr´, sagt Andromache, Witwe Hektors. Die Griechen sind keine strahlenden Sieger, sondern Mörder: `Barbarengreuel dachtet ihr euch aus, ihr Griechen.´ Ihnen winkt keine Zukunft, sie werden erleiden, was die Troer erlitten und die Troerinnen noch erleiden. Selbst die Götter haben sich von ihnen abgewandt, wenn auch nicht wegen der Taten, zu denen auch sie fähig sind, sondern weil sie beleidigt sind."

 

Schon der Anfang des Stückes weist über das Ende hinaus. Der Sieg wird keine Früchte tragen. „Poseidon prophezeit es in seinem Prolog: `Ein Narr ist jeder Mensch, der Städte auslöscht, Tempel und Gräber, Heiligtümer der Entschlafenen, veröden läßt und selbst danach zugrunde geht!´."

 

Eigentlich hat das Stück keine eigentliche Handlung, sondern besteht aus locker miteinander verbundenen Szenen, „zusammengehalten von der Figur der Hekabe, Gattin des Priamos und Königin von Troia, die von Anfang bis Ende auf der Bühne präsent ist und in der sich alles Leid der troianischen Frauen bündelt.

 

Nach dem einleitenden Auftritt der Götter auf dem Theologeion, dem Kulissendach, erhebt sich die bis dahin am Boden kauernde Hekabe zu ihrer ersten Klage. Ab jetzt beherrschen Frauen die Bühne, die griechischen Helden werden zu Statisten degradiert, der wichtigste Mann des Stückes ist Talthybios, der Herold der Griechen, ein Subalterner und Befehlsempfänger."

 

„Durch die beiden Párodoi ziehen die Halbchöre der Troerinnen ein. Die versklavten Frauen erwarten ihr Los, fürchten die Orte, an die die Griechen sie verschleppen werden: Athen, Sparta, Thessalien oder Sizilien. Hekabe ahnt Schlimmes, doch es wird noch schlimmer kommen. Jeder Auftritt des griechischen Herolds steigert das Leid, das über die troianischen Frauen kommt. Wenn Hekabe glaubt, die Grenze des Erträglichen sei erreicht, überbringt Talthybios neue Hiobsbotschaften. Dieser selbst ist sich keines Unrechts bewußt, er überbringt die Befehle der Mächtigen, ob er sie gutheißt oder nicht, wird sie nicht ändern. Er fügt sich, und die anderen müssen sich fügen. Er schaudert nicht vor den Verbrechen zurück, er fürchtet nur, es könne sich nicht reibungslos vollziehen, was ohnehin geschehen muß."

 

Die Troerinnen von Cacoyannis (1971)

Die Griechen teilen die Beute unter sich auf, werfen das Los über die Troerinnen: „Hekabe fällt an Odysseus (das schlimmste Los), die Töchter Kassandra und Andromache werden an Agamemnon und Neoptolemos verteilt. Polyxene wird an Achills Grab geopfert werden. Talthybios beschwichtigt und mahnt zur Ruhe: der Reihe nach, jeder das Ihre.

 

Es folgt der Höhepunkt des ersten Epeisodion. Mit der Fackel, der Hochzeits-, nicht der Brandfackel, stürmt Kassandra aus dem Zelt. Sie kennt die Zukunft und wird daher nicht von der Angst der Ungewißheit niedergedrückt. Sie weiß, daß sie in Mykene sterben wird, aber sie kennt auch das Schicksal des Agamemnon und prophezeit den Untergang des Atridenhauses. Die Besiegte erhebt sich über die, die sich für Sieger halten."

 

Allen Zuschauern im Theater wird es allmählich dämmern, dass die Griechen in einen ungerechten Krieg gezogen sind, dass sie für die falschen Ziele entweder in der Fremde am dem Schlachtfeld umgekommen sind oder nach ihrer Rückkehr einen trostlosen Tod erleiden werden. „Die Zeit wird kommen, in der sie die geschlagenen Troier beneiden werden. Kassandra wiederholt, was schon Athene und Poseidon voraussagten: Es gibt keine Sieger."

 

Am Schluss des Stückes stürzt das brennende Troia in sich zusammen. „Talthybios gibt die letzten Befehle. Er hat die Klagen der Frauen satt: `Führt sie ab, zeigt keine Schonung.´ Die Soldaten treiben die Frauen zu den abfahrbereiten Schiffen. Aber auch den Siegern droht das Verhängnis. Der Zuschauer, der das Theater verläßt, weiß: Die griechische Flotte fährt in ihren Untergang. Binnen sieben Jahren werden sich die Prophezeiungen Kassandras erfüllt haben. Dann sind die Sieger in Meeresstrudeln ertrunken, von Kyklopen gefressen, an Felsen zerschmettert, von Mördern erschlagen, dem Wahnsinn verfallen, haben den Freitod gesucht oder irren noch auf dem Meer umher."

 

Wie bereits erwähnt, sind direkte Anspielungen auf das Schicksal von Melos bei Euripides nicht zu finden. Aber das war auch nicht nötig. „Das ganze Stück […] spielt im Schatten von Melos. Das Ereignis war zu frisch in Erinnerung, um aus ihr verdrängt werden zu können."

 

Massaker hatte es auch schon früher in der Geschichte der Griechen gegeben, auch Angriffe in Zeiten des Friedens waren nicht neu und auch nicht die Tatsache, dass Melos eine neutrale Polis war – das, was die Ereignisse um Melos heraushob, war etwas anderes:

 

„Der Feldzug gegen die Insel war das Präludium zu einer weit größeren Invasion. Die Dionysien, an denen die Dramen aufgeführt wurden, fielen in die Zeit zwischen Melos und Sizilien. Mit den Troerinnen verurteilt Euripides die athenische Aggressionspolitik und warnt vor ihrer Fortsetzung. Der militärische Erfolg von Melos, der den meisten Athenern Hoffnung auf noch einträglichere Siege machte, ist für Euripides ein Menetekel. Er erkennt die athenische Hybris, und er weiß, auch wenn er nicht an die alten Götter glaubt, daß der Überhebung unweigerlich der Sturz folgt."

 

Die Troerinnen in einer modernen Aufführung des The Sheldon Vexler Theatre

Die Troerinnen ist das politisch aktuellste Drama des Euripides. Die Athener von 415 konnten das Stück nur aus der Perspektive von Melos verstehen. Mit dem Angriff auf die Insel und der Zerstörung von Melos geht der kurze Friede des Nikias im Peloponnesischen Krieg zu Ende. „Nie war auf der attischen Bühne eine Mythenadaption leichter zu enträtseln gewesen. Das Drama spielte auf drei Zeitebenen und trug gleichsam drei Titel. Die `Troerinnen´ waren die Vergangenheit, die `Melierinnen´ die Gegenwart, die `Athenerinnen´ die Zukunft."

 

 

Zitate aus: Wolfgang Will: Athen oder Sparta. Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges, München 2019 (C.H.Beck)

Donnerstag, 17. September 2020

Thukydides und der Melierdialog


Die Eroberung von der Kykladeninsel Melos wäre ein Randereignis des Peloponnesischen Krieges geblieben, hätte der griechische Historiker Thukydides nicht die Verhandlungen zwischen Athenern und Meliern in Form eines Dialogs wiedergegeben, der – in seinen Zentralaussagen bis heute gültig – das Wesen von Machtpolitik bloßlegt.


Melos war eine Gründung der Spartaner. Bodenschätze und die geschützte Lage machten Melos so wohlhabend und selbstbewusst, dass die Insel die Aufnahme in den von Athen dominierten Attischen Seebund verweigerte und für sich Neutralität reklamierte.


Die Kykladeninsel Melos im Spannungsfeld der Großmächte Athen und Sparta

 


Schon im Jahre 426 unternahmen die Athener deshalb einen ersten Versuch, die Insel in ihr Herrschaftssystem einzubinden. Obwohl die Athener die Insel nicht erobern konnten, erklärten sie sie einfach für erobert und verpflichteten sie zu jährlichen Tributzahlungen zugunsten des Tempelschatzes der Athena. Natürlich weigerten sich die Melier, diese Zahlungen zu entrichten.

 

Zehn Jahre verstrichen bis erneut eine Flotte der Athener gegen Melos aufbrach. Die Melier waren ahnungslos, es herrschte Frieden, nichts ließ einen athenischen Angriff erwarten, nichts rechtfertigte ihn. Thukydides’ Text spiegelt die Überraschung wider. „Der Historiker leitet den Bericht nicht ein, kennt keine Zusammenhänge und nennt – vielleicht weil sie ihm zu selbstverständlich waren – keine Motive.“

 

Im Gegensatz zum ersten Eroberungsversuch setzten die Athener zunächst auf Verhandlungen. Ein gegenseitiges Abkommen sollte Athen die gewaltigen Kosten einer mehrmonatigen Belagerung ersparen. Die athenischen Truppen konnten zwar leicht die Insel besetzen und abriegeln, die befestigte Stadt Melos zu erobern waren sie aber nicht in der Lage. Einziges Mittel, ummauerte Poleis zu erobern, war damals Aushungern oder Verrat.

 

„Die Verhandlungen, die Thukydides im sogenannten Melier-Dialog verdichtet, scheiterten, und so begann im Sommer 416 die Belagerung. Im folgenden Winter zwangen Hunger und Verrat die Melier schließlich zur bedingungslosen Kapitulation. Die Athener töteten alle erwachsenen Männer, verkauften Kinder und Frauen in die Sklaverei und schickten später 500 Siedler auf die entvölkerte Insel.“

 

Das Unternehmen gegen Melos war nicht die erste fragwürdige Eroberung der Athener. Vorher hatten sie bereits die Bewohner von eroberten Poléis – Histiaia, Aigina, Torone oder Skione, um nur einige zu nennen – ausgelöscht. Die Eroberung von Melos war gleichwohl deshalb besonders schändlich, weil Athen in Friedenszeiten eine griechische Stadt angriff und unerbittlich auslöschte.

 

„Das Wort vom `Limos Meliaios´, vom melischen Hunger, kursierte schon bald nach dem Ende der Belagerung in ganz Griechenland, Aristophanes gebraucht es 414, also nur zwei Jahre nach der Eroberung von Melos, in seiner Komödie Die Vögel. Noch fast anderthalbtausend Jahre erläutert die Glosse eines byzantinischen Lexikons den `Hunger von Melos´ „sprichwörtlich für eine aussichtslose Lage.“

 

Ob Thukydides über die Verhandlungen auf Melos aus erster Hand informiert wurde, ob er sogar die beteiligten Strategen befragt hat, bleibt im Unklaren. Es ist letztlich auch nicht relevant, „denn was die Athener im Dialog des Thukydides sagen, haben sie vor dem Rat der Melier sicherlich nicht gesagt. Sie sprechen bei Thukydides vielmehr das aus, was sie – nach Meinung des Historikers – aller Wahrscheinlichkeit nach gedacht haben, aber realiter zweifelsohne hinter diplomatischen Floskeln verbargen.“


Thukydides (454 - 399 v. Chr.)


Im Vordergrund der Reden der historischen Athener in Melos standen zweifelsohne ihre tatsächlichen Verdienste für die Insel. „Ein paar Jahrzehnte zuvor hatte Herodot die Athener als `Retter Griechenlands´ geadelt: `Wer nun also sagt, die Athener seien die Retter von Hellas geworden, der wird das Wahre kaum verfehlen. Denn auf welche Seite die Athener sich schlugen, da mußte die Waage sinken. Sie aber wählten Hellas’ Überleben in Freiheit, und so sind sie es gewesen, die das ganze restliche Griechenland – soweit es nicht persisch gesinnt war – aufrüttelten und den König (nächst den Göttern) zurückschlugen.“

 

Die Athener waren überzeugt davon, dass sie es waren, „die einst die Griechen vor den Barbaren gerettet hatten und sie nun weiterhin vor ihnen beschützten: Nur die athenische Flotte schrecke den Großkörnig vor einer neuerlichen Invasion ab. Und nicht allein dies. Die Präsenz athenischer Patrouillenschiffe in der Ägäis garantiere die von Seeräubern stets bedrohte Sicherheit des Meeres, den ungehinderten Handel unter den Städten und den Inseln der Ägäis sowie die lebenswichtige Versorgung mit Getreide in den periodisch wiederkehrenden Notzeiten.“

 

In Athen war man sich einig, dass dieser Schutz Geld kostete. „In der Schifffahrtsperiode zwischen März und Oktober waren ständig 60 Trieren unterwegs, die ausgerüstet und gewartet werden mußten. Allein der Lohn für die Besatzungen betrug fast ein Talent pro Tag. So war für die Athener ein Anspruch auf Entschädigung selbstverständlich, die Phoroi waren im Verständnis der Athener keine Tribute, sondern Beitrage zur Sicherheit und Wohlfahrt der Bündner und aller Griechen, die Seefahrt betrieben.“

 

Im Gegensatz zu diesen Gründen, die die historischen Athener in Melos vermutlich mit Recht für sich beanspruchen können, bezeichnen die Athener des Thukydides diese Argumente allerdings als kalà onómata, als `schöne Worte´. Bei Thukydides sind die Athener der festen Überzeugung: „Im menschlichen Denken, nicht freilich in der öffentlichen Bekundung, zähle allein die Macht. Der Überlegene setze durch, was ihm beliebe, Recht sei eine Konvention, die nur dort greife, wo sich gleich starke Kräfte neutralisierten und auf einen Kompromiss einigen müßten.“

 

Für die Athener des Dialogs steht die Unterwerfung von Melos außer Diskussion. „So machen sie einen Vorschlag, bei dem sie – mit Blick auf das Ende durchaus zu Recht – Vorteile für beide Seiten sehen. Die Kapitulation der Insel er- spare ihnen, den Athenern, Verluste an Soldaten und Trieren, Kosten und Zeit, die Melier aber kämen mit dem Leben davon und blieben als Untertanen im Besitz ihres Territoriums.“

 

Die Melier dagegen hoffen auf das Kriegsglück, auf die Götter und die Spartaner. Für die Athener freilich ist auch Hoffnung nur ein schönes Wort, das Schwache - wie die Melier - ins Verderben führt. „Am Wohlwollen der Götter, erklären sie, zweifelten sie nicht, und die Truppen der Spartaner fürchteten sie nicht. Für die Athener (und für Thukydides) gilt der Nómos, der das Leben der Menschen bestimmt, auch für die Götter: Wie jene stünden diese unter demselben Gesetz der Macht, dem zufolge der Stärkere über den Schwächeren obsiege.“

 

Die Verhandlungen scheitern, es kommt zu keiner Einigung. Der Erfolg von 426 hatte die Melier ermutigt, und so hofften sie, sich auch jetzt behaupten zu können. „Wer im blinden Vertrauen sich seinen Hoffnungen ganz ausliefere, werde auch alles verlieren, läßt Thukydides die Athener sagen und verzichtet auf einen Kommentar. Zwei Sätze genügen ihm, um nun die Kampfhandlungen beginnen zu lassen, sieben weitere, um den Untergang von Melos zu besiegeln.“

 

Athenische Hoplitenfalange bei Kampfübungen


Der Vernichtung von Melos ist der Wendepunkt in der Geschichte der Großmacht Athen. „Expressis verbis formuliert hat es der Historiker nicht, doch er hat die Melier zu Titelhelden jenes kleinen Textes gemacht, der zu den wichtigen der Weltliteratur zählt und nach knapp zweieinhalbtausend Jahren noch keine Altersspuren zeigt – ebendieses `furchtbaren Gesprächs´, wie Friedrich Nietzsche sagen wird, zwischen ihnen und den Athenern.“


Thukydides schrieb sein Werk und damit auch den Dialog zwischen Athenern und Meliern nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges, d.h. nach dem Untergang des athenischen Reiches. „Er bietet die Summe seiner Erfahrungen und weit mehr als nur eine Analyse der athenischen Expansionspolitik. Der Historiker sucht das Wesen der Macht zu ergründen, der Dialog handelt scheinbar vom Peloponnesischen Krieg, tatsächlich aber von allen Kriegen. Er bildet den inhalt-lichen Mittelpunkt des Werkes […]. Athener und Melier sprechen unkommentiert, und Thukydides sagt nicht, welche Argumente er billigt und welche er verurteilt, ob er das Geschehen als kriegsnotwendig akzeptiert oder kritisiert, ob er die Partei der Unterlegenen ergreift oder sich seiner Heimatstadt verpflichtet sieht. Der Historiker berichtet knapp, kühl, meidet jeglichen Affekt und verzichtet auf apologetische Erklärungen. Alles, was als Partei- oder Stellungnahme gelten könnte, ist aus dem Text getilgt. Thukydides schweigt hörbar, sagt Wolfgang Schade- waldt.“

 

Man könnte nach der Lektüre des Dialogs meinen, Thukydides stünde auf der Seite der unglücklichen Melier. „Der Leser traue, schreibt Jacob Burckhardt `den inneren Schauder, welchen er bei dem so völlig objektiven Bericht empfindet´, unwillkürlich auch dem Geschichtsschreiber zu. Doch nichts ist im Melier-Dialog so, wie es scheint. Letztlich bleibt unklar, wer agiert und wer reagiert; Täter und Opfer sind austauschbar, alle spielen nur Rollen: Wären die Melier in der Lage der Athener, verhielten sie sich wie diese. Die Tat, die die Athener begehen, ist eine, die jeder begeht, mehr noch – begehen muß. Die Melier hindert (für den Augenblick) nicht die Moral, sondern ihre militärische Schwäche.

 

Alle sind dem Nómos unterworfen, der sie nicht anders handeln läßt, als sie handeln. Deswegen verzichten die thukydideischen Athener auf schöne Worte, um das zu sagen, was diese verbrämen.“ Thukydides zieht hier, vor dem Hintergrund des bereits beendeten Krieges und der damit verbundenen athenischen Niederlage, verallgemeinerbare Lehren vom Wesen des Krieges überhaupt: „Im Melier-Dialog sind die Athener nur noch eine Chiffre. Sie stehen für die Tragik der Großmächte. Um nicht zu kollabieren, müssen diese sich ausdehnen. Nur Ausgreifen sichert das Überleben, dem Ende der Expansion aber folgt der Zusammenbruch. Thukydides hat so etwas wie Mitleid mit den Großmächten: Ihre Verbrechen sind vergebens, denn ihr Untergang ist so zwangsläufig wie der von Melos.“

 

 

Zitate aus: Wolfgang Will: Athen oder Sparta. Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges, München 2019 (C.H.Beck) – Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, Düsseldorf 2006 (Artemis und Winkler)

 

Donnerstag, 10. September 2020

Levent Tezcan und die Maßlosigkeit in der Rassismusdebatte


Am 28. Juli 2020 erschien in der tageszeitung ein bemerkenswerter Kommentar von Levent Tezcan mit dem programmatischen Titel „Gefährliche Wendung. Selbst Liberale und Linke sind nicht mehr davor gefeit, als Rassisten gebrandmarkt zu werden. Das ist eine neuartige Maßlosigkeit.

Levent Tezcan
Levent Tezcan wurde 1961 in Havza, einer anatolischen Kleinstadt, geboren. Er kam 1988 als politischer Flüchtling nach Deutschland und ist heute Professor am Institut für Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

In beeindruckender Weise demaskiert Tezcan die gegenwärtige Rassismus-debatte und ihre vehementen Vertreter. Tezcan stellt fest, dass die gesamte Debatte über Rassismus mittlerweile eine gefährliche Wendung angenommen habe. Letztlich, so eine seiner zentralen Thesen, führe die Rassismuskritik nicht mehr zu neuer Solidarität, sondern diene dem Zelebrieren eines affirmierten Opferstatus und drohe zur Selbstbestätigung auszuarten: 

„Menschen mit Migrationshintergrund melden sich zu Wort. Sie sind gebildet, wortgewandt. Sie sollen den Rassismus anprangern, nicht mehr nur den Rassismus, der von faschistischen Parteien unverblümt propagiert wird; auch nicht den, der noch in den Gesetzen und Institutionen steckt. Sie wollen ihn aus den entlegensten Ecken der Sprache, Kultur, Erinnerung herauszerren. Sie initiieren #MeTwo-Debatten.“

Das Problem dabei ist: „Mit einem quasireli­giö­sen Furor will eine neue Generation People of ­Color jede auch noch so verborgene rassistische Regung in der Seele ausrotten. Selbst die Liberalen, gar die Linken, die immer schon ein sicherer Hafen für die Fremden im Lande waren, sind nicht mehr davor gefeit, als Rassisten gebrandmarkt zu werden.

Kürzlich sagte in einem Spiegel-Interview die Erziehungswissenschaftlerin DiAngelo, dass sich „mit Liberalen am schwersten reden“ lasse. Sie würden nicht akzeptieren, dass sie rassistisch sind. Rassismus habe nichts mit Intentionen zu tun, heißt es. Er sei bereits in die Strukturen eingebaut. Wer nicht Schwarz/PoC ist (und also automatisch „weiß“), ist demnach unvermeidlich ein Rassist aufgrund seiner privilegierten Geburt.“

Tezcan kritisiert dieses Auftreten mit deutlichen Worten: „Gewappnet mit dem moralischen Panzer des Minderheitenstatus, sind diese neuen Minderheits-vertreter immer schon im Recht, sprechen sie doch aus Diskrimminierungserfahrung (…), diese scheinbar unbestreitbare Erfahrung, stattet ihre Sprecher gleich mit dem moralischen Anspruch aus, bereits dadurch im Besitz der Wahrheit zu sein. Unablässig prangern sie das rassistische Ressentiment an, sind aber selbst voll Ressentiments gegenüber denjenigen, die sie für die Dominanten halten.“

DiAngelo: Wer nicht Schwarz/PoC ist, ist unvermeidlich
ein Rassist aufgrund seiner privilegierten Geburt!"
Tezcan geht soweit, im Rassismus die neue „Ursünde“ der modernen Gesellschaft zu sehen. Im Kern geht es dabei um vermeintliche Privilegien der potentiell rassistischen Mehrheits-gesellschaft. So bemerkt Tezcan, dass er als Hochschullehrer zweifellos viele Privilegien genießt, „die die große Mehrheit der Gesellschaft (ob schwarz, weiß oder türkisch) nicht besitzt. Nach der Logik der neuen Rassismuskritiker kann ich aber meinem germanischen Kollegen, einem beschlagenen Soziologen, der sich von einem Drittmittelantrag zum nächsten bis zur Rente durchschlagen muss, jederzeit seine „Privilegien“ vorwerfen und, bei Bedarf, daraus Rassismus ableiten.“

„Man muss sich die perverse Logik genau vor Augen führen, die hier am Werke ist: Selbst wenn ich wollte, könnte ich mich dem neuen kulturellen Paradigma „Gestehe, wie rassistisch du bist“ nicht unterziehen. Während „Weiße“ nicht keine Rassisten sein können, kann ich gar nicht rassistisch sein. Welch ein Glück? Ich fühle mich ganz und gar diskriminiert, wenn mir die Möglichkeit genommen wird, rassistisch sein zu können. Rassistisch sein zu dürfen, ist und bleibt ein „weißes Privileg“!“

Werden politische Positionen nach Herkunft verteilt, würde sich der gesellschaftliche Diskurs in gefährlicher Nähe eines zwar nicht rassistischen, wohl aber eines rassischen Denkens bewegen, so Tezcan.

Die westliche Zivilisation sei wohl die erste, deren Selbstverständnis es nicht nur zulässt, sondern geradezu vorschreibt, dass die Schwachen den Mächtigen vorwerfen dürfen, dass diese eben die Mächtigen sind. „Als Nachfahre von Osmanen, deren Eroberungssinn dem der Europäer lange in nichts nachstand, kann ich mir schwer vorstellen, dass so etwas dort, aber auch bei den Römern, antiken Griechen, Mongolen, in den Hindureichen, um vom Reich der Mitte ganz zu schweigen, je denkbar gewesen wäre.“

Für viele People of Color beginnt, so Tezcan weiter, „die Geschichte mit dem westlichen Kolonialismus und sie wird auch, darin belehren uns täglich die Postkolonialen, nie enden. Umso absurder wird das Bild, wenn immer mehr Nachfahren von Osmanen und Arabern ins Outfit von People of Color schlüpfen und den Kolonialismus als nie enden werdenden Beginn der Geschichte der Ursünde anprangern. Was für eine Allianz!“
 
Absurd, wenn immer mehr Nachfahren von Osmanen und Arabern ins Outfit von People of Color schlüpfen und den Kolonialismus als nie enden werdenden Beginn der Geschichte der Ursünde anprangern.

Dieser Allianz genüge der brutale, menschenverachtende Rassismus der Rassisten nationalsozialistischer Art nicht für einen antirassistischen Kampf. „Schon die erste Regel, die Ausweisung der inzwischen maßlos skandalisierten Frage: „Woher kommst du eigentlich?“ als rassistisch, belegt hinreichend die Maßlosigkeit.

Führt von der Frage nach dem Woher ein direkter oder indirekter Weg zur öffentlichen Ermordung eines Menschen? Lässt sich ein rassistischer Mord, lässt sich der mörderische Rassismus überhaupt auf derartige Fragen zurückführen?“

Im Falle des Rassen-Rassismus ist der Ausgang der Lage ganz klar: mörderisch. Im Falle der Frage nach Herkunft im „alltäglichen Rassismus“ sind Möglichkeiten für einen Ausgang aus der Situation nahezu unendlich …

Zitate aus: Levent Tezcan: Gefährliche Wendung. Selbst Liberale und Linke sind nicht mehr davor gefeit, als Rassisten gebrandmarkt zu werden. Das ist eine neuartige Maßlosigkeit, die tageszeitung, 29.07.2020